Du bist Mitte zwanzig. Längst bei den Eltern aus- und in die große Stadt gezogen. Haust dir Du bist Mitte zwanzig. Längst bei den Eltern aus- und in die große Stadt gezogen. Haust dir die Nacht in Szeneclubs um die Ohren. Du hast dein Studium erfolgreich beendet und dich zum ersten Mal so sehr verliebt, dass du denkst: „Mit dieser Person möchte ich mein ganzes Leben verbringen.“ Deine Partnerin, Sara, hat gerade ihren Traumjob ergattert. Allerdings nicht in Amsterdam, wo ihr wohnt, sondern in Montreal.
Aber hey, das ist doch super! Génial, du wolltest schon immer Französisch lernen! Und bei dir läuft es ja eigentlich auch ganz gut: Du gibst nur noch das Manuskript für deinen ersten Roman ab und dann ziehst du auch nach Kanada. Das ist doch das, was du willst, oder? Doch dann sagt deine Verlegerin: „Anne, ich habe ein bisschen das Gefühl, dass du dich verrannt hast.“ Du fragst dich, was das bedeutet. Deine Verlegerin antwortet: „Das bedeutet, deine Hauptfigur hat irgendwie kein Ziel: Was will sie? Und wie kommt sie dahin?“
"ANNE+" erzählt von der Sinnkrise der Mittzwanziger
Ein so konventioneller wie kluger Kunstgriff der Drehbuchautorinnen: Sie stellen der Filmheldin eine von ihr erfundene Romanfigur zur Seite und heben das Geschehen so auf die Metaebene. Vor allem aber erzählen sie in ganz alltäglichen Szenen von diesen großen Themen: von Freundschaft, Liebe, Identität. Und das mit einer wunderbaren Liebe zum Detail: Wenn die Filmfigur Anne ihre Freundin Sara in Montreal anruft, dann nervt zum Beispiel nicht nur die enorme Zeitverschiebung, sondern auch die ewige Videocall-Rückkopplung. Und wenn sich Figuren in „ANNE+“ angeregt unterhalten oder streiten, dann wird nicht, wie so oft in Filmen, eine mitreißende Musik drübergelegt und man sieht nur noch Mundbewegungen. Nein. Hier hören wir den Flirt, das Gespräch, den Streit – wenn es sein muss, bis einer heult!
Der Coming-of-age-Film für die LGBTQ-Community
Anders gesagt: Bei diesem Film kann man sich sicher sein, dass die Dialoge sitzen, die Secondhand-Möbel wackeln und dass bei Sexpraktiken, die in der Realität ohne Gleitgel zu Verletzungen führen, eine der Filmfiguren auf jeden Fall zum Gleitgel greift. Und was bei alldem sehr besonders ist: Natürlich gibt es schon wahnsinnig viele Coming-of-Age-Filme und -serien. Mittlerweile auch solche, die nicht von Teenagern, sondern von jungen Erwachsenen erzählen. Aber es gibt bisher kaum welche aus queerer Perspektive. Und es ist wahnsinnig erfrischend mal einen LGBT-Film zu sehen, in dem niemand stirbt oder verstoßen wird oder Mama und Papa nicht wissen dürfen, dass du lesbisch bist.
„Queersein ist einfach alles“
Hier geht es darum, was nach dem Coming-out passiert. Oder, wie es Hauptfigur Anne im Film ausdrückt: „Lesbisch sein oder queer sein, damit rauszukommen, das hat mich zu der gemacht, die ich jetzt bin. Und ich denke, ja, ich will einfach davon erzählen. Leuten zeigen, wie schön es ist, wenn man queer sein kann. Die Menschen mitnehmen in die Welt, in der das Queersein einfach schön ist und spannend – und auch schwierig. Echt und liebevoll. Und alles. Queersein ist einfach alles.“
„ANNE+“ hinterlässt ein wohliges Gefühl. Vielleicht, weil man denkt: Wie schön, dass queere Kids, die jetzt aufwachsen, solche Filme gucken können. Oder weil man die Hauptdarstellerin Hanna van Vliet und ihr subtiles Schauspiel mag; sie wurde gerade auf der Berlinale als European Shooting Star ausgezeichnet. Vielleicht auch weil der Film von Unsicherheiten erzählt, die man selbst kennt. Oder von allem etwas.