Ein Grund ist: Sie wurde in unserer unmittelbaren Nähe begangen. Der Anschlag in Nigeria, bei dem kürzlich 65 Menschen starben, scheint weit weg. Angesichts der Tat in Frankfurt denken wir hingegen unvermittelt: Es hätte auch mich, mein Kind oder jemanden aus meiner Familie treffen können. Es fühlt sich an, als seien wir noch einmal davongekommen. „Jeder hätte an diesem Bahnhof stehen können“, betont Herbert Scheithauer, Psychologieprofessor an der Freien Universität Berlin. „Das schockiert, denn es macht uns bewusst, was wir jeden Tag verdrängen: unsere eigene Sterblichkeit und Verletzlichkeit.“
Zugleich der grauenhafte Gedanke: Wie muss es der Mutter gehen, die sich noch gerade so vom Gleisbett rollen konnte, während ihr Kind starb? Wie den anderen Angehörigen? Das Entsetzen, das sich in uns breitmacht, es hat auch mit den Opfern zu tun. „Ein unschuldiges Kind“, ist auf vielen der Trauerkarten am Bahnsteig zu lesen. Opfer einer Gewalttat sind immer zu betrauern. Auch ein langes Leben, das gewaltsam beendet wird, endet zu früh und zu Unrecht. Und doch: „Eine Mutter und ihr Kind sind für uns etwas Reines, Unbescholtenes“, so Scheithauer. „Dass ein Kind, das am Anfang seines Lebens stand, getötet wurde, ist für uns deshalb besonders bestürzend.“
Besonders schwer zu ertragen ist der Tod des Achtjährigen auch, weil er nicht durch einen Unfall oder eine Krankheit starb, was furchtbar genug wäre, sondern durch eine extreme und brutale Form der Gewalt. Ausgeübt durch einen anderen Menschen, der sich, so scheint es bisher, in einer psychischen Krise befand und im Wahn handelte. Es ist eine Gefahr, die weder vorhersehbar noch kontrollierbar ist: „Solche Taten von Einzelpersonen lassen sich nie ganz verhindern – das ist schwer zu ertragen“, so Scheithauer. Diffuse Ängste kommen in uns hoch. Rational betrachtet, sind Bahnhöfe sichere Orte. Wenn man bedenke, wie viele Menschen jeden Tag mit der Bahn unterwegs seien, passierten solche Vorfälle sehr selten, meint der Gewaltexperte.
Eigentlich wissen wir das. Und doch fühlen wir uns unsicher. Ertappen uns dabei, wie wir, zumindest in den ersten Tagen und Wochen nach dem Vorfall, Abstand zu den Gleisen halten. Und uns beschleicht das beklemmende Gefühl, dass Übergriffe an öffentlichen Orten zunehmen. Die Statistik, betont Scheithauer, zeigt etwas anderes: „Wir haben in Deutschland noch nie in so sicheren und friedlichen Zeiten gelebt. Nie zuvor gab es so wenig Auseinandersetzungen und Todesfälle durch Gewalt wie heute.“
Dennoch haben viele einen anderen Eindruck – den rechtspopulistische Politiker nähren und missbrauchen. Der Täter, ein in die Schweiz geflüchteter Eritreer, war auch ein Grund, weshalb der Fall uns nicht loslässt; die Stimmung rund um das Thema Migration ist aufgeheizt. Doch: „Zu diesem frühen Zeitpunkt ist es nicht sinnvoll, Maßnahmen zu fordern, von denen wir noch gar nicht wissen können, ob sie die richtigen sind“, warnt Psychologe Scheithauer. Zunächst müssten wir innehalten.
Allerdings ist es nur allzu menschlich, sofort nach Erklärungen zu suchen und Konsequenzen zu fordern.
Denn sie helfen uns, nach einer Tat,
die scheinbar aus dem Nichts kam,
das Gefühl der Kontrolle wiederherzustellen. „Viele Menschen haben zudem das Bedürfnis, über den Vorfall
zu reden und ihren Gefühlen öffentlich Ausdruck zu verleihen“, sagt
Scheithauer. Der Trauergottesdienst
vor dem Hauptbahnhof, die Blumen
am Gleis, auch der Innenminister, der
seinen Urlaub unterbricht – all das
sind gesellschaftliche Rituale. Sie sollen die Erschütterung durch die Gewalt, die uns nicht alle direkt betrifft
und doch betroffen macht, abmildern.
Es ist wie eine kollektive Rückversicherung: Wir stehen zusammen.
Erschienen am 4. August 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.