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Kriegsbilder Ukraine: Eine Ausstellung für russische Passagiere am Bahnhof Vilnius

Bis zu 100-mal im Monat fährt der Transitzug aus Moskau in Richtung Kaliningrad in den Bahnhof der litauischen Hauptstadt Vilnius ein. Die kurze Ruhepause bietet den Anreisenden jedoch neben dem Bahnhofsgeschehen auch einen anderen Anblick: Auf Augenhöhe der Zugfenster säumen aktuelle Fotos des Krieges in der Ukraine die Wegstrecke, und fordern die Betrachter:innen auf, sich einer grausamen und zerstörerischen Realität zu stellen.

Gewaltige Schlachten, opulente Siegeszüge, Leid und Schmerz: Kriegsdarstellungen sind in der europäischen Kunst seit Jahrhunderten fest etablierte Bildmotive. Bis zur Erfindung und Nutzung der Fotografie - und vereinzelt auch noch danach - berichten hauptsächlich Malereien und Zeichnungen, Radierungen, Stiche oder Drucke von historischen und immer öfter auch aktuellen Kriegsgeschehen.

Seit ihrem ersten Einsatz während des Krimkrieges 1853-56 ist die Fotografie das bevorzugte Mittel zur Dokumentation von Kriegen. Sie löst das manuell gefertigte Bild nicht vollends ab, verspricht aber im Laufe ihrer technischen Weiterentwicklung andere Möglichkeiten: näher an der tatsächlichen Front zu sein ist eine davon; eine genaue Wiedergabe des Geschehens - unverfälscht durch die künstlerische Hand - die andere. Dass auch Fotografien manipuliert oder verfälscht sein können, ist längst kein Geheimnis mehr. Dass jedes Versprechen von absoluter Objektivität und Neutralität unhaltbar ist, geht damit zwangsläufig einher. Und doch spielen fotografische Aufnahmen von Kriegen eine essenzielle Rolle. Mit dem fotografischen Bild verbindet sich Susan Sontag nach ein anderer Anspruch: Man erwarte von Fotografien, „daß sie zeigen, nicht andeuten."

Es sind insbesondere Berichterstattungen in Fernsehen, Internet und Zeitungen, die auf Fotos von Fotojournalist:innen aus Krisen- und Kriegsgebieten zurückgreifen, um das zu zeigen, was Worte nur beschreiben können. Nichts anderes gilt für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: Arrangiert und kuratiert in Form von Bildstrecken bezeugen solche Fotografien Zerstörung und Terror, geben Einblicke in die Geschehnisse an den Fronten, oder dienen der Ordnung zeitlicher Abläufe.

Augen auf, das ist der Krieg!

Auch in der litauischen Hauptstadt Vilnius lässt man fotografische Bilder sprechen. Denn der Bahnhof dort ist seit dem 25. März 2022 - etwa einen Monat nach Kriegsbeginn - zugleich auch Ausstellungsraum. Entlang des Gleises, auf dem täglich Züge zwischen Moskau und Kaliningrad pendeln, säumen 24 Fotografien des Krieges in der Ukraine die Strecke. Aufgezogen auf PVC-Planen sind die Fotos als Banner auf Höhe der Zugfenster an Zäunen befestigt.

Bis zu fünfzehn Minuten bleibt der Transitzug im Bahnhof von Vilnius stehen. Bei seiner Einfahrt verkündet eine weibliche Stimme auf Russisch: „Putin tötet heute ukrainische Zivilisten. Sind Sie damit einverstanden?" Ein Statement und eine Frage, die auch auf den Bildbannern in russischer Sprache abgedruckt sind. Während die Fotos an die Sensibilität des idealen Betrachters appellieren, lassen sie „dem Betrachter keine Ruhe" und fragen unentwegt: „Kannst du diesen Anblick ertragen?".

Die Initiator:innen des Ausstellungsprojektes, die Litauische Eisenbahngesellschaft LTG und der Litauische Verein für Pressefotografie, wollen dadurch das Grauen des Krieges sichtbar machen. Insbesondere Passagiere aus Russland sollen einen realistischen Blick auf das, was in der Ukraine passiert, bekommen. Die Idee dafür stammt von dem Filmemacher Evaldas Kubilius, die Fotografien auf den Bannern von ukrainischen Fotojournalist:innen, darunter Mila Teshaieva, Maxim Dondyuk und Evgeniy Maloletka. Letztere haben bereits vor dem militärischen Angriff in diesem Frühjahr auf je eigene Weise die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine dokumentiert: Dondyuk erforschte in seiner Reportage mithilfe der Kamera von 2010-13 ukrainisch-russische militärische Ausbildungscamps für Kinder und Jugendliche auf der Krim. Maloletka begleitete für seine Serie 2014 fotografisch die Kämpfe und Unruhen im Osten der Ukraine. Teshaievas Bilder zeugen von den Geschehnissen der letzten Monate: Die Fotografin berichtet seit dem 03. März 2022 eindrücklich und unmittelbar in Form eines Fototagebuches aus ihrer Heimatstadt Kyjiw auf der Plattform.

Vor dem Hintergrund der immer drastischeren Medienzensur in Russland ist die Konfrontation mit den fotografischen Bildern in Vilnius ohne Zweifel ein potenzieller Schockmoment, der anprangert und dazu aufruft: Augen auf, das ist der Krieg! Das Grauenhafte, das in den Fotografien festgehalten ist und dennoch nur einen schwachen Abzug der konkreten Realität widerklingen lässt, lädt dazu ein, „entweder Zuschauer zu sein oder Feiglinge, die nicht hinsehen können." Jonas Staselis, Vorsitzender des litauischen Vereins für Pressefotografie und selbst Fotojournalist, bezeichnet das Zeigen der Bilder vor allem als symbolischen Akt. Diese sollen wachrütteln und die Betrachter:innen aus ihrer potenziellen Gleichgültigkeit holen.

Das Leiden anderer - eine Einbahnstraße?

Wie Susan Sontag schon vor fast 20 Jahren in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten deklarierte, sind „Kriege [...] inzwischen auch Bilder und Töne, die uns im Wohnzimmer erreichen." Jedes Bild des Krieges, das Leid und Zerstörung zeigt, ist damit zugleich auch ein „unvermeidlicher Bestandteil unseres kameravermittelten Wissens vom Krieg." Solche Bilder können trotz ihres wiederholten Vorkommens aufrütteln, appellieren und auf die Diskrepanz zwischen den Betrachtenden und Opfern in den Bildern hinweisen. Vor allem aber lassen sie uns dann empfinden, wenn Texte und Erzählungen es nicht vermögen. Die vordergründige Emotion, so Sontag, sei dabei das Mitgefühl - ein Zugeständnis und Abwehrmechanismus zugleich. Es zeugt davon, sich dem dargestellten Leid gestellt zu haben, sich zugleich aber vor weiteren aktiven Handlungen gegen das konkrete Leid in der Welt zu scheuen. „Das Mitgefühl", schreibt sie, „das wir für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufbringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden [...] - das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initialzündung geben können."

Wenn Bilder stets nur Appell bleiben, der passive Reaktionen auslöst, dann scheint die Betrachtung des Leidens anderer eine Einbahnstraße. Sontags Ausführungen nach sind Bilder aber ambivalent. Sie können mehr, als man ihnen zutraut, und zugleich weniger, als man denkt. Schließlich spielt wohl neben diesem Potenzial der Kontext, in dem die Bilder erscheinen, eine wesentliche Rolle in der Frage danach, was Bilder von Leid und Zerstörung bewirken können. Die Fotos am Bahnhof von Vilnius sind Teil einer Öffentlichkeit und zugleich gezielt adressiert. Man zeigt sie, weil man davon ausgeht, dass die russischen Betrachter:innen sie nicht kennen. Die Bilder fordern ein, sich der russischen Narration einer „Spezialoperation in der Ukraine" zu entziehen und kritisch zu prüfen: „Wer hat das, was auf dem Bild zu sehen ist, verursacht? Wer ist verantwortlich? Ist es entschuldbar? War es unvermeidlich? Haben wir eine bestimmte Situation bisher fraglos akzeptiert, die in Frage gestellt werden sollte?" Im Falle der Vilnius-Bilder tauchen diese Fragen gewiss nicht ohne ein spezifisches Framing auf, geben die Schriftzüge auf den Bannern doch eine eindeutige Lesart der Situation vor.

Ein Swipe hier, ein Umschalten da

Bildern im Netz oder Fernsehen kann man vergleichsweise leicht entkommen. Werden Bilder hingegen im öffentlichen Raum platziert, ist es nicht möglich, sie einfach wegzuklicken. Das Wegsehen - falls man sich dafür entscheidet - wird damit zu einer bewussten Aktion, statt einem beiläufigen Weiterswipen. Das Hinsehen wird dadurch nicht leichter, vor allem wenn es sich um Bilder handelt, die Kriegsopfer zeigen. Denn plötzlich sind diese Bilder keine virtuellen Pixel mehr, sondern ein ganz eigener Teil des realen Raums.

Seit Ende April haben die Initiator:innen aus Vilnius das Projekt auf den Bahnhof in Kena mit 14 Fotografien ausgeweitet. Die Motive entstammen den grausamsten Kriegsschauplätzen: Mariupol und Butcha. Die russischen Statements auf den Bannern lauten nun unter anderem „Russland begeht einen Völkermord in der Ukraine.Es geschieht, weil Sie es nicht glauben". Mitte Mai hat die LTG ein weiteres Projekt umgesetzt: Um objektive Informationen einholen zu können, installierte sie unter anderem in Kena drahtloses Internet, das kostenlos genutzt werden kann - vorausgesetzt die Reisenden aus Moskau, Adler und St. Petersburg sehen sich zuvor auf ihren mobilen Endgeräten Fotos vom Krieg in der Ukraine an. Über eine Schaltfläche müssen sie ihre Zustimmung abgeben, dass sie „die Wahrheit über den russischen Krieg in der Ukraine erfahren" wollen. Anschließend stehen in Russland zensierte und gesperrte Medien wie litauische und ausländische Nachrichtenplattformen und soziale Netzwerke uneingeschränkt zur Verfügung.

Was auf die Ausstellung der Bilder folgt, bleibt abzuwarten. Für den Moment bleiben die visuellen Zeugnisse jedenfalls erst einmal genau da, wo sie gerade sind: Im direkten Blickfeld der Zugpassagiere. Dort also, wo alle, die aus den Fenstern blicken, mit dem ungeschönten Anblick der schonungslosen Kriegsfront konfrontiert werden.

Vorschaubild: Bildbanner am Bahnhof in Vilnius zeigt eine Fotografie von Evgeniy Maloletka, Ausstellungsansicht 2022, Foto: Jonas Staselis © Lithuanian Press Photographers Club/LTG

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