Wieder erlebt die linksautonome Szene einen Tag X. Diesmal wird der Köpi-Wagenplatz in Mitte geräumt. Was bleibt von dem ungleichen Kampf am Freitag?
Wer Tag X sagt, meint oft Abrechnung, denkt an Konsequenzen, verspricht Widerstand oder sogar Gewalt, hat jedenfalls Angst oder Hoffnung, je nachdem, wer von Tag X spricht. Und irgendwo läuft im Hintergrund ein Countdown, tickt die Zeit herunter. Tick, tick, tick, boom – oder?
Es lief und tickte auch früher schon. Einen Tag X, eine innere Krise, fürchtete die Staatssicherheit, also entwarf sie einen wahnwitzigen Verhaftungsplan. Tag X war unter rechtsextremen Gruppen das Codewort für den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, der Tag ihrer herbeifantasierten Machtübernahme. Und an einem Tag X, da sind sich die Fans von Donald Trump zurzeit ziemlich sicher, wird der vom ehemaligen US-Präsidenten umbesetzte Oberste Gerichtshof das Abtreibungsgesetz von 1973 kippen, wenigstens schwächen.
An einem Tag X, der entweder unausweichlich näher rückt oder in einer unvorhersehbaren Zukunft liegt, passiert oder kann Großes, Wichtiges, Schreckliches, auch mal Zerstörerisches passieren. So wie an diesem 15. Oktober 2021 in Berlin-Mitte, den die etwa 30 Bewohner der Köpenicker Straße 133–136 zu ihrem persönlichen Tag X ausgerufen hatten. Bereits seit Juli stand die Räumung fest. Alle Verhandlungsgespräche mit dem Grundstücksbesitzer waren gescheitert. Die Politik konnte oder wollte nichts mehr tun. „Köpi-Wagenplatz bleibt“ war die Parole, überall in der Stadt war sie trotzig auf Wände gepinselt oder auf Plakate und Flyer gedruckt, sie trendete sogar als Hashtag auf Twitter.
Bleiben wird immerhin die Erinnerung an ein linksautonomes Wohnprojekt, das sich in seiner wechselhaften Geschichte immer wieder erfolgreich gegen Investoren und neugierige Blicke gewährt hatte. Und gegen den Zeitgeist, der hier an der Grenze zu Kreuzberg und Friedrichshain Gentrifizierung heißt. Und bleiben wird zunächst auch viel Müll, Schrott, Bauschutt auf der Straße.
Um auf das Gelände zu kommen, musste die Polizei einen Zaun durchbrechen, der in den vergangenen Wochen zu einer Barrikade aufgetürmt worden war, einer Trutzburg gleich. Gut vier Meter hoch, knapp fünfzig Meter lang, mit Blechplatten, Absperrgittern, Matratzen, Metallstreben und Holzpaletten verstärkt, hier mit Planen blickdicht versperrt, dort mit Stacheldraht und spitzen, nach außen gerichteten Stangen versehen. Um kurz nach neun Uhr morgens, etwa eine Stunde vor dem Erscheinen der Gerichtsvollzieherin, dem traditionellen Eröffnungsakt einer Zwangsräumung, lief natürlich der Rauch-Haus-Song über die Lautsprecher: „Doch die Leute im besetzten Haus, riefen: Ihr kriegt uns hier nicht raus!“ Tja.
Moritz Heusinger steht auf der anderen Seite der Köpenicker Straße, wenn man so will: auf der Medientribüne. Dort streiten sich Journalisten um die besten Plätze, tickern Gesehenes, tuscheln über Gehörtes, warten auf das Räumkommando. Heusinger trägt eine braune Lederaktentasche, passend zu seinen braunen Lederschuhen, sein Gesichtsausdruck ist ernst, seine Botschaft klar: „Die Leute werden direkt in die Obdachlosigkeit geschickt.“ Ihr Zustand in den vergangenen Tagen? „Nah am Nervenzusammenbruch.“
Heusinger ist Anwalt, er taucht immer dort auf, wo linke oder linksautonome Projekte in Berlin geräumt werden, er vertritt auch die Bewohner des Köpi. Bis zum Schluss hat er versucht, das Kammergericht von der Rechtswidrigkeit der Räumungsklage zu überzeugen. Sein Eilantrag wurde am Donnerstag abgewiesen. Heusinger, der in der Nähe wohnt und als Anwohner genervt war von dem Polizeiaufgebot der vergangenen Tage, den Hubschraubern, die hier ihre Überwachungsrunden drehten, sagt: „Ich habe das Gefühl, dass die Stadt Berlin, die Senatsverwaltung, hätte mehr Einfluss nehmen können.“
Zu schnell sei es zur Räumung gekommen. Seine Vermutung: Weil die alte Regierung schon abgewählt ist und die neue noch mit Koalitionsgesprächen beschäftigt ist, sei ein Machtvakuum entstanden, in dem niemand Verantwortung übernehmen muss für diesen Tag. „Für Berlin“, findet Heusinger, „nicht untypisch.“
Und irgendwo im Hintergrund zerschellt eine Bierflasche auf der Straße.
Es gibt so etwas wie eine Räumungsroutine in der linken Szene. Das Wohnprojekt Liebig 34, die Kiezkneipen Syndikat und Meuterei – alles an einem Tag geräumt, der immer Tag X hieß. Die Aktivisten haben sich daran gewöhnt zu verlieren, und daran, dass die Interessen eines Investors Vorrang haben vor einer Idee. Hier die Bösen, dort die Bösen. Klare Feindbilder. Harter Frontverlauf. Kein Platz mehr für Zugeständnisse oder Kompromisse. Bleibt nur Widerstand, und manchmal mehr als nur die Androhung von Gewalt, so sehen sie das.
Die heiser kreischende Frauenstimme, die die Räumung des Wagenplatzes aus dem benachbarten Köpi-Haus kommentiert, auf Deutsch und Englisch, schreit ins Megafon: „In unseren Augen sind nicht wir die Kriminellen, Siegfried Mehls ist es.“ Wahlweise ist er auch: „ein Arschloch“.
Nehls ist der vermeintliche Besitzer des Köpi-Wagenplatzes, wer seine Interessen vertritt, ist nicht klar und das Firmengeflecht des Investors wie so häufig gewollt verworren. Der Plan, auf dem Wagenplatz einen Jachthafen zu errichten, wird belächelt. Das Grundstück liegt nicht an der Spree.
Die Szene sucht Mehls per Steckbrief, den man an den Räumungsinfoständen erhalten konnte: „Wanted“, steht da in Großbuchstaben, „CEO of Sanus AG“, und wer ihn sieht, von ihm hört, kann sich unter einer Berliner Nummer melden.
Die Routine ist das eine, das andere ist der hohe Grad an Professionalität in der Organisation einer Räumung, die allenfalls verzögert, letztlich nie verhindert werden kann. Das Kräfteverhältnis in Zahlen: 30 Wagenplatzbewohner und ein paar Hundert Straßenaktivisten gegen knapp 2000 Polizeibeamte mit allerhand technischem Gerät. Bolzenschneider, Äxte, Metallsägen und zwei Räumpanzer, die jedem handwerklichen Geschick der Barrikadenbauer überlegen sind.
Für den Tag X waren die Autonomen vorbereitet, so gut es eben ging. Es gab Karten mit sicheren Orten, wo Unterstützer, auf Toilette gehen, Informationen, Essen, Trinken bekommen konnten. Ein Fahrradlieferdienst war auch unterwegs. Dann die vielen Telefonnummern, die man wählen sollte im Fall einer Verhaftung. Und außerdem die Twitterkanäle, die live über den Erfolg von dezentralen Aktionen berichteten und die Botschaften der Köpi-Leute verbreiteten: „Wenn das Gesetz auf der Seite der Spekulanten steht, ist es Zeit, dieses Gesetz zu brechen.“ Hörte sich wie ein Marschbefehl an für den Freitagtagabend und die für 20 Uhr angekündigten Demonstrationen.
Neu und am Vortag als große Überraschung angekündigt war der Livestream, der die Zuschauer 14 Stunden vor der Räumung direkt auf den Wagenplatz führte, live, noch in Schwarz-Weiß. Dort tanzten auf einem Dancefloor maskierte und mit Bierflaschen hantierende Gestalten zu Gabber – das ist ein ziemlich harter, arg stressiger Techno, aber den Tänzern machten die knapp 200 Beats pro Minute nichts aus. Die Stimmung war auch dann gut, als eine bengalische Fackel kurz einen Wagen abzufackeln drohte. Die Eventisierung des Widerstands schreitet voran. Live und ganz sicher in Farbe.
Kurz nach zehn Uhr morgens fliegt ein platter Fußball über die Barrikaden. Später folgen Puppen, Plüschtiere, Wasserbomben platzen auf dem Dach eines Räumpanzers, aus dessen Heckklappe die Metallsägearbeit beginnt. Die Polizei rollt zwei Leiterwagen heran, die Beamten tragen Geräte, die wie Lanzen aussehen, als würden Moderne und Mittelalter verschmelzen. Mit ihren Lanzen stochern die Polizeiritter in dem Loch, das nach hartnäckiger Arbeit entstanden ist. An mehreren Stellen tragen sie die Barrikaden ab, Schicht für Schicht. Manchmal versprühen sie Pfefferspray in der Gegend um die Barrikaden. So kommen wirklich allen die Tränen.
Dann gehen sie rein, kommen wieder raus, führen Menschen ab, die müde aussehen, manchmal eine Faust in den grauen Himmel recken. Drei auf Bäumen sitzende Bewohnerinnen schreien: „Wir können hier runterfallen, ihr Schweine! Das ist unser Zuhause! Wo wart ihr in Hanau? Wo wart ihr in Halle? Widerliche Nazischweine.“ 42 Menschen werden im Laufe des Nachmittags aus der eingenommenen Wagenburg geführt. Der Widerstand verlagert sich in die Seitenstraßen, wo es immer wieder knallt, wo das übliche Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Tag X eben.
Auf der Medientribüne gegenüber der finalen Räumungsarbeiten steht Anja Dierschke vor den Mikrofonen, die Leiterin der Polizeipressestelle trägt fünf silberne Sterne auf den Schulterstücken und lächelt wie immer so freundlich, als würde sie bloß über die Schadensbilanz eines irgendwie aus den Fugen geratenen Kindergeburtstags referieren.
Ja, die Beamten seien nach dem Betreten des Wagenplatzes mit Flaschen beworfen und mit Löschschaum bespritzt worden, und ja, die Sprechchöre, die seien „polizeifeindlich“ gewesen. „Das war zu erwarten.“ So sei das eben, wenn man Amtshilfe leistet für die Gerichtsvollzieherin. Was die Polizei für den Abend nach der Räumung erwartet? „Dezentrale Störaktionen.“ Die Kollegen seien darauf vorbereitet, strategische Punkte in der Stadt zu schützen. Parteizentralen, die Sitze großer Firmen.
Um kurz nach zwölf Uhr sind alle Bewohner des Köpi mal mehr, mal weniger freundlich herausgeführt worden, bis auf die drei Frauen in den Bäumen. Mit Klettergurten gesichert balancieren sie über ein in sechs, sieben Metern Höhe gespanntes Seil. „Köpi bleibt Risikokapital“, hieß es immer. Riskiert haben sie am Ende auch ihr Leben. Bis die Kletterexperten der Polizei kamen. Sie waren für einen Tag X geschult worden.
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