„Papa nicht krank?“ Eine Geschichte über Gurtpflicht, fiese Impfschurken und ein Aerosolwolken speiendes Coronamonster im Kinderzimmer.
Am ersten Tag meiner Kinderzimmerquarantäne wollte die Sechsjährige eine Virus-wegpuste-Maschine für mich bauen. Und wie sie da so vor mir stand mit diesem Ein-Babyelefant-Sicherheitsabstand und lustig von ihrem Bauplan erzählte, spürte ich einen von der Brust ausstrahlenden Schmerz, so stechend, als wäre mein Vaterherz barfuß auf einen Legostein getreten.
Am fünften Quarantänetag, während ich versuchte, mich kontaktlos an der Zweijährigen vorbeizuschleichen, drehte sie sich zu mir um und fragte: „Papa nicht krank?“ Dann streckte sie ihre Arme aus, legte den Kopf zur Seite und piepte wie ein kleiner Vogel: „Nicht? Nicht? Nicht?“ Hundert Legosteine.
Das hier ist die Geschichte, wie ich zur Ansteckungsgefahr für meine Familie wurde, zum Aussätzigen, zu einem Aerosolwolken speienden Coronamonster mit Hausverbot daheim, zum maskierten Covid Man, der manchmal für wenige Sekunden doch die Wohnküche betrat, um sich das Essen abzuholen, am besten, ohne etwas zu berühren, niemanden zu umarmen oder durch die Luft zu schleudern. Oder einfach nur, um nicht vergessen zu werden. Epidemische Lage von familiärer Tragweite. Privilegien? Check. Und jetzt geh wieder auf dein Zimmer!
Fast zwei Wochen lang hausierte, schlief und arbeitete ich oben auf dem Hochbett meiner großen Tochter, durch eine Wand nur getrennt vom dem Spiel-Streit-Stress-Spaß-Alltag, wie ich ihn kannte. Eingesperrt auf halber Treppe zwischen der Angst, meine Liebsten anzustecken, und der Hoffnung, nicht schwer zu erkranken. Symptome: erhöhte Temperatur, pulsierende Kopfschmerzen am Anfang, bis zum Ende das Gefühl, mindestens den Geschmackssinn zu tief in Dämmwolle getaucht zu haben.
Und es ist eine Geschichte darüber, wie ich im fortgeschrittenen
Kinderzimmerquarantänemodus fast ein Querlenker geworden wäre, aber noch rechtzeitig ein vom Grüffelo, dem Böckchen-Banden-Troll und von Räuber Hotzenplotz höchstpersönlich angeführtes Spezialkommando zusammenfantasierte, um mit der Kraft ihrer Wald-und-Wiesen-Autorität die Impfpflicht selbst in den hintersten Tälern Deutschlands durchzusetzen. Notfalls mit des Räubers Pfefferpistole. Codewort: Mission Impfpossible. Doch begonnen hatte das alles auf der Tanzfläche.
Ohne mehr als zwei Longdrinks lang Widerstand zu leisten, hatte ich mich von einer 2G-Clubnacht überzeugen lassen. Es war doch mein Geburtstag, und wer Geburtstag hat, dachte ich, der wird vom Schicksal schon nicht bestraft, wenn er seine Gesundheit – alles auf Glück! – nur dieses eine Mal noch als Risikokapital begreift, bevor der Lockdown kommt und es eh nichts mehr zu feiern gibt. Außer Weihnachten in der Limited Edition, verpackt mit einer unheilvollen Wiederholungsschleife aus dem Vorjahr.
Jedenfalls muss es in diesen vier Stunden passiert sein, dass mir Corona in Mund oder Nase flog oder unter die Haut kroch oder wie auch immer mir dieses Scheißvirus viel zu nah kam, seinen Durchbruch hatte. Und als von außen noch die Musik auf mich einhämmerte, krallten sich innen bereits die ersten Spikeproteine an meinen Zellen fest und fingen an, mir zunächst noch unmerklich ins mit Gin beruhigte Gewissen zu beißen.
Mein Impfstatuts: doppelt Moderna. Mein Impfschutz zum Zeitpunkt des Angriffs: etwa 80 von ursprünglich 96 Prozent.
Jetzt bin ich Trottel Teil der vierten Pandemiewelle, ein Tröpfchen in der Wand, die sich gerade auftürmt, brechen wird, irgendwann, irgendwie, nach uns die Sintflut, die nächste Welle? Wie in der Janosch-Geschichte „Ich mach dich gesund, sagte der Bär“, als es dem kleinen Tiger immer wieder ein wenig schlechter geht, bevor es ihm immer wieder ein wenig besser gehen kann.
Eine Leiter, fünf Sprossen führen aufs Hochbett, das wie ein Holzhaus mit ungedecktem Spitzdach aussieht. Beim Betreten muss man den Kopf einziehen. Ein fantastischer Blick auf den Kaufmannsladen entschädigt für die Strapazen. Und wenn die am Giebelbalken baumelnde Schmetterlingslichterkette leuchtet, hach, in diesem Pink, das an die neueste Signalfarbe auf der Inzidenzenlandkarte erinnert, tja, dann ist das hier oben das Gegenteil von einer Man Cave. Wie der erste Höhlenmensch sollte ich mich dennoch bald fühlen.
Die Sechsjährige empfing hier immer ein wechselndes Schlafpublikum, ehe sie ins Elternschafzimmer zwangsversetzt wurde. Ein stummelbeiniger Wollelefant und ein augenloses Kissenschwein haben ihre Stammplätze am Kopfende sicher, mehrere Stoffmäuse verpassten wohl den Umzug und waren jetzt meine Nachtbegleiter. Und täglich weckt das Kuscheltier.
Wer zu viel Zeit in der Isolation verbringt, in geistiger Abgeschiedenheit und stummer Hochbettgesellschaft, kann ein anderer werden, kann dies vergessen, das verwechseln, die innere Kompassnadel im Heuhaufen der Geschichte verlieren – so wie mein armes Quarantäne-Ich vor dem Smartphone.
Denn plötzlich stand mir etwas quer im Kopf, bildete sich ein Synapsenstau, blieb keine Rettungsgasse für die Vernunft, gab es auch keinen Rückweg mehr, keinen Schutz vor seltsamen Gedanken, vor den Trash ballernden Timelines, wo ich ein Spiegel-Interview von 1982 fand, es spricht ein Verkehrsrichter aus Stuttgart: „In den Fällen, wo sich der Betroffene zum Anschnallen verpflichtet fühlt und dann in einen Unfall verwickelt wird, der wegen des Gurtes seinen Tod herbeiführt, ist die Anschnallpflicht für mich eine Art Todesurteil. Hat man denn diesen Leuten gegenüber kein Gewissen? Wer will denn da die Anschnallpflicht verantworten?“
Ähm, aha – ernsthaft? Kann das stimmen?
Um mir im Angesicht des ansteckenden Zweifels eine Expertenmeinung einzuholen, schaute ich zum Kissenschwein, weil ich mir einbildete, es beim Augenzwinkern erwischt zu haben. Ja, sagte ich dann so laut, um den Stummelbeinelefanten aus seiner gespielten Gleichgültigkeit zu reißen, kann doch sein, oder nicht? Die Frage schien so absurd wie berechtigt: Wer will schon riskieren, bei einem Unfall durch einen Sicherheitsgurt zu sterben? Du, Schweini, du, Ele? Keine Widerrede aus dem Tierreich. Manchmal, dachte ich, muss man den Mut aufbringen, Schweigen als Zustimmung umzudeuten.
Und man muss in die Unfallstatistiken schauen, da scheint es nämlich ein Muster zu geben, denn die meisten Unfälle im Winter passieren doch mit – heureka! – Winterreifen. Wenn das kein Grund ist, dachte ich vom Erkenntnisgewinn berauscht, die Winterreifenpflicht abzulehnen, dann weiß ich auch nicht mehr, wie wir dieses Land von der Gurt-und-Reifen-Diktatur befreien können. Aber das darf man ja nicht sagen, gibt ja keine Meinungsfreiheit mehr. Ist doch so. Und überhaupt: Wer legt eigentlich Kausalketten fest und wer bestimmt, dass Logik eine Einbahnstraße ist?
Auf einmal fühlte ich mich deutscher denn je. Denn die Deutschen, dachte ich oben auf dem Hochbett, das mir jetzt erhaben vorkam, wie ein SUV auf Stelzen, die verstehen die Dinge besser, wenn eine Erklärung auf vier Rädern anrollt, wenn sie auf dem Weg in die Freiheit zu Querlenkern werden dürfen. Autokorrektur, dachte ich, dieses Wort, das hat eine so deepe Bedeutungsebene, und ich muss der Erste sein, der sie erklimmen durfte.
Doch bevor ich auf die Idee kommen durfte, mich in Bautzen in die Polonaise einzureihen, nach Eigenwerbung „die längste Infektionskette Ostsachsens“, und noch ehe ich in ungeimpftes Sperma investieren konnte, das, wie ich gelesen hatte, der neue Bitcoin sein soll, klopfte es an die Tür, hörte ich die Zweijährige fragen: „Papa nicht krank?“ Hundert glühende Legosteine.
Der Covid Man in mir wusste jetzt genau, was zu tun ist. Ich legte den Querlenker zur Seite, stieg vom Hochbett und durchsuchte das Kinderbücherregal nach den fiesesten Impfschurken, die Ostsachsen je gesehen hat: der Böckchen-Banden-Troll, der Grüffelo und Räuber Hotzenplotz höchstpersönlich. Wer, wenn nicht sie, könnte die Menschen von den Vorzügen einer Impfung überzeugen? Dann zog ich meine Maske über, öffnete die Tür zur Außenwelt, verließ die Kinderzimmerquarantäne, um mich kurz bei der Sechsjährigen zu erkundigen, wie weit sie inzwischen mit dem Bau der Virus-wegpuste-Maschine gekommen war.
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