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„Willst du einen Kurzen mittrinken? Ja, klar!“

In einem Jahr ist aus der Spendenkampagne United We Stream ein globales Netzwerk entstanden. Ein digitaler Clubersatz ist es nicht

Kurz nach zwei, die Sonne ist an, die Jacke kann aus, und hey, was solls, warum nicht einen Riesling riskieren, wenn der Weinladen doch offen hat und ein Gespräch über Nachtleben und Clubkultur nüchtern betrachtet kaum auszuhalten ist zurzeit.

Und so stehen jetzt – Transparenzhinweis – zwei halb gefüllte Plastikbecher auf einer Holzbank am Holzmarkt, unten am Ufer, bei den Trauerweiden. Der Blick geht auf die Spree, die Gedanken kreisen um die Zukunft und landen immer wieder bei der Vergangenheit. Als alles gut war. Oder das meiste. Jedenfalls normal. Also noch.

Es war Anfang März vor einem Jahr, die letzte Clubnacht im Kitkat, Anna Harnes saß auf einer Treppe, schaute in den Raum und sah: „Menschen und Individuen, die von oben betrachtet alle glücklich vereint waren in diesem Moment der Nacht.“ Dann zoomte sie hinein in die Menge: Da ein Plausch, dort ein Kuss, an der Toilette vielleicht ein kleines Drama, irgendwer schrie, weil er sein Handy verloren hatte, an der Garderobe versuchte jemand, mit der Getränkemarke seine Jacke wiederzubekommen. Der übliche Wahnsinn. „Diese Nacht“, sagt Harnes, „hat mich durchs Jahr getragen“.

Hundertfach kopiert

Bevor sie sich auf die Treppe zurückzog, hatte Harnes überall im Club Flyer aufgehängt, verfasst in drei Sprachen: „Falls du dich am nächsten Morgen krank fühlst, melde dich.“ Darunter eine Mailadresse.

Am 13. März 2020 wurden in Berlin die Clubs geschlossen, ging etwas verloren, das die Menschen anzieht und in Schwingung versetzt wie ein Supermagnet. Doch bereits fünf Tage später entstand etwas Neues, weil die Partyszene keine langen Phasen des Stillstands verträgt. Weil Kreativität Entwicklung bedeutet, den Wandel beschleunigt, auch in der Krise. Vor allem in der Krise, der man so gerne Chancen andichtet.

Und so ging am 18. März das erste Set von United We Stream auf Sendung, live aus dem Kreuzberger Watergate, übertragen von Arte Concert. Inzwischen wurde das Format hundertfach kopiert: DJ-Pult, Kamerateam, ein paar Stunden elektronische Musik frei Haus, tanzbar in WG-Küchen und Wohnzimmern.

Die Orte: immer wieder Berlin, aber auch Belgrad, Teheran, Detroit. In einem Birkenwäldchen bei Moskau, auf der Chinesischen Mauer, aus einem Aquarium in Johannesburg, vor dem zerstörten Hafen in Beirut. Die Künstler: Monika Kruse, Ellen Allien, Pantha du Prince, DJ Hell, Stars und Sternchen. Die Musik: Techno, House, Trance, Minimal und alles dazwischen, das einen aufsaugt, antreibt, auslaugt, wieder ausspuckt. Und wozu das Ganze? Um einen „einsetzenden Lagerkoller“ zu verhindern, wie es auf der Website immer noch heißt. Obwohl manche längst kollabiert sind an und mit Corona.

Anna Harnes, Leggins, Kapuzenpulli, rheinische Herzlichkeit, seit 18 Jahren nachtaktiv, ist die Vorsitzende von United We Stream. Das war zunächst – „Weil wir dringend etwas tun mussten für die Sichtbarkeit der Clubs“ – nur eine Kampagne mit Spendenaufruf, gelauncht von Nachtlebenlobbyisten (Clubcommisson), Feieraktivisten (Reclame Club Culture) und anderen Kulturschaffenden plötzlich a. D.

In einem Jahr kamen 1,5 Millionen Euro zusammen, darunter eine Überweisung vom Drogeriemarktbestsellerautor Dirk Roßmann, der den neunten oder zehnten Arm des Oktopus tief in die Tasche greifen ließ. Auch dieses Geld floss an die Berliner Clubs, verteilt nach einem Schlüssel, der vom größten Fixkostenpunkt ausging, meistens die Miete. Das half am Anfang. Doch am Ende, irgendwann, werden trotzdem Insolvenzen stehen. Die Clubs haben Schulden, gestundete Mieten sind „ein Tod auf Raten“, wie Harnes es nennt.

United We Stream ist inzwischen mehr als gelebte Solidarität und digitaler Partyersatz. Entstanden ist eine digitale Anlaufstelle für Clubs, Künstlerinnen und Künstler, die Expertise beim Booking bietet, Urheberrechtsfragen beantwortet, Diskussionen zu Themen wie Vielfalt und Inklusion anregt, Safer Spaces für marginalisierte Gruppen schafft, die zivile Seenotrettung unterstützt, Geschäftsmodelle für den digitalen Raum entwickelt.

Kurzum: Entstanden ist ein globales Netzwerk. Oder wie Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Popp in ihrer Laudatio im November sagte: „ein Vorreiter und Vorbild für Musikbegeisterte in der gesamten Welt“. United We Stream hatte den Wirtschaftspreis bei den listen to berlin: Awards gewonnen.

Wer mitmachen will, muss sich zu einem Awareness-Manifest bekennen. Unter dem Punkt „Werte“ steht dort: „United We Stream begreift die derzeitige globale Krise als einen Startpunkt für eine notwendige gesellschaftliche Transformation.“ Harnes sagt: „Musik ist der kleinste gemeinsamer Nenner.“

Etwa 200 ehrenamtliche Helfer waren es am Anfang, digital vernetzt, dezentral organisiert, einig im großen Ganzen, wählerisch bei den Kleinigkeiten. „Der eine“, sagt Harnes, „wollte kein Google benutzen, wegen der Daten, der andere meinte, nee, Zoom mag ich nicht.“

Seit Sommer, als die Spendenbereitschaft nachließ und die ehrenamtlichen Helfer in ihre Jobs zurückkehrten, besteht United We Stream aus einem Kernteam, zurzeit aus 25 Personen. Es gibt einen Eintrag im Vereinsregister, was in Pandemiezeiten endlich auch online möglich ist.

Im Juni saßen die Gründungsmitglieder auf einer Terrasse am Holzmarkt. An langen Bänken mit Abstand und Laptops, zur Feier des Tages gab es Sekt. Im Grunde sind sie selbst nach einem Jahr noch damit beschäftigt, sich zu strukturieren. Harnes beschreibt ihren Job so: „Ich verknüpfte die Dinge auf einer Metaebene.“

Harnes ist Kommunikationsstrategin, sie lebt von der Nachtökonomie, im vergangenen April wollte sie eigentlich einen Mietvertrag unterschreiben und aus einem S-Bahn-Bogen den nachhaltigsten Club Deutschlands (oder zumindest Berlins) machen. Mit einer Regenwasserpumpanlage für die Toiletten zum Beispiel. „Ich könnte Stunden über Nachhaltigkeit im Nachtleben sprechen“, sagt Harnes. Sie empfiehlt den Green Club Guide zum Nachlesen.

Anna Harnes nippt noch mal am Riesling, dann folgt ihr Schlusswort: „Die Menschen sind isoliert, dem Digitalen ausgeliefert, den Akteuren, die dort nicht nur Gutes reinspielen. Sie werden völlig ohne Filter mit Content, Meinungen und Infos beballert. In einer Zeit, in der Angst normal ist, schafft das verschiedene Lager und dann hast du eine gespaltene Gesellschaft. In Clubs und in der Nacht finden Menschen im und über den Exzess jedoch wieder zueinander.“ Cheers!

Backstage gibt es nur Schorle und dazu macht Pamela Schobeß ein zerknirschtes Gesicht, denn am liebsten hätte sie diesen einen Satz nicht gesagt. Hat sie aber und ihre Worte sind von Berlin aus um die Welt gegangen, weil sie als Vorahnung ausgesprochen mit jedem weiteren Pandemietag immer mehr zur Gewissheit wurden. Schobeß sagte vor einem Jahr: „Wir waren die Ersten, die zugemacht haben, und werden wohl die Letzten sein, die wieder aufmachen können.“

Wir, die Clubs. Seit fast zehn Jahren führt sie mit Lars Döring das Gretchen in Kreuzberg. Am 7. März feierten sie hier die letzte Clubnacht. Schobeß stand wie immer an der Tür, hinterm Tresen, auf der Tanzfläche, es lief Drum 'n' Bass, ihre Lieblingsmusik. „Wir wussten, was auf uns zurollt“, sagt sie. „Aber niemand ist damals mit dem Wissen nach Hause gegangen, dass man sich mindestens ein Jahr nicht wiedersieht.“

Auf der Website hat Schobeß eine Liste aller im Gretchen ausgefallenen Events erstellt, man kann sich durchscrollen wie durch ein Leben voller Möglichkeiten, das niemals stattgefunden hat. Über 100 Events waren es bereits im vergangenen Juni, als Schobeß vor dem Kulturausschuss im Bundestag sprach. Sie ist im Vorstand der Clubcommission, sie ist die nachtpolitische Stimme Berlins.

Ihr Zwischenfazit? „Die Politik hat in diesem Jahr viel mehr verstanden, was Clubkultur wirklich ausmacht, was für eine hohe kulturelle und soziale Relevanz das hat.“

United We Stream, Folge 30, kam genau einen Monat nach dem behördlichen Partyverbot live aus dem Gretchen. Schobeß musste nicht an der Tür aushelfen, stand nicht hinter der Bar, aber auf dem Floor, das schon. Sie sagt: „Ich hatte das Bedürfnis, mich umzudrehen und die Energie der Leute aufzunehmen, aber da war niemand.“

Backstage, das klingt aufregender, als es in Wirklichkeit aussieht: Ein paar alte Sofas in Samt und Leder, ein Tisch, der mal eine Palette war, ein Tresen wie aus einem Hobbykeller, das Einzige, was an den Wänden hängt, ist ein Zettel mit dem Wlan-Passwort. Schobeß reichert den kalten Zigarettenrauch mit etwas Frischluft an, dann sagt sie: „Ich freue mich jetzt auf die Streams, ich tanze auch allein, aber ich musste mich dazu zwingen.“

Immer donnerstags schickt das Gretchen ein Lebenszeichen nach draußen, ein Set für die Stammgäste. Und nur für sich drehen sie die Anlage auf, was aufnahmetechnisch nicht sein muss, „aber wir wollen den Bass spüren“. Dann tanzen sie zu zweit.

Getränke in virtueller Bar

Um die 20 Leute sind es, die sich den Livestream anschauen, Getränke in einer virtuellen Bar bestellen, Gespräche im Chat führen, sich gemeinsam an früher erinnern, sich gegenseitig Mut zusprechen. „Wir hoffen, weil die Community hofft“, sagt Schobeß, „und die Community hofft, weil wir die Hoffnung nicht verloren haben.“

Die Streams simulieren ein bisschen Normalität, doch sie können nicht das ersetzen, was Schobeß am meisten vermisst: die Gäste, die Nähe, die Tresengespräche. „Ich weiß nicht, was die Leute beruflich machen, aber ich weiß, wie sie tanzen, wo sie an der Bar stehen, was sie trinken wollen. Der da? Drei Bier und dann einen Tequila, immer.“ Manche Nachtmenschen kennt sie seit über 20 Jahren. „Wir sind gemeinsam erwachsen geworden.“

Pamela Schobeß, 46, hat diese Bilder im Kopf, eine Fantasie wie ein Fixstern, an dem sie sich ausrichten kann, falls sie mal vergisst, wo sie bald wieder stehen will: „Der Laden ist voll, und ich bin mit meinen Jungs und Mädels hinter der Bar, wir sind mega im Stress, alle Leute wollen gleichzeitig was trinken, du musst gar nicht sprechen, signalisierst nur: Willst du noch? Alles klar, dann machst du den Drink, schiebst ihn über den Tresen. Und dann fragt jemand: Willst du einen Kurzen mittrinken? Ja, klar!“

Wer würde schon Nein sagen.

„Und dann tanzen wir alle!“


Erschienen am 18. März 2021