1 subscription and 1 subscriber
Feature

Gekommen, um zu bleiben

Fünf Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland kandidiert Tareq Alaows, der aus Syrien stammt, für den Bundestag. Er will die Stimme der Geflüchteten sein. Eine Begegnung in Kreuzberg

Es gibt Menschen da draußen, die sich vorstellen, wie Tareq Alaows das Reichstagsgebäude stürmt. Bewaffnet mit Hammer und Meißel oder was auch immer man so brauchen würde, um die 16 Meter breite Inschrift über dem Westportal zu ändern: von „Dem Deutschen Volke“ in „Für alle, die in Deutschland leben“. Jedenfalls rollten gleich die ersten Empörungswellen an.

Es gibt nun mal Menschen da draußen, die sich sehr gerne empören, die an Fake News auf Twitter oder Facebook glauben, und wenn sie dort Artikel über den angeblichen Reichstagsstürmer aus Syrien gekauft haben, kauften sie auch: Fremdenhass oder zumindest Vorurteile gegenüber Geflüchteten wie Tareq Alaows. Immerhin wird ihm nicht nur kriminelle Energie zugetraut. Sondern auch korrekte Rechtschreibung und Kommasetzung.

Vor drei Wochen fing alles an, da hat Alaows ein Video auf seinen Kanälen gepostet, dazu schrieb er: „Ich kandidiere als erste aus Syrien geflüchtete Person für den Bundestag.“ Als Direktkandidat der Grünen, im Wahlkreis Oberhausen und Dinslaken. Und sollte er im kommenden Herbst gewählt werden, wäre er nicht nur dem deutschen Volke verpflichtet, wie er tatsächlich in einem Interview sagte, sondern eben allen, die in Deutschland leben. Also auch den etwa zehn Millionen Menschen, die das ohne deutsche Staatsbürgerschaft tun.

Für Alaows ist das ein Repräsentationsproblem, ein Grund, um in Zukunft über das Wahlrecht nachzudenken. In der Gegenwart musste er aber erst einmal erfahren, welches Eigenleben öffentlich gesprochene Worte entfalten können. Und im Crashkurs lernte er zudem die olympischste aller Politikerdisziplinen: das Zurückrudern.

Tareq Alaows, 31, trägt Dutt zu Bart, Pullover über Hemd, in der Summe einen mehrheitsfähigen Modemix aus Berliner Szenekneipe und Münchener Fußgängerzone; nach einer Zigarettenpause bittet er nach oben in ein Hinterhausbüro. Auf seinem Laptop prangt ein durchgestrichenes Hakenkreuz, an einer Stellwand kleben Zettel mit Namen wie Mamadou S. oder Rahima A., der Fensterblick geht auf die Spree. Alaows sagt: „Ich komme jeden Tag gerne zur Arbeit.“

Seit vergangenem Jahr leitet er den Bereich Prävention und Krisenmanagement im Kreuzberger Kunstlabor S27, wo geflüchtete Menschen gemeinsam werkeln, kochen, Deutsch lernen, irgendeine Zukunft planen können. Dabei brauchen sie Unterstützung, einen Juristen etwa, der sich mit bürokratischen Hürden auskennt, mit Anträgen und gesetzlichen Ansprüchen. Dann ist Alaows der Richtige.

Er hat es geschafft

In Syrien hat er Internationale Beziehungen und Jura studiert, nach seiner Flucht vertiefte er sich in die Details des deutschen Asylrechts. Der richtige Ansprechpartner ist er aber auch, wenn es um Schlafstörungen geht, um Albträume, Flashbacks, um typische Symptome eines Fluchttraumas.

Alaows hat neun Monate nach seiner Ankunft in Deutschland für die Medizinische Flüchtlingshilfe in Bochum gearbeitet, später in psychosozialen Zentren, wo Folteropfer betreut werden, er war „beratender Experte“ bei einem Traumabewältigungsprojekt für Geflüchtete an der FU Berlin. Diese Menschen, deren Interessen bislang kaum berücksichtigt werden im Bundestag, will Alaows in der kommenden Legislaturperiode vertreten: die Träger ungewisser Aufenthaltstitel, die mit den Arbeitsverboten. „Die Menschen“, glaubt Alaows, „die dem Land etwas zurückgeben wollen, das sie aufgenommen hat.“

Alaows legt die Fingerspitzen aufeinander, reißt die Augen auf und sagt: „Ich stehe auf der richtigen Seite.“ Punkt. Keine Zweifel. Auf der Seite, wo man sich Offenheit wünscht und nicht für Abschottung steht. Er hat es doch geschafft. Also können es andere auch schaffen. Oder dürfen wenigstens nicht daran gehindert werden. So sieht er das. Er sagt: „Ich fühle mich der deutschen Gesellschaft zugehörig und der Geschichte, die in diesem Land gerade geschrieben wird, ich will ein Teil dieser Geschichte sein.“ Er glaubt an ein Happy End. Trotz allem.

Alaows ist ein Geflüchteter, der zum Aktivisten wurde, einer Partei beitrat und nun Parlamentarier werden will – damit Teil eines Systems, das er kritisiert. Er weiß natürlich, dass er aus seiner Biografie politisches Kapital schlagen kann. Das wissen auch die Grünen in Oberhausen, die er in einer Onlinekonferenz so von sich und seinem Programm überzeugte, dass sich kein Gegenkandidat fand. Schon da fiel der Satz: „Ich glaube, dass meine Stimme und die Perspektive geflüchteter Menschen im Bundestag notwendig sind.“

Ein Viertel der deutschen Bevölkerung hat eine Migrationsgeschichte, aber nur 8 Prozent der Abgeordneten können ihre eigenen erzählen. Und welche Gesellschaft soll der nächste Bundestag abbilden? Eine, die für Vielfalt steht, die Migranten politische Teilhabe ermöglicht und die eine Diskussion darüber führen will, ob es einen Unterschied gibt zwischen Integration und Zusammenleben? Oder eine, die ausschließt, spaltet, dämonisiert?

Der Tag, an dem Alaows seine Kandidatur bekannt gab, mobilisierte die politischen Ränder in Deutschland gleichermaßen, besonders in den Randbezirken auf Twitter. Links („Wir brauchen Menschen wie dich in der Politik“) euphorisch, rechts („Ändere doch dein Land“) entsetzt, und damit zeigte sich noch einmal, wo Willkommenskultur aufhört und Abschiebefantasien beginnen.

Zur Erinnerung, weil man das in Pandemiezeiten vergessen kann: Es herrscht Krieg in Syrien und die Lager an den europäischen Außengrenzen sind immer noch da. Damit auch die Frage: Wollen wir den dort gestrandeten Menschen helfen – oder sollen wir es tatsächlich lassen? Alaows findet: „Das ist keine Frage, die man sich stellen sollte.“ Punkt. Keine Zweifel.

Sein Wahlwerbespot zeigt Szenen aus dem Leben eines Aktivisten: Alaows in Syrien, wo er für den Roten Halbmond Menschenrechtsverletzungen dokumentierte, Alaows auf deutschen Marktplätzen, wo er demonstrierte, Reden hielt, sein Netzwerk knüpfte. Die Botschaft ist klar: Das hier ist ein engagierter Kandidat, dazu empathisch und entschlossen.

Was man noch sieht: Alaows vor dem Dortmunder Hauptbahnhof, fünf Jahre nach seiner Ankunft im September 2015, wo er sein letztes Geld für Drehtabak und zwei belegte Baguettes ausgab, wie er heute erzählt. Es war schon Nacht, als er beim Rauchen dachte: „Jetzt bin ich nicht mehr in Gefahr.“ Hinter ihm lagen 4000 Fluchtkilometer. Von Damaskus nach Dortmund in 45 Tagen. „Ich fühlte mich wie neu geboren.“

Dann: Alaows vor einer Turnhalle in Bochum, wo er mit sechzig anderen Geflüchteten lebte, nur durch Stellwände getrennt, sechs Monate lang, und wenn ein Kind in der Nacht schrie, wurden alle wach. Seine ersten deutschen Worte lernte er, indem er Teile des Grundgesetzes mit dem Smartphone übersetzte und in ein Notizbuch übertrug. Bald verstand er den Sinn verschachtelter Sachbearbeitersätze, wusste, wie und wo man trotz eines laufenden Asylantrags eine Wohnung beantragen kann. Er teilte sein Wissen mit den anderen. „Hier begann meine politische Arbeit.“

Dann: Alaows hinter einem Rednerpult in der Bochumer Innenstadt, wo sich im Juni 2016 Zehntausende Menschen in einer Menschenkette gegen Rassismus verbunden fühlten und er sich dafür entschuldigte, dass er sich seine Augen, Haare und Hautfarbe nicht aussuchen konnte. Heute sagt er: „Das war mein Weg zu zeigen, dass wir nicht schuldig sind, dass wir zufällig nicht in Deutschland geboren wurden.“ Es sei ja auch ein Zufall gewesen, dass er in Dortmund gelandet ist.

Und dann dieses Bild aus Essen, aufgenommen bei einer Demonstration der „Seebrücke“, einer im Sommer 2018 von Alaows mitgegründeten Bewegung, nachdem das Rettungsschiff „Lifeline“ mit 234 Geflüchteten an Bord keinen sicheren Hafen im Mittelmeer gefunden hatte. Man sieht ihn mit einer eingewickelten Babyleiche in den Armen: „Ich hatte die Notwendigkeit gespürt, die Menschen zu schocken.“ Das Baby war aus Silikon. Auf der Bühne sagte er: „Wir leben in einer Zeit, an die wir uns noch einmal erinnern werden, wenn wir uns die Frage stellen: Wann hat diese Gesellschaft eigentlich ihre Menschlichkeit verloren?“

Hat sie das? „Damals sah es so aus.“ Und heute? „Wir brauchen noch ganz viel Aufklärungsarbeit. Wir müssen viele Geschichten erzählen von Menschen, die fliehen mussten, die angekommen sind – oder auch nicht.“

Das Video zeigt natürlich nicht alles. Einiges existiert nur in den Erfahrungsberichten von Tareq Alaows, ist nicht überprüfbar. Die Schmerzen auf Lesbos, weil Klebeband mit seiner Haut verschmolzen war und diese beim Abziehen mitriss; aus Sorge, auf der Überfahrt aus der Türkei beklaut zu werden, hatte er sein Geld an der Fußsohle fixiert. Oder die Angst in Ungarn, wo er 15 Stunden durch einen Wald irrte und die Anwesenheit von Spinnweben zwischen den Bäumen als Zeichen für die Abwesenheit von Grenzsoldaten deutete. Und der Wecker, den er sich stellte, um während seiner Flucht das Essen nicht zu vergessen.

Die Angst, verhaftet zu werden

Nachdem Alaows beschlossen hatte, Damaskus zu verlassen, nahm er sich fünf Tage Zeit für den Abschied. Von den Eltern, die Mutter Buchhalterin, der Vater politischer Journalist, dessen Texte nicht mehr erscheinen durften. Der Sohn wollte sie beide mitnehmen, der Vater sagte: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Und von den Orten, die ihm wichtig waren, etwa dem Park, wo er seiner Freundin seine Liebe gestand. Er ging dann allein. Aus Angst, verhaftet oder zum Militärdienst gezwungen zu werden. Schließlich hatte er studiert. Seine Waffen sind die Paragrafen.

Als Jurist fragt er sich: „Könnten bürokratische Verfahren in Deutschland nicht vereinfacht werden?“ Als Aktivist: „Können wir nicht anders umgehen mit diesen Menschen?“ Und als Politiker fordert er: „Behörden sollen Geflüchteten nicht immer mit einem Generalverdacht begegnen.“ So wie die Berliner Polizisten, die Alaows mal auf der Straße ansprachen und, wie er erzählt, den Kaufvertrag für sein Rennrad sehen wollten. Und irgendeinen Pass.

Alaows wartet noch auf die deutsche Staatsbürgerschaft, die Bedingung ist für eine Bundestagskandidatur. Spätestens am Wahltag muss er sie haben. Was auch bedeutet: Der AfD bleibt noch Zeit. Bereits vor ein paar Tagen brachte die Partei einen Gesetzesentwurf in den Bundestag ein. Alaows glaubt: „Um meine Kandidatur zu erschweren.“

Ohne den Namen Tareq Alaows auszusprechen, sagte der Abgeordnete Gottfried Curio: „Er steht damit exemplarisch für eine geplante Turboverleihung der Staatsbürgerschaft.“ Es antwortete Philipp Amthor von der CDU: „Bevor Sie von der AfD jetzt darüber fabulieren, was Sie von einbürgerungswilligen Ausländern verlangen, würde ich erst mal an Sie appellieren, sich zu fragen, ob Sie die Anforderungen selbst erfüllen.“ Vier von fünf Fraktionen applaudierten. Alaows grinst: „Ich habe schon einiges erreicht.“

Menschen, die Alaows besser kennen, beschreiben ihn als unermüdlichen Helfer. Die Aktivistin und Kapitänin Carola Rackete erzählt am Telefon: „Tareq ist keiner, der sagt, so, jetzt habe ich Feierabend oder Wochenende.“ Und Barbara Meyer, Geschäftsführerin des Kunstlabors S27, seine Chefin in Kreuzberg, sagt: „Er hat den Anspruch, ganz viel zu schaffen, eine grundsätzliche Lösung herbeizuführen. Aber manchmal ist er überrascht, wie aufwendig das sein kann.“ Wie langsam die Bürokratie.

Der Schriftverkehr zwischen Tareq Alaows und den deutschen Behörden füllt inzwischen drei Ordner. Darunter sind Briefe, die ein Missverständnis klären mussten. Als er sich in Dortmund registrierte, ist nämlich die Reihenfolge bei Vor- und Nachname vertauscht worden. Das fiel Alaows aber erst auf, als er seinen Rentenverlauf online beantragen wollte, sich nicht im System fand. Als hätte er nie Steuern gezahlt in Deutschland. Als wäre er nie angekommen.


Erschienen am 24. Februar 2021