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Freiheit - der vergessene Diamant der Linken

In Norwegen haben die Wähler die bisherige Regierung von Ministerpräsident Stoltenberg abgewählt - trotz glänzender wirtschaftlicher Lage. Die Gründe dafür könnten auch für SPD und Grüne interessant sein: Die norwegische Sozialdemokratie hat den Wert der Freiheit vergessen. Von Patrick Gensing

Das Wahlergebnis erscheint geradezu absurd: Norwegen ist eins der reichsten Länder der Welt, Arbeitslosigkeit kein Problem; die Einnahmen aus dem Ölhandel werden in Geldspeichern von Dagobert-Duckschen Ausmaßen gehortet. Die Kriminalitätsrate ist niedrig, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Infrastruktur hervorragend. Ministerpräsident Stoltenberg hat sich zudem nach dem traumatischen Doppelanschlag des Rechtsterroristen Anders Breivik als großer Staatsmann erwiesen.

Wer mit Anhängern Stoltenbergs spricht, hört nach der Wahlniederlage Erklärungen wie "Undank ist der Welten Lohn" oder "Uns geht es einfach zu gut". In der Tat ist es der Sozialdemokratie zu verdanken, dass Norwegens immenser Reichtum gerecht verteilt wurde - und nun findet man sich auf den Bänken für die Opposition wieder.

Rechte haben den Begriff Freiheit definiert

Die Ursachen für Stoltenbergs Abwahl liegen also nicht im wirtschaftlichen Bereich. Wo dann? Der Wissenschaftler Per Fugelli hat im August in einem Debattenbeitrag in der Aftenposten die Gründe für die sich abzeichnende Wahlniederlage präzise beschrieben: Es geht um den Begriff der Freiheit.

"Høyre og Fremskrittspartiet har klart å gjøre friheten til sin merkevare. De har klart å sette likhetstegn mellom liberalisme og frihet og mellom sosialdemokrati og formynderi."

Die Konservativen und die Fortschrittspartei hätten es geschafft, stellt Fugelli fest, die Freiheit zu ihrer Kernkompetenz zu machen. Sie hätte Gleichheitszeichen gesetzt - zwischen Freiheit und Liberalismus auf der einen Seite sowie Sozialdemokratie und Bevormundung auf der anderen.

Tatsächlich ist der Staat in Norwegen allgegenwärtig: Auf vielen Straßen werden Autos automatisch registriert und Mautgebühren eingezogen; für Genussmittel werden Fantasiepreise abgerufen; wer wieviel verdient, wird alljährlich öffentlich gemacht.

Die Umkehrung des Sozialstaats

Ähnliche Debatten sind in Deutschland zu beobachten. Die SPD hat es nicht nur vollbracht, Teile der eigenen Anhängerschaft durch Hatz IV zu verprellen, sie hat gleichzeitig auch noch ein Überwachungssystem erschaffen, das es verdient hätte, statt der NSA-Praktiken skandalisiert zu werden: Größe der Wohnung, Geldgeschenke von Oma, private Ersparnisse - alles muss offengelegt werden, um überhaupt staatliche Hilfe zu bekommen - um die eigene Existenz mehr schlecht als recht zu garantieren. Wer gegen die rigiden Vorschriften verstößt, dem kürzt Vater Staat das ohnehin knappe Taschengeld weiter.

Der Wissenschaftler Fugelli beschreibt das Ideal des Sozialstaates hingegen so: Dieser solle Würde, Sicherheit sowie Freiheit schaffen und gerecht verteilen. Hartz IV vernichtet aber Würde, schafft Unsicherheit und Frustration, Unfreiheit sowie totale Überwachung. Dieses Instrument stigmatisiert Menschen und ist somit die Verneinung des Sozialstaates: Er wird zum Gegenteil von Freiheit, zum Zwangssystem, das Menschen zu Objekten degradiert - und nicht den Bürgern hilft, die trotz einer Notlage handlungsfähige Individuen bleiben sollen.

Der verschwundene Diamant

Die Freiheit sei der verschwundene Diamant der norwegischen Arbeiterpartei, meint Fugelli. Sie rufe "Zusammenhalt" - und es klinge wie ein Echo aus alten Zeiten, während sich die Konservativen und Rechten das Monopol gesichert hätten, die wichtigste Sehnsucht der Menschen, nämlich Selbstverwirklichung, zu vertreten. In Deutschland plakatiert die SPD derweil die Parole "Das Wir entscheidet!" - zum 150 jährigen Jubiläum fiel er nichts Besseres ein, als zu verkünden, dass ein besseres Land nicht von allein komme. Inhaltsfreier geht es kaum noch

Dabei sei es doch die politische Linke, betont Fugelli, die für die Freiheit der Menschen eingetreten sei, um sie aus der Abhängigkeit zu holen und sie zu handlungsfähigen Individuen zu machen. Den Konservativen und Rechtspopulisten wirft er vor, den Begriff Freiheit zu missbrauchen, um Egoismus und das Recht des Stärkeren durchzusetzen, was bei der Fortschrittspartei und ihrem chauvinistischen Programm sicherlich voll zutreffend ist.

Ordnungsrecht für die Freiheit?

In Deutschland fordert die SPD derweil gebetsmühlenartig höhere Steuern und einen flächendeckenden Mindestlohn. Aber warum diese Maßnahmen wichtig seien, welches gesellschaftliche Ziel man damit verfolgt, das bleibt zumeist unausgesprochen. Übrig bleibt die Botschaft: mehr Staat, höhere Abgaben, mehr Regeln und Vorschriften.

Dazu kommen die grünen Bündnispartner, die gerade in eine ähnliche Falle tappen: Ihr Marsch durch die Institutionen endet immer öfter im Ordnungsamt. Zwar werden entsprechende Vorwürfe brüsk und empört zurückgewiesen, doch der Eindruck bleibt: Hier sind Politiker unterwegs, die meinen, genau zu wissen, was für alle andere das Beste sei. Die sinkenden Umfragewerte belegen, dass die Grünen ihren politischen Erfolg damit zunehmend aufs Spiel setzen.

Gerechtigkeit und Freiheit bedingen sich

Den Ruf nach individueller Freiheit als Egoismus zu brandmarken, mag bisweilen zutreffend sein - es ändert nichts an der Tatsache, dass Freiheit die Garantie ist, zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können. Wollen Sozialdemokraten und Grüne wieder in Regierungsverantwortung kommen, dürfen sie den Begriff nicht den Sonntagsreden des Bundespräsidenten überlassen, sondern ihn mit Leben erfüllen.

Sie müssen den Menschen überzeugend erklären, dass eine solidarische und gerechte Gesellschaft nicht nur ein Kostenfaktor ist, sondern ein Wert an sich - der allen zu gute kommt. Wenn selbst eine hervorragende wirtschaftliche Bilanz und eine gerechte Gesellschaft keinen Wahlsieg beschert, wie jetzt in Norwegen, werden hemdsärmliges Auftreten und Besserwisserei erst recht nicht reichen. Denn nicht das "Wir" entscheidet allein an der Wahlurne, sondern das Ich hat da auch noch mitzureden.

Patrick Gensing hat gemeinsam mit Andrej Reisin das Buch "Der Präventivstaat" geschrieben, das im September 2013 erscheint: Statistisch betrachtet geht es den Menschen in Deutschland so gut wie noch nie: Wir leben immer länger, der medizinische Fortschritt ist unaufhaltsam. Die Gesellschaft wird immer sicherer, schwere (Gewalt-)Kriminalität ist seit Jahrzehnten auf dem Rückzug. Mit ihrem Buch Der Präventivstaat beleuchten Patrick Gensing und Andrej Reisin die ökonomischen und sozialen Hintergründe der neuen Sicherheitsideologie, die quer durch alle Parteien geht. Sie entlarven das Primat der Prävention als Weg in einen Überwachungs- und Sicherheitsstaat, in eine fanatische Gesundheits- und Sittenwächtergesellschaft. [ Amazon] [ buecher.de]

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