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Flüchtlingsproteste: Neues Selbstbewusstsein, alte Vorurteile

Proteste von Asylsuchenden in Deutschland

Neues Selbstbewusstsein, alte Vorurteile Seit Monaten kämpfen Asylbewerber in Deutschland für ihre Rechte, organisieren Hungerstreiks und Protestmärsche. Die Flüchtlinge treten mittlerweile selbstbewusster auf, die Vorurteile in der Bevölkerung bleiben.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

In Deutschland haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Asylsuchende für bessere Lebensbedingungen protestiert. Die Flüchtlinge setzen dabei auch ihre Gesundheit aufs Spiel: Wochenlange Protestmärsche, Hungerstreiks, einige haben sich sogar den Mund zunähen lassen. "Wir sind die unterste Schicht der Gesellschaft", schreibt die Initiative Refugee Struggle for Freedom in einer Erklärung. "Unser Körper sind unsere einzige Waffe."

Die Flüchtlinge haben zentrale Forderungen formuliert: Ihre Anträge auf Asyl müssten anerkannt, die Abschiebungen gestoppt, Gemeinschaftsunterkünfte geschlossen und die Residenzpflicht abgeschafft werden. Letztes ist besonders wichtig für viele Asylbewerber, denn die Auflage verpflichtet die Betroffenen, sich nur in einem bestimmten Gebiet, zumeist der Landkreis, aufzuhalten.

Aus lokal wird überregional

Menschenrechtsorganisationen prangern seit Langem diese Regelungen an, zumeist erfolglos. "Die Flüchtlinge haben es geschafft, ihre Lebensverhältnisse auf die öffentliche Agenda zu setzen", sagt Karl Kopp, Europareferent bei Pro Asyl gegenüber tagesschau.de. Das hätten die Hilfsorganisationen nicht vermocht.

Auch in früheren Jahren hatte es zwar Proteste von Flüchtlingen gegeben, doch dies waren zumeist lokale Aktionen. Dabei ging es in den 1990er-Jahren beispielsweise darum, dass sich Asylbewerber aus Angst vor Übergriffen durch Neonazis dagegen gewehrt hatten, in die neuen Bundesländer verlegt zu werden.

Selbstbewusste Menschen, moderne Kommunikation

Heute sind die Flüchtlinge besser vernetzt; wichtiges Hilfsmittel sind dabei die sozialen Netzwerke. Kopp betont, auch minderjährige Flüchtlinge hätten so die Möglichkeit, ständig miteinander zu kommunizieren. So bleiben Netzwerke, die es bereits in den Herkunftsländern gab, intakt. Über Blogs, YouTube-Kanäle und Twitter können die Aktivisten zudem die Öffentlichkeit erreichen - ohne Hilfe der klassischen Medien.

Viele junge Flüchtlinge seien selbstbewusst und oft gut ausgebildet, sagt Kopp: "Sie tragen ihre Forderungen deutlich vor und organisieren sich selbst." Es sei teilweise der Geist des arabischen Frühlings zu spüren. Und dieses Selbstbewusstsein sowie die Selbstorganisation verändern auch die Arbeit von Vereinen wie Pro Asyl. "Wir sind nicht mehr in der paternalistischen Rolle, sondern die Flüchtlinge begegnen uns auf Augenhöhe", sagt Kopp. Dies sei eine notwendige Normalisierung im Umgang miteinander.

"Das Lager macht krank"

Viele Flüchtlinge sind von einem Freiheitswillen getrieben - und werden in Deutschland nun weitestgehend entrechtet. In Bayern sind die Proteste seit Monaten besonders massiv: Die Aktionen begannen Anfang 2012 in Würzburg - nach dem Selbstmord eines 29-jährigen Iraners in einer Gemeinschaftsunterkunft, einer ehemaligen Kaserne.

In dem Freistaat sind die Regelungen für Asylsuchende sehr restriktiv. So bekommen diese beispielsweise kein Geld ausgezahlt, um Nahrung kaufen zu können, sondern erhalten Essenspakete. Eine Entmündigung, die viele Flüchtlinge nicht hinnehmen wollen.

Hamed Rouhbakhsh ist Sprecher der Initiative Refugee Struggle for Freedom. Er hält sich derzeit mit 40 weiteren Flüchtlingen im DGB-Haus in München auf. Dort verharren die Flüchtlinge nach einem Protestzug durch Bayern. "Wir haben wirklich Angst", sagte der junge Mann, der im Iran studiert hatte, gegenüber tagesschau.de. Rouhbakhsh zeigt sich aber entschlossen: "Wir setzen unsere Proteste fort, denn wir wollen nicht zurück in das Lager für Asylbewerber. Das Lager macht krank."

"Ich habe meine Würde zurückgewonnen"

Für die Aslysuchenden bedeuten die selbstorganisierten Proteste offenbar vor allem, aus dem verwalteten Leben herauszutreten. Ein Flüchtling formuliert es in einem Video auf YouTube so: "Ich fühle mich wieder wie ein Mensch. Ich habe meine Würde zurückgewonnen."

Die offensiv vorgetragenen Forderungen stoßen in der Öffentlichkeit oft auf wenig Begeisterung. Zwar gingen in Hamburg und Berlin Tausende Bürger für die Rechte der Asylbewerber auf die Straße, doch es gibt auch viele Anfeindungen. Ein privater Radiosender aus München berichtete am Mittwoch über das große Polizeiaufgebot vor dem DGB-Haus, in dem sich die Flüchtlinge aufhalten. Auf der Facebook-Seite des Senders hagelte es umgehend menschenverachtende Kommentare: "Asylanten haben kein Recht auf Existenz", meinte ein User, ein anderer schrieb "Raus mit dem Pack!" - und erntete dafür viel Zustimmung.

In Berlin-Hellersdorf kündigte die NPD aktuell an, eine "Bürgerwehr" bilden zu wollen. Die Neonazi-Partei hofft offenkundig, durch die Hetze gegen Flüchtlinge an Zustimmung zu gewinnen.

Ressentiments gegen Flüchtlinge

In der Tat scheinen die Ressentiments gegen Asylbewerber weit verbreitet - bundesweit: So ergab eine Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des ARD-Politikmagazins , dass 35 Prozent aller Bundesbürger "große oder sehr große Probleme" damit hätten, wenn in ihrer Nachbarschaft ein Asylbewerberheim entstehen würde.

44 Prozent der Befragten, die sich ablehnend äußerten, befürchten demnach bei der Einrichtung eines Asylbewerberheims erhöhte Kriminalität und Unsicherheit, 31 Prozent Krach, Unruhe und Belästigungen.

Massenflucht aus Syrien

Diskussionen über Flüchtlinge seien in Deutschland zumeist von Ressentiments und Gewalt begleitet, sagt Kopp von Pro Asyl. Angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien mit Millionen Flüchtlingen dürfte die Debatte aber gerade erst begonnen haben.

Schweden erklärte in dieser Woche, 8000 Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zu gewähren. Deutschland hat zugesagt, 5000 Syrer vorerst aufzunehmen. Doch angesichts der Massenflucht fordern mehrere Innenminister der Bundesländer, deutlich mehr Menschen Zuflucht zu gewähren. Die Bundesregierung lehnt dies bislang ab.

Stand: 04.09.2013 19:31 Uhr

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