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Hirn aus Plastilin - DATUM

›Lächeln Sie sich glücklich!‹ Das empfehlen Ratgeber. Halten ihre Theorien der Gehirnforschung stand?

DATUM Ausgabe Oktober 2017

›Fröhlichkeit ist genauso wie Glück oft eine bewusste Entscheidung‹, schreibt der Ö3-Moderator Benny Hörtnagl, der im Frühling sein Ratgeberbuch ›Rock it! Das Leben gehört dir‹ veröffentlichte. In einer meist anstrengend saloppen Sprache verbreitet er die Idee, Glück sei ›nix, was sich einstellt, weil man grade Urlaubsgeld bekommen hat, auf Urlaub ist, es Freitag ist oder man eine gute Note bekommen hat. Fröhlichkeit ist ein Zustand, in den man sich auch mal einfach hineinbegeben kann, ohne dass man dafür vier bis 125 Gründe hat.‹

Tipps für ein gelungenes Leben sind gefragt. ›Lifehacks‹ heißen solche Ratschläge für die bessere Bewältigung des Alltags im englischsprachigen Raum, denen auch Medien wie New York Times oder Guardian Rubriken widmen. Eigene Online-Portale, etwa das deutsche ›Zeit zu leben‹, beschäftigen sich ausschließlich mit dem Thema: Wie kommen wir, getrieben von unseren Pflichten, gestresst von unseren Ansprüchen, doch fröhlich und gelassen durchs Leben? Die Autoren wollen Leserinnen und Leser anleiten, deren Lebenseinstellung zum Positiven zu verändern. Ziel ist ein Ich, das von destruktiven oder unproduktiven Angewohnheiten und Beschäftigungen ablässt, sein Leben selbst in die Hand nimmt und es unterlässt, Versäumnisse zu beklagen – das einfach weniger sudert.

Auch Hörtnagls ORF-Kollege Peter Stacher liefert dazu Handlungsanweisungen. In seinem Ratgeberbuch ›Das Universum steckt in dir‹, das er voriges Jahr veröffentlichte, verspricht er: ›Wenn Sie um die vielen Einflüsse, die unser Handeln steuern, wissen, die Bedienelemente erkennen, können Sie beginnen, die Knöpfe selbst zu drücken.‹

Das klingt einfach und vage zugleich. Wie hilfreich sind derartige Empfehlungen wirklich? Lassen sich die populärwissenschaftlichen Methoden mit der modernen Hirnforschung in Einklang bringen?

Mit diesen Fragen im Gepäck springen wir zuerst einmal zwei Jahrhunderte zurück. Im Wien des Jahres 1805 wird ein in Österreich praktizierender deutscher Arzt und Neuroanatom ausgewiesen. Franz Joseph Gall hat bis zu diesem Zeitpunkt hunderte Schädel gesammelt, von Intellektuellen genauso wie von psychisch Kranken. In Vorlesungen, für die er Eintritt verlangt, sezierte er Gehirne oder tastete die Köpfe seiner Zuhörer ab, um so ihre Individualität zu begreifen. Er glaubte zur Erkenntnis gelangt zu sein, dass bestimmte geistige Fähigkeiten – 27 an der Zahl – in bestimmten Regionen der Hirnrinde ›sitzen‹. Hoffnung und Selbstvertrauen, Spiritualität und Zeitgefühl wären Galls Theorie zufolge neurologisch lokalisierbar. Er stellte geistige Vorgänge als biologische Prozesse dar – eine Revolution in der Forschung am Gehirn, das so lange als ›Seelenorgan‹, als Sitz der nicht fassbaren Seele, gegolten hatte.

Bei Kaiser Franz I. kam das nicht gut an. Er – wie die mächtige römisch-katholische Kirche – sahen ihre Autorität von Galls Lehre bedroht: Ein Geistes- oder gar Seelenbegriff, der sich von der Religion emanzipiert und plötzlich wissenschaftlich erklärbar werden sollte, durfte in den Köpfen der Untertanen nicht herumspuken. Gall beschloss, erst in Deutschland, dann in Paris weiterzuforschen.

Unser Gehirn ist freilich viel komplexer als Gall ahnte, als wir heute ahnen: Im gesamten Nervensystem sind viele Zusammenhänge und Abläufe nach wie vor ungeklärt; die Neurowissenschaften tasten sich langsam voran. Heute werden Gehirnregionen mit physiologischen Funktionen assoziiert; der Hirnstamm, dort, wo Rückenmark in Gehirn übergeht, ist für lebenswichtige Funktionen wie die Atmung zuständig; unser Sehzentrum im hintersten Teil des Großhirns verarbeitet visuelle Wahrnehmungen. Und doch wird immer deutlicher: Viele Regionen sind veränderlicher und unklarer voneinander abgegrenzt als gedacht. Unser Gehirn ist kein einmal angelegter, unflexibler Apparat – sondern eine plastische, formbare Struktur. Es entwickelt sich ständig weiter. Die Wissenschaft spricht von ›Neuroplastizität‹, der Fähigkeit des Gehirns, sich ein Leben lang an neue Gegebenheiten oder Bedürfnisse anzupassen.

Was steckt hinter dieser Eigenschaft? Das Gehirn hat zur Erschaffung seiner effizienten Komplexität eine geradezu ironische Strategie entwickelt: Es ist redundant. Das bedeutet, dass das sich entwickelnde Gehirn viel mehr Nervenzellen anlegt, als es eigentlich braucht – und viele davon vernichtet es wieder, heißt es im Handbuch der Neuroplastizität des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). ›Die, die überleben, stellen eine Überfülle synaptischer Verbindungen her, bevor die fehlgeleiteten oder anderswie überflüssigen zurückgestutzt werden.‹ Unser Gehirn baut also ein hochkomplexes Netz zur Signalübertragung auf, sieht dann zu, welche Bahnen darin häufig genutzt werden, und bricht alle anderen wieder ab. Dieser Prozess ist genetisch vorherbestimmt, lässt sich aber von unserer Wahrnehmung und den Umweltbedingungen beeinflussen – vor wie nach der Geburt, unser ganzes Leben lang. Jede Erfahrung, die wir machen, trägt dazu bei.

Vater dieser Erkenntnis ist Donald Hebb. Der kanadische Psychobiologe war in den 1930er-Jahren einer der ersten Wissenschaftler, die an der Schnittstelle zwischen Neurologie und Psychologie forschten. Hebb nahm Versuchstiere – Ratten – aus dem Labor für seine Kinder zum Spielen mit nach Hause. Als er die Tiere Wochen später wieder für Tests einsetzte, schnitten sie bei Problemlösungsversuchen viel besser ab als diejenigen, die im Labor geblieben waren. Warum? Die Nervenzellen in unserem Körper verständigen sich mittels elektrischer oder chemischer Signale. So gelangt das Gefühl ›Schmerz‹ von der Fingerspitze ins Gehirn, wenn wir uns an einem Kaktus stechen. Hebb erkannte 1949: Jeder neuronale Impuls ist nicht nur ein Signal, das passiv vom Nervensystem transportiert wird: Das Signal formt aktiv diese Systemstrukturen mit.

Diese Theorie zur Veränderlichkeit des Gehirns wies Eric Kandel in den Sechzigerjahren nach: Der vor den Nazis aus Österreich vertriebene US-Neurowissenschaftler bekam dafür viel später – 2002 – den Nobelpreis. Er forschte an einer Meeresschnecke, der Aplysia. So intensiv, dass Kandels Tochter für das Tier gar ein Gedicht schrieb. Die Aplysia ist einfach gestrickt: Ihr Nervensystem ist überschaubar und besteht aus Riesenneuronen, bis zu einem Millimeter groß. Aus seinen Schneckenversuchen schloss Kandel, dass Nervenzellen ihre Synapsen, also ihre Verknüpfungen, verändern, sie in Stärke und Anzahl variieren können. Das ist die Basis allen Lernens und Erinnerns. Und da jeder Mensch im Laufe seines Lebens unterschiedliche Erfahrungen mache, besitze das Gehirn jedes Menschen eine einzigartige Architektur, schreibt er in seiner Autobiographie ›Auf der Suche nach dem Gedächtnis‹.

Die Ratgeberbücher von Stacher und Hörtnagl empfehlen: Bei Unzufriedenheit solle man sein Gehirn einfach ›neu verkabeln‹, sich ›umpolen‹. In der Praxis, im Alltag hieße das, sich explizite Ziele zu setzen, negative Gedankenspiralen zu stoppen oder eingefahrene Denkmuster zu reflektieren, um sie schließlich zu durchbrechen und neu aufzusetzen. Auch auf das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung stützen sich die Autoren: ›Wer an freudige Dinge denkt, der wird fröhlich sein, schließlich lacht man ja auch nach einem guten Gag‹, heißt es bei Hörtnagl. ›Die Sache mit der rosaroten Brille hat schon was‹, bei Stacher. ›Gibt man sich – auch an üblen Tagen – glücklich, so suggeriert man das nicht nur seiner Umwelt, sondern auch sich selbst und fühlt sich happy.‹ Ratschläge, die aus ihrem wissenschaftlichen Kontext gerissen sind, der Theorie der Plastizität des Gehirns. Und die so die Bedingungen ausblenden, unter denen sie funktionieren können – oder eben nicht.

Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther schreibt seit rund 15 Jahren Lebensratgeber, die sich explizit auf die Neuroplastizität beziehen. Er rät seinen Leserinnen und Lesern dazu, sich selbst immer wieder neu in Frage zu stellen. Warum? Stammesgeschichtlich betrachtet hat ein Nervensystem die Aufgabe, Veränderungen der Außenwelt auszugleichen, die das Innere eines Organismus irritieren, schreibt Hüther in seiner ›Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn‹. Im besten Fall ist das Gehirn dauernd im Einsatz, ein Workaholic, wenn man so will. Und in einer Umgebung, die sich ständig wandelt, ist ein veränderungswilliges, leistungsfähiges Gehirn von enormem Vorteil.

Wird die Situation hingegen zu bequem, kann es sich dabei selbst abschaffen. Wie das Gehirn der Bandwürmer, berichtet Hüther. Dank eines ursprünglich einfachen Nervensystems, das sie sehr klar gute wie schlechte Existenzbedingungen erkennen ließ, erschlossen sie den idealen Lebensraum für sich: den Darm von Wirbeltieren. Dort waren sie bestens versorgt und – solange das Wirtstier am Leben blieb – völlig unbedroht. Genau deshalb aber verloren sie bald jegliche neurologische Fähigkeit – weil sie keine brauchten. Irritationen sind zwar lästig, aber lassen uns das Leben in einer größeren Bandbreite erfahren.

Im Einklang mit Hüther begreift der deutsche Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs das Gehirn als ein ›Beziehungsorgan‹. So auch der Titel seines Fachbuchs. Darin bestätigt er die sich selbst erfüllende Prophezeiung: Unsere Umwelt prägt unsere Gehirnstrukturen. Da diese Strukturen aber auch für die Wahrnehmung der Umwelt zuständig sind, wirkt die Beeinflussung auf unsere Reizverarbeitung zurück. Wie wir Erfahrungen machen und lernen, prägt unsere Art und Weise zu leben – und umgekehrt. ›Lebenslanges Lernen‹, das ständige Anpassen unserer Wahrnehmung und Denkmuster an die Gegebenheiten, ist also nicht nur Schlagwort einer sich selbst optimierenden Gesellschaft, sondern evolutionäres Prinzip.

Das zeigt sich gerade bei Notfällen: Die US-Hirnforscherin Jill Taylor erlitt 1996 im Alter von 36 Jahren einen Schlaganfall, eine Gehirnblutung. Dabei wird die Versorgung einer oder mehrerer Gehirnregionen mit Blut – und damit Sauerstoff – unterbrochen, was Nervenzellen beeinträchtigt oder sie absterben lässt. Taylor war imstande, sich selbst beim Verfall ihrer kognitiven Fähigkeiten zu beobachten – und dokumentierte dies später. Jahrelang arbeitete sie daran, ihr Gehirn wieder leistungsfähig zu machen. In ihrem Buch ›Mit einem Schlag‹ aus dem Jahr 2008 rät sie Menschen, die etwa nach einem Schlaganfall Probleme mit ihrer Riechfähigkeit haben, bewusst auf die Gerüche in ihrer Umgebung zu achten: ›Indem Sie häufiger bewusst darüber nachdenken, was Sie riechen, und sich auf den Akt des Riechens konzentrieren, werden die neuronalen Verbindungen gestärkt‹ – oder bilden sich neu, manchmal in dafür gar nicht vorgesehenen Gehirnregionen. Dabei gilt auch: Je mehr Aufmerksamkeit wir solchen Prozessen schenken, je länger wir uns mit bestimmten Gedanken befassen, desto weniger Stimulation brauchen diese Prozesse oder Gedankenmuster, um zu funktionieren, schreibt Taylor.

Das ist auch bei jedem Menschen, der Klavierspielen oder Maschinschreiben lernt, der Fall: Dabei ordnet man schließlich zuerst jeder Taste einen Ton oder Buchstaben zu, ›um dann die Finger nach und nach an diese Verknüpfungen zu gewöhnen, das heißt zugleich: sie wieder zu vergessen. Das implizite Können liegt nun »in den Händen«, und man kann nicht mehr sagen, wie man tut, was man tut‹, erklärt Thomas Fuchs. Das Klavierspielen oder Maschinschreiben funktioniert dann auch mit geschlossenen Augen. Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von einer ›Inkorporation von Erfahrung‹, dass die Erfahrung sich also in unseren Körper einschreibt, dort ihre Spuren hinterlässt. ›So wie Muskeln durch Übung wachsen, so wachsen oder degenerieren je nach Ausübung einer Funktion die für sie zuständigen neuronalen Netze.‹

Zu solchem ›Gehirntraining‹ wird häufig geraten, um im Alter geistig fit zu bleiben. Speziell entwickelte Computerspiele und mobile Anwendungen stärken dabei wohl die Fertigkeiten, die es für genau diese spielerischen Aufgaben braucht – dass es dabei aber auch zu sogenannten ›Transfereffekten‹ kommt, einem Leistungserhalt des Gehirns auch in anderen Bereichen, ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Was am ehesten für den Erhalt der Gesundheit des Denkvermögens spreche, seien die ›Langzeiteffekte eines gesunden, aktiven Lebensstils‹, heißt es im Neuroplastizitätshandbuch des MIT. Sprachenlernen und das regelmäßige Ausüben motorischer Fähigkeiten in Sport oder Musik – wie Klavierspielen – gelten als Klassiker des Gehirntrainings; ihre Effekte bestätigen auch die Forschung. Doch: Sie sind umkehrbar. Was nur aufs Neue bestätigt: Unser Hirn lässt sich formen und gestalten.

Deshalb sollten wir darauf achtgeben, welchen Erfahrungen wir uns aussetzen, welche Einstellungen wir annehmen. Stacher formuliert das als ›Lernen ist Leben – hören Sie nie damit auf‹, Hörtnagl kommt zum Schluss: ›Im Nachhinein gesehen lernt man mehr, wenn etwas eben nicht zu 100 Prozent geklappt hat.‹ Ihre Ratgeberbücher – Hörtnagls ist nicht zu empfehlen – mögen für manche Leserinnen und Leser den Zweck erfüllen, überhaupt auf dieses Phänomen aufmerksam zu werden: wie die Umwelt und unsere Einstellung zu ihr unser Denken prägt und unser Denken die Wahrnehmung der Umwelt.

Ihren Ratschlägen für ein erfüllteres Leben fehlt allerdings eine glaubwürdige und stabile Basis, die sie von einer heilsversprechenden Esoterik abgrenzt. Hüther liefert diese mit. Er empfiehlt nicht, sich selbst glücklich zu lächeln. Die gesunde Irritation ist es, die wirklich hilft. Etwa, indem man sich regelmäßig fragt: ›Ist mir das, was ich für besonders wichtig halte, wirklich so wichtig?‹

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