Agnieszka, Dorota, Justyna, Marta, Izabela, Agata, Anna. Die Namen springen mich sofort an, sobald ich die Demonstration nahe der Universität in Warschau erreiche. Eine Gruppe von Menschen hat sich mit Schildern auf dem Nikolaus-Kopernikus-Denkmal positioniert, auf denen sie zu lesen sind. Vor ihr versammelt sich eine Traube von Menschen fast aller Generationen, aller Geschlechter. Aus der Menschenmasse ragen ebenfalls Plakate mit den Namen der Frauen empor, manche Teilnehmende halten Fotos von den Gesichtern hoch, die zu den Namen gehören.
"Ani jednej więcej!" - keine einzige mehr! - rufen sie immer wieder. Die Demonstration an diesem Junitag wurde vom Tod einer Schwangeren in einem polnischen Krankenhaus ausgelöst, der 33-jährigen Dorota. Er hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn Ärzt:innen einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt hätten, um das Leben der Frau zu retten, nachdem ihr Mann sie wegen Komplikationen ins Krankenhaus gebracht hatte. Aber sie taten es nicht, ähnlich wie bei Agnieszka, Justyna, Marta, Izabela, Agata oder Anna vor ihr auch.
Rote Blitze sind auf Plakate, auf Taschen, auf Regenschirme, auf Hände und Gesichter gemalt - sie sind zum Erkennungszeichen der Frauenrechtsproteste in geworden. Die Demonstrierenden halten Schilder hoch, auf die Kleiderbügel gezeichnet sind, viele Menschen sind schwarz gekleidet. Anders als bei den Demonstrationen gegen das polnische Gesetz zum weitestgehenden Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen 2020, als Tausende Parolen gegen die nationalkonservative Regierung "Jebać PiS", Fuck PiS, skandierten, sind diesmal nur wenige Plakate mit Anti-PiS-Sprüchen zu sehen. Diesmal steht auf den Schildern: "Das hätte meine Tochter sein können!" Oder: "Wie viele Polinnen müssen noch sterben?" Oder: "Hört auf, uns umzubringen!" Diesmal rufen die Teilnehmer:innen immer wieder eine Nummer: 222-922-597. Hier können Schwangere anrufen, wenn sie nicht wissen, wie sie abtreiben sollen - oder im Krankenhaus sind und das Gefühl haben, dass etwas schiefläuft. Aktivist:innen kümmern sich dann etwa um einen Schwangerschaftsabbruch außerhalb von Polen.
Eine Notfallnummer, die man von da aus anruft, wo man eigentlich im Notfall Hilfe bekommen sollte: Das zeigt, wie fatal die Situation ist. Für Aktivist:innen ist es aber eine wichtige Errungenschaft, dass so viele Menschen sie kennen. "Es ist die drittbekannteste Nummer in Polen - direkt nach den Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr", sagt die führende Frauenstreikaktivistin Marta Lempart in einem Gespräch kurz vor der Demo. Das Fast-Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen und die damit verbundenen Proteste hätten paradoxerweise dazu geführt, dass die Möglichkeiten, für polnische Frauen abzutreiben, viel zugänglicher geworden seien - etwa in anderen Ländern wie Deutschland. Denn die Arbeit von NGOs habe stark an Bedeutung gewonnen.
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"Wir wollen Ärzte, keine Missionare!", "Mörder, Mörder", hallt es über den Platz am Kopernikus-Denkmal. Hinter der Menschenmasse prangt mächtig die Heilig-Kreuz-Kirche, so wie die katholische Kirche immer noch mächtig über der polnischen Gesellschaft wacht. Die Teilnehmenden strecken der Kirche den Mittelfinger entgegen. Dann skandieren sie weiter. Später ziehen sie vor das Gesundheitsministerium, auch ihm zeigen sie den Mittelfinger.
Die Wut bei den Protesten in diesem Jahr gilt aber nicht mehr allein der Regierung - und der Kirche. Sie gilt vor allem denen, die der Regierung gehorchen. Und der konservativen und patriarchalen Gesellschaft, die zu einem großen Teil an den Weltbildern der katholischen Kirche festhält. Sie gilt zum Beispiel Ärzt:innen oder Pfleger:innen, die wegen des Drucks durch Regierung und Kirche zögern, eine Schwangerschaft abzubrechen - selbst, wenn sie wie im Fall von Dorota überlebenswichtig für die Schwangere und damit legal gewesen wäre. Der Zorn gilt denen, die sich an das repressive System angepasst haben.
Ja, die Demonstrierenden sind wütend bei diesem Protest. Aber sie sind auch verzweifelt, und sie haben Angst. "Ich bin im vierten Monat schwanger - muss ich auch bald sterben?" Steht auf einem Schild geschrieben. Iga, eine Teilnehmerin mit einem schwarzen Regenschirm voller roter Blitze, erklärt mir: "Ich habe Angst um mich und um die Personen, die mir nahe stehen." Sie wolle zwar schwanger werden, aber sie wisse nicht, wem im Krankenhaus sie trauen könne. "Ich möchte gerne ein Kind haben, aber ich möchte mich sicher fühlen, wenn ich schwanger werde", sagt mir eine weitere Demonstrierende.
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