Herr Dollbaum, Sie haben zusammen mit Ihren zwei Kollegen Morvan Lallouet und Ben Noble ein Buch über Alexej Nawalny veröffentlicht. Haben Sie ihn dafür getroffen?
Jan Matti Dollbaum: Nein, die Idee für das Buch entstand erst Ende Januar, da war Nawalny nach seiner Rückkehr nach Russland bereits in Untersuchungshaft. Deshalb konnten wir nicht mehr mit ihm sprechen, sonst hätten wir auf jeden Fall Kontakt zu ihm aufgenommen. Ich habe zuvor mit Leonid Wolkow, einem engen Verbündeten von Nawalny gesprochen, und viele Unterstützerinnen und Freunde von ihm. Als wir es dann im Februar nochmal versucht haben, war daran nicht mehr zu denken – die Organisation von Nawalny, die Antikorruptionsstiftung FBK, war so beschäftigt mit den Verfahren, die gegen sie eingeleitet wurden. Ljubow Sobol, eine seiner engsten Unterstützerinnen, war da schon unter Hausarrest und durfte gar nicht mehr ins Internet.
Jan Matti Dollbaum
Foto: Aleksandra KaurinWarum haben Sie sich ausgerechnet dann entschieden, ein Buch über ihn zu schreiben?
Mein Kollege Ben Noble wurde mehrfach nach Leseempfehlungen zu Nawalny gefragt. Und da musste er immer sagen, dass es ein paar akademische Aufsätze gibt und viele journalistische Texte, aber keine lange Abhandlung, die das einem westlichen Publikum erklären würde. Und dann hatte er die Idee, das Buch selbst zu schreiben und hat Leute gefragt, die sich mit Nawalny beschäftigt haben. Ich habe mich zum Beispiel viel mit seiner Bewegung auseinandergesetzt.
In Ihrem Buch porträtieren Sie Nawalny als "komplexe politische Persönlichkeit." Viele sehen ihn als Helden, andere als einen Nationalisten. Welche Entwicklung hat er durchgemacht?
Einerseits hat er eine ziemliche Konstanz bewiesen. Er hatte, seitdem er auf die politische Bühne getreten ist, ein Ziel: mehr politischen Wettbewerb, funktionierende liberaldemokratische Institutionen in Russland und natürlich die Bekämpfung von Korruption. Was darum herum passiert ist, hat sich verändert, und da gibt es eine Entwicklung. In dieser Hinsicht ist Nawalny politisch flexibel. Er hat versucht, mit dem Nationalismus beliebt zu werden – in den 2000ern war das ein sehr virulentes Thema in Russland, weil es viel Migration aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien und dem Südkaukasus gab. Das fanden nicht alle gut, und das hat Nawalny dann versucht, für sich zu nutzen. Er hat sich zwar abgegrenzt von Gewalt und Rechtsextremen, aber er hat durchaus auch rassistische Parolen verbreitet. Inzwischen ist er auf andere Forderungen umgestiegen, auf ökonomische vor allem.
Das klingt nach Opportunismus.
Das ist eine Weise, es zu beschreiben, allerdings eine negativ konnotierte. Wir sagen, das kann man so beschreiben, muss man aber nicht unbedingt, weil aus seinem Handeln deutlich wird, was das Ziel dieser Sache ist. Aber klar – hätte man Nawalny vor 20 Jahren mit seinen aktuellen sozialpolitischen Forderungen konfrontiert, hätte er sie nicht unterschrieben. Gleichzeitig macht er auch deutlich, dass dieser "Opportunismus" nur eine Phase sein sollte, um ein breites Bündnis gegen den russischen Autoritarismus aufzubauen.
Sie schreiben, dass Nawalny sich bewusst darüber ist, eine Symbolfigur zu sein und mit dem Wissen nach seiner Vergiftung nach Russland zurückgekehrt ist, dass er verhaftet wird. Hat er sich vielleicht einfach überschätzt?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihm das klar war, oder er hat es zumindest als sehr wahrscheinlich eingestuft. Die russischen Behören haben ein deutliches Signal an Nawalny gesendet, er solle draußen bleiben. Und das hat er bewusst nicht gemacht, um zu zeigen, dass er sich dadurch nicht einschüchtern lässt. Die Bewegung, die hinter ihm steht, hat sich lange Jahre auf diesen Moment vorbereitet, in dem er nicht mehr aktiv eingreifen und durchs Land reisen kann. Es wurde eine sehr gut geölte Maschinerie aufgebaut, die auch kurzzeitig ohne den führenden Kopf funktionieren kann. Zuvor war Nawalny für eine kürzere Zeit auch immer mal wieder im Gefängnis, auch da musste die Bewegung irgendwie weiterlaufen.
Worauf war die Organisation von Nawalny nicht vorbereitet?
Dass die Behörden so repressiv gegen sie vorgehen, wie sie es jetzt getan haben. Ich könnte mir vorstellen, dass die Hoffnung bestand, die Bewegung weiterzuführen und nicht alle Regionalorganisationen zu verlieren und die Möglichkeit, diese aus Moskau zu finanzieren. Das ist jetzt passiert – und das geht wahrscheinlich weiter, als die Bewegung es einkalkuliert hat.
Was war der eigentliche Plan der Nawalny-Anhänger?
Eigentlich wollten sie über ihr Smart-Voting-System die Duma-Wahlen beeinflussen, also strategische Wahlempfehlungen geben, um möglichst oppositionelle Kandidaten in das Parlament zu bekommen. Dieses strategische System baut darauf auf, dass sie in den Regionen arbeiten können und dort herausfiltern, wer geeignet ist, eine Wahlempfehlung zu bekommen und dann auch entsprechend Werbung zu machen. Das ist möglicherweise eine Stufe der Repression, die sie unterschätzt haben.
Welche Auswirkungen wird das Verbot der Organisation noch auf die Duma-Wahlen im September haben?
Mit der Einstufung der Organisation als extremistisch geht auch ein Verbot für die Menschen einher, die sich in irgendeiner Form an der Nawalny-Bewegung beteiligt haben, sich selbst für Wahlen aufstellen zu lassen. Die Smart-Voting-Strategie hat immer zwei Komponenten: Wenn in einem Wahlkreis einer von der Putin-Partei "Einiges Russland" antritt und einer von der kommunistischen Partei, dann wird der von der kommunistischen Partei unterstützt. Wenn es in diesem Wahlkreis doch gelingt, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, der sich direkt mit Nawalny assoziiert, dann wird der unterstützt. Beide Möglichkeiten werden durch das harte Vorgehen gegen die Organisation schwieriger bis unmöglich. Nawalnys Websites sind blockiert worden, die Seite von Smart-Voting selber wird ständig angegriffen. Und dann können die eigenen Kandidaten nicht mehr aufgestellt werden. Dagegen wurde ja sogar ein Gesetz erlassen, das ganz offensichtlich nur auf Nawalny und seine Anhänger ausgerichtet ist.
Glauben Sie, dass das Verbot der Organisation, und alles was damit zusammenhängt, auch ohne seine Rückkehr nach Russland passiert wäre?
Es hat sicherlich eine Rolle gespielt, dass er erstens zurückgekommen ist und zweitens in einem bewusst inszenierten Manöver dieser Film über Putin und seinen Palast am Schwarzen Meer wenige Tage nach Nawalnys Festnahme erschienen ist. Kurz danach gab es im Januar die heftigen Proteste, zu denen für Russlands Verhältnisse sehr viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Das kann für die Behörden ein Zeichen gewesen sein, dass es da ein Potenzial gibt, was man möglichst jetzt unterbindet. Man kann nicht in die Köpfe gucken, aber es sieht danach aus, als sei das eine Eskalation gewesen, die der Kreml vermeiden wollte und die aus einer strategischen Fehlleistung resultiert ist.
Wie sehr braucht die Organisation wirklich den Kopf Nawalny?
Sie braucht ihn schon auf Dauer. Als Symbolfigur, als jemanden, der die Probleme der russischen Gesellschaft und Wirtschaft humorvoll zuspitzen kann. Und gleichzeitig als einen, der politische Handlungen inspirieren kann, in einer scheinbar aussichtslosen Situation. Darin ist er extrem gut, das sagen die Unterstützerinnen und Unterstützer, mit denen ich gesprochen habe. Die Strategen in Nawalnys Team sind größtenteils sehr geschickt und intelligent, haben aber kaum Charisma.
Er inszeniert sich selbst gerne als unbesiegbar. Was sind Nawalnys Schwächen?
Nawalny und seine Leute haben sich viele Feinde in ihrem eigenen liberalen Lager gemacht, eben durch diese Flexibilität, die man als Opportunismus bezeichnen könnte. Ein zweiter Punkt ist, dass Nawalny dazu neigt, cholerisch zu sein, auch gegenüber seinen Verbündeten in der Opposition und dort sehr stark ausgeteilt hat. Er streitet sich öffentlichkeitswirksam auf Twitter und beleidigt, wo sich manche fragen, ob man das wirklich von jemandem erwarten sollte, der sich ernsthaft auf das Präsidentenamt bewirbt. Man wirft ihm außerdem im Westen beispielsweise vor, dass er sich nicht für seine rassistischen Ausfälle entschuldigt hat. In dieser Hinsicht ist er auch ziemlich stur und es ist für ihn schwierig, Fehler zuzugeben.
Denken Sie, dass seine Anhänger noch weiter auf seine Haft reagieren werden?
Gerade haben sie viel damit zu tun, die Urteile zur Kenntnis zu nehmen, die gegen sie und Leute aus dem Team ausgesprochen wurden. Die Menschen gehen nach und nach ins Exil. Ich bin wirklich gespannt, ob sie noch ein Ass im Ärmel haben, um vor den Parlamentswahlen im September zumindest noch einmal Aufmerksamkeit zu wecken.
Das Gespräch führte Patricia Friedek.
Zur Person
Jan Matti Dollbaum ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa der Uni Bremen. Er forscht unter anderem zu Protestbewegungen in Osteuropa.
Info
Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet und Ben Noble: „Nawalny – seine Ziele, seine Gegner – seine Zukunft“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 288 Seiten, 20 Euro
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