Von Oliver Jensen
Jeder internationale Top-Klub sucht talentierte Verstärkungen. Doch beim Werben um die begabtesten Jugendspieler werden zunehmend Grenzen überschritten. Gelockt wird dabei mit Angeboten jeglicher Vorstellungskraft.
Alle Vereine suchen den nächsten Messi - und Karl-Heinz Rummenigge schlägt Alarm. Der Bayern-Boss sieht auf der Jagd nach dem nächsten Supertalent längst moralische Grenzen überschritten. "Wir wollen keine Zehn- oder Elfjährigen nach München holen wie die Engländer, bei denen man teilweise schon von 'Kidnapping' sprechen kann", warnte der Vorstandschef von Bayern München jüngst im Vereinsmagazin. Um ein weiteres Supertalent zu verpflichten, ignorieren europäische Topklubs bisweilen das Regelwerk. Zuletzt erhielten Real Madrid und Stadtrivale Atlético eine Sperre wegen eines Verstoßes gegen die Transferbedingungen minderjähriger Spieler. Auch in Deutschland ist die Jagd auf die Top-Talente ein Geschäft mit einigen Gewinnern, aber auch vielen Verlierern.
Der Talente-Klau beginnt meist bei den Amateurvereinen. Ein Beispiel: Der Hamburger Oberligist Altona 93 hat eine der größten Nachwuchsabteilungen Deutschlands. Rund 600 Kinder und Jugendliche sind in 30 Jugendmannschaften eingeteilt. Nationalspieler Jonathan Tah, Ex-Nationalspieler Christian Rahn und Schalke Profi Eric Maxim Choupo-Moting haben früher dort gespielt. Zeigt ein Jugendlicher Potenzial, wird er allerdings von der Konkurrenz weggeschnappt. Altona-Jugendleiter Wolfgang Oesert hat zwar Verständnis dafür, dass die größten Talente irgendwann zu einem Profiverein gehen. "Wenn wir aber einen E- oder F-Jugendlichen verlieren, weil ein Klub verfrüht und frühzeitig junge Talente an sich binden möchte, sind wir enttäuscht." Mittlerweile fast Alltag.
Meist wechseln Nachwuchstalente zunächst zu einem Profiverein aus der Region. Der Hamburger SV und der FC St. Pauli bieten sich für hanseatische Talente an. Oft aber sind auch diese Vereine nur eine Durchgangsstation. Ein Zweitligist wie der FC St. Pauli ist heutzutage nicht mehr in der Lage, die eigenen Talente zu halten. Alleine im Jahr 2015 verloren die Hamburger elf Nachwuchsspieler an die Konkurrenz. Zuletzt gingen U-17-Nationalspieler Sam Schreck (Bayer Leverkusen) und der erst 12-jährige Youssoufa Moukoko (Borussia Dortmund). Beide zählen zu den größten Talenten Deutschlands.
Ausweglose Situation für kleine KlubsGerne würde St. Pauli Sportchef Thomas Meggle solche Weggänge verhindern. Doch sieht er keine Möglichkeit dafür: "Das Problem ist, dass man Spieler in diesem Alter vertraglich nicht an den Verein binden kann." Jugendarbeit ist für ihn praktisch ein Zuschussgeschäft: "Man investiert Geld, ohne dafür etwas zurückzubekommen." Auch Ex-Profi Fabian Boll, der bis zum Sommer die U23 von St. Pauli trainierte, sieht kleinere Vereine in einer ausweglosen Situation: "Mannschaften wie VfL Wolfsburg oder Bayer Leverkusen können mehr bieten. Die haben ein Werk hinter sich, sodass der Vater vielleicht noch einen gutbezahlten Job bekommt. Die können eine ganze Familie versorgen."
Auch die Jugendlichen kassieren ordentlich ab. Laut Informationen der "Sport Bild" verdient Schreck in Leverkusen rund 40.000 Euro - und zwar im Monat. Die Ausbildungsentschädigung, die der FC St. Pauli für den Abgang von Schreck kassierte, soll hingegen nur rund 19.000 Euro betragen haben. Allerdings ist nicht zwingend davon auszugehen, dass Spieler wie Schreck und Moukoko nun für Jahre bei ihrem Verein bleiben. Jugendspieler wechseln genauso häufig wie die Profis. Ein Beispiel: Anfang 2012 gab's einen lauten Aufschrei, weil der erst 13-jährige Nico Franke von TeBe Berlin zur TSG Hoffenheim wechselte. Ein Jahr später ging er zu RB Leipzig, dann wieder zurück in seine Heimat zu Viktoria Berlin. Nun spielt er für die A-Jugend vom MSV Duisburg. Vier Wohnortwechsel innerhalb von viereinhalb Jahren - mit einer normalen Jugend hat das eher wenig zu tun.
Auch der VfL Wolfsburg zählt zu den Vereinen, die große Talente gerne früh zu sich holen. Nachwuchsleiter Fabian Wohlgemuth behauptet, ohne das Abwerben von Talenten wäre seine Jugendabteilung nicht konkurrenzfähig: "Es liegt in der Natur der Sache, dass in Hamburg zum Beispiel ein weitaus größeres Potenzial an jungen Fußballern heranwächst als in einer eher kleinen Fußballwiege wie Wolfsburg. Der VfL muss das Talente-Scouting großräumiger gestalten."
Finanzkraft und Youth-League als FaustpfandTop-Vereine bieten nicht nur finanzielle Anreize. Auch die Möglichkeit, international zu spielen, ist für Nachwuchstalente attraktiv. Im Jahre 2013 wurde die Uefa Youth League eingeführt. Teilnehmen dürfen die A-Jugendmannschaften der Vereine, dessen Profis sich für die Gruppenphase der Champions League qualifiziert haben. Jugendtrainer Hagen Schmidt nahm vergangene Saison mit dem VfL Wolfsburg daran teil. Für seine Spieler sei das eine lehrreiche Erfahrung gewesen: "Man trifft auf andere Gegner mit anderen Mentalitäten. Das Tempo ist viel höher, der Fußball viel robuster."
Auch hier stellt sich allerdings die Frage: Ist die Belastung für einen 18-Jährigen, der möglicherweise auch sein Abitur machen möchte, gesund? Schmidt erzählt: "Auch wenn die Jungs nach einem Auswärtsspiel erst nachts um drei Uhr wieder zurück sind, fällt nächsten Tag nicht die Schule aus." Er sieht die Doppelbelastung von der positiven Seite: "Das ist eine neue Erfahrung, die dem Profifußball sehr nahe kommt und somit ein weiterer Ausbildungsbaustein für unsere Jungs ist."
Selbst innerhalb des Profifußballs wird die Entwicklung häufig kritisch gesehen. Jürgen Gelsdorf war zehn Jahre Nachwuchsleiter von Bayer 04 Leverkusen, nun ist er Fußballabteilungsleiter. Gerne erinnert er sich an die Zeiten zurück, in denen die Talente über Jahre bei einem Verein blieben. "Früher gab es ein Gentlemen's Agreement, dass ohne Zustimmung innerhalb Deutschlands kein Spieler von Leistungszentrum A zu Leistungszentrum B wechselt", sagt der frühere Bundesligaspieler. "Die Engländer haben das eines Tages aufgebrochen und die Spieler in Deutschland kommentarlos und ohne Entschädigung weggenommen. Dadurch haben auch die ersten deutschen Vereine damit angefangen."
Mehr zum Thema Dennis Krol als mahnendes BeispielHeutzutage spielt jeder Verein dieses Spiel mit - auch Bayer Leverkusen, wie das erwähnte Beispiel Sam Schreck beweist. Doch sieht Gelsdorf es kritisch, wenn bereits 12-Jährige in eine andere Stadt transferiert werden. Seine Meinung: "In diesem Alter lässt sich überhaupt nicht voraussehen, ob jemand das Potenzial für eine Profikarriere hat." Als Paradebeispiel gilt die Geschichte von Dennis Krol. 2005 wechselte er im Alter von 14 Jahren von Leverkusen zum FC Barcelona. Gelsdorf hält es für bedenklich, wenn eine ganze Familie wegen des Fußballs in das Ausland verfrachtet wird: "Die Eltern arbeiten oftmals nicht mehr und warten lediglich darauf, dass sich der Junge zum Profi entwickelt."
Glücklich wurde Krol in Barcelona nicht. Dreieinhalb Jahre später kehrte er nach Leverkusen zurück - nicht als Jungstar, sondern als Abgehängter.Den Anschluss an die Spitzenspieler seiner Altersklasse fand er nicht mehr. Heute spielt er beim ASV Mettmann in der sechsklassigen Landesliga Niederrhein. Es ist nur ein Beispiel dafür, wie ein verfrühter Vereinswechsel eine hoffnungsvolle Karriere zerstören kann - viele weitere dürften folgen.
Quelle: n-tv.de
Themen