Die durch Nuklearunfälle verursachte hohe Radioaktivität belastet im russischen Uralgebiet Mensch und Umwelt noch nach Jahrzehnten. Unterstützung vom Staat bekommen die Betroffenen wenig. Vieles deutet darauf hin, dass es dort erst kürzlich einen neuen Zwischenfall gegeben hat.
Georgi Kowalischin stand im Hof seiner Kaserne in Nowogorny, einem Städtchen im russischen Südural, bereit für den Abendappell. Der Himmel über dem jungen Soldaten leuchtete, aber nicht wie ein gewöhnlicher Sonnenuntergang. Kowalischin, im dritten Jahr seines Armeedienstes, schob den Kopf in den Nacken und sah Rot- und Lila-Töne - auffällig farbenfroh wie orthodoxe Zwiebeltürme. Das war am 29. September 1957, einem Sonntag. Kowalischin kann sich noch genau erinnern. Einige glaubten, sie sähen Polarlichter. Doch beobachteten sie kein Naturphänomen, sondern ein von Menschenhand verursachtes Unglück. Davon sollten die Einwohner im Ural jedoch erst viel später erfahren.
Ein verseuchter Fluss"Seht mal", habe ein Kamerad gerufen, erzählt Kowalischin, "in Tscheljabinsk-40 ist etwas passiert!" Tscheljabinsk-40 hiess die geheime Stadt, wenige Kilometer nördlich von Kowalischins Stützpunkt. Dort begannen in den späten vierziger Jahren Forscher mit der Produktion von Plutonium für die erste sowjetische Atombombe. Der Ort war Sperrgebiet, versteckt in Birken- und Fichtenwäldern. Erst viel später bekam die Stadt einen richtigen Namen: Osjorsk. Die Atomfabrik hiess Majak. Der Rüstungswettlauf des Kalten Krieges forderte schnelle Erfolge, die Sicherheit blieb auf der Strecke. Drei schwere Zwischenfälle kontaminierten die Region auf Jahrzehnte.
In den ersten Jahren der Atomfabrik wurden von dort nukleare Abfälle in den schmalen Fluss Tetscha geleitet. Dorfbewohner entlang des Flusslaufes erkrankten an Krebs, chronischer Strahlenkrankheit oder erlitten Fehlgeburten. Die Behörden evakuierten mehrere Dörfer am Ufer, aber nicht alle. Den zweiten Störfall hatte Kowalischin vom Kasernenhof aus beobachtet. An einem Tank, in dem 80 Tonnen hochradioaktiver Abfall lagerten, zum grössten Teil Caesium-137 und Strontium-90, fiel das Kühlsystem aus. Zuerst verdampfte Kühlflüssigkeit, dann genügte ein kleiner Funke eines defekten Kontrollgerätes, um eine mächtige Explosion auszulösen. Sie zerriss den Behälter und schoss radioaktive Partikel bis zu tausend Meter hoch in die Luft, die auf einer Fläche von 40 mal 300 Kilometern nordöstlich der Anlage niedergingen. Wieder wurden Menschen evakuiert, Häuser abgerissen. Es war der erste grosse Unfall in der Geschichte der Atomenergie.
Der dritte schwere Störfall ereignete sich im Frühjahr 1967: Am Karatschai-See, der als nukleare Müllkippe diente, trocknete während einer Dürre Schlick am Ufer aus, daraufhin blies starker Wind radioaktiven Staub ins Umland. Betroffen waren Zehn- oder gar Hunderttausende; genaue Informationen gibt es nicht. Auch heute belastet das nukleare Erbe der Sowjetunion die Region und ihre Bewohner.
Kowalischin erfuhr bereits wenig später, was es mit dem Himmelsleuchten von 1957 auf sich hatte, allerdings "nicht offiziell", wie er erzählt, sondern von Leuten, die aus dem Unglücksort nach Nowogorny kamen. Doch dies waren nur Gerüchte. Das Schweigen offizieller Stellen war undurchdringbar wie die Mauern des Kremls. Wann genau Kowalischin erstmals offizielle Informationen erhielt, kann er nicht mehr sagen.
Der heute in Kyschtym bei Osjorsk lebende Rentner ist 82 Jahre alt, ein kleiner Mann mit weissem Resthaar, weichem Blick und festem Handschlag. Es dauerte bis zur Perestroika und darüber hinaus, bis die Betroffenen von den Behörden die Wahrheit und eine geringe Entschädigung erhielten. Bis heute sind die Vorfälle im Ural wenig bekannt. Im Vergleich zu Tschernobyl und Fukushima hört man viel weniger von Majak, Osjorsk oder Tetscha.
Geheimniskrämerei des StaatesKürzlich rückten die vergessenen Katastrophen allerdings wieder etwas stärker ins öffentliche Bewusstsein, als ein möglicher neuer Vorfall aufschreckte. Im September bemerkten europäische Messstationen erhöhte Werte des radioaktiven Ruthenium-106. Sofort führte die Spur in den Südural. Der staatliche Atomkonzern und Majak-Betreiber Rosatom erklärte alle Berichte über ein Ruthenium-Leck für unbegründet. Die Präsidialverwaltung in Moskau gab sich ebenfalls unwissend.
Das Vorgehen weckte Erinnerungen an die Informationspolitik zu Sowjetzeiten. Selbst als der russische Wetterdienst die höchste Konzentration in einem Dorf unweit der Atomfabrik mass - 986 Mal höher als zulässig -, beharrte Rosatom darauf, dass es "keinen Zwischenfall und keine Panne" gegeben habe. Alle Anlagen arbeiteten routinemässig, alles sei sicher, hiess es. Was zu den hohen Ruthenium-Werten führte, wird weiter untersucht. Umweltschützer vermuten eine Panne bei der Wiederaufarbeitung von atomaren Abfällen. Sie fordern Aufklärung - und die Schliessung der Anlage Majak. Die Bewohner der Region wünschen sich vor allem mehr Hilfe von den Behörden im Alltag. Wie leben sie in der verseuchten Region?
Kowalischin schickte man damals als "Liquidator" an einen See, wo er kontaminierte Erdschichten abgrub. Später, sogar als sein Militärdienst endete, baute er einen Damm, der Dörfer vor der Tetscha schützen sollte. "Ich wusste, dass die Arbeit gefährlich war", sagt der alte Mann, "aber ich hatte keine Angst." Ausserdem zahlte ihm sein Vorgesetzter unter der Hand etwas hinzu, Kowalischin verstand dies als eine Art Ausgleich für die harte Arbeit.
Auf staatliche Kompensation musste er indes fast vierzig Jahre warten. Erst 1994 erhielt er eine Anerkennung als "Liquidator" und eine Zusatzrente von umgerechnet 40 Franken pro Monat. Vor 15 Jahren erlitt er einen Herzinfarkt, später einen Schlaganfall. Er durfte zur Erholung ins Sanatorium. Immerhin sind seine Blutwerte so weit in Ordnung. Das wenige Geld könne den Verlust der Gesundheit nicht kompensieren, kritisiert er mit Blick auf seine ehemaligen Militärkameraden, die mehr Strahlung abbekamen und früh starben.
Dass der Staat seine Bürger nicht genug unterstützt, ärgert auch Tatjana Klewzowa. Der Zufall hat sie in den Ural verschlagen. Geboren wurde sie 1941 in Woronesch, in Westrussland. Als ihre Tochter in den achtziger Jahren als Tierärztin in einer Sowchose in Brodokalmak arbeiten sollte, zogen die Eltern mit. Aus allen Orten der Sowjetunion wählte das Schicksal ausgerechnet das winzige Brodokalmak. Klewzowa arbeitete als Melkerin in dem Landwirtschaftsbetrieb. Die Jahre auf dem Hof haben ihre Unterarme gebräunt und tiefe Falten ins Gesicht gegraben. Sie hoffte einst, das Klima im Ural werde ihrem Mann mit seinem Lupus-Leiden guttun. Von der Radioaktivität ahnte Klewzowa nichts. "Als wir herkamen, waren wir froh, dass es gute Spitäler gab. Wir freuten uns über den Fluss vor der Tür und wussten nicht, dass das Wasser kontaminiert war."
Klewzowa lebt nicht weit vom Ufer der Tetscha in einer Zweizimmerwohnung in einem niedrigen Plattenbau, dem ehemaligen Verwaltungstrakt der Sowchose. Drinnen stehen Fotos des verstorbenen Ehemannes neben goldenen Ikonen. Draussen schreitet der Niedergang voran, seitdem der Landwirtschaftsbetrieb 2005 schloss. Die Strasse zwischen den Betriebsgebäuden sind nicht asphaltiert. Die Kühe mögen den Matsch.
Das Vieh weidet am Fluss. Anwohner fischen darin, sammeln Pilze und Beeren am Ufer. Das ist verboten, doch nicht jeder hält sich daran. Vereinzelt gibt es Warnschilder, aber sie sind meist verrostet oder verblichen. Auf den Tisch kommt, was im Gemüsegarten wächst. Die geringen Löhne auf dem Land lassen den meisten keine andere Wahl. Die Gefahr ist noch da, die Leute haben sich jedoch arrangiert.
Klewzowa leidet an Herzproblemen, Bluthochdruck, Diabetes und Gastritis. Eine Teebox auf dem Küchentisch dient als Hausapotheke. Sie leert den Inhalt auf die klebrige Plastic-Tischdecke: Sechs Präparate muss sie regelmässig einnehmen. "Ich war gesund und stark, als ich hierherzog", klagt sie. Nach zehn Jahren begannen die Probleme. Schon als sie von der Strahlung erfuhr, wollte sie wegziehen. Doch dann zerfiel die Sowjetunion und mit ihr Klewzowas Hoffnung. Ihr fehlten die Mittel, anderswo ein neues Leben anzufangen. Klewzowa blieb und schimpft. "Hier sitzen wir nun in dieser Sauerei!"
Sie beobachtet, wie Nachbarn kaum älter werden als 50. "Sie sterben an Krebs, Krebs, Krebs." Die einst gute medizinische Versorgung sei heute schlecht. Es falle ihr schwer, Medikamente zu kaufen, seitdem die Apotheke im Dorf geschlossen ist. Die Rentnerin schrieb Briefe an die Behörden: "Wir sterben! Helft uns zu überleben!" Inzwischen sagt sie bitter: "Man hat uns aufgegeben." Ihr letztes Schreiben liegt ein paar Jahre zurück. Sie denke nicht mehr an sich, sondern an die Kinder, die zu jung seien, um hier zu leben.
Von der Polizei eingeschüchtertRustam Muchamedjarow kennt die Schicksale der Bewohner in Brodokalmak. Der junge Arzt mit den braunen Augen hinter dünnen Brillengläsern arbeitet als Allgemeinmediziner in einer kleinen Praxis im Ort. Als Notarzt betreut er in der Umgebung fast 9000 Menschen. Er habe auffällig viele Fälle von Magen-, Kehlkopf- oder Lungenkrebs zu behandeln, sagt er. Die Zahl der Erkrankten steige. Der 1982 geborene Muchamedjarow stammt aus einem nahen, ebenfalls an der Tetscha gelegenen Dorf, dessen Einwohner erst vor zehn Jahren umgesiedelt wurden. Im Kindesalter ist er noch in der Tetscha geschwommen.
Muchamedjarow ist nicht nur Mediziner, sondern war ausserdem Abgeordneter der Dorfverwaltung. Gemeinsam mit anderen Aktivisten rief er vor drei Jahren die Einwohner benachbarter Dörfer zusammen. Sie wollten von Rosatom und der Gebietsverwaltung eine Umsiedlung fordern. Es kam anders. "Jeder erhielt eine Vorladung der Polizei", erinnert sich Muchamedjarow. Die Beamten bezichtigten die Aktivisten, ausländische Agenten zu sein. Nur wenn sie ihre Arbeit beendeten, wurden sie belehrt, werde man nicht gegen sie vorgehen.
Die Drohung wirkte. Keiner sei mehr aktiv, sagt Muchamedjarow bedauernd, alle hätten Angst. Den Wunsch, etwas zu verändern, spürt er noch immer, aber es sei unmöglich, etwas zu unternehmen. Die Behörden wollen Investoren in die Region locken und behaupten deswegen, alles sei in Ordnung. Muchamedjarow kann darüber nur lachen. "Wir leben an der Tetscha", sagt er, "das ist keine saubere Gegend."