1 subscription and 5 subscribers
Article

Lippenbekenntnisse unter Autokraten

Es ist noch nicht lange her, da standen Putin und Erdoğan kurz davor, Krieg gegeneinander zu führen. Jetzt zelebrieren sie ihr inniges Verhältnis. Weil es beiden nutzt.


Es ist noch nicht lange her, da standen Putin und Erdoğan kurz davor, Krieg gegeneinander zu führen. Jetzt zelebrieren sie ihr inniges Verhältnis. Weil es beiden nutzt. St. Petersburg steht für die Orientierung Russlands nach Westen. Keine andere russische Stadt besitzt diese Symbolkraft: Peter der Große ließ Sümpfe trockenlegen, um sich ein "Fenster nach Europa" zu bauen. Das war im Jahr 1703. Im Sommer 2016 ist die Zarenstadt zum gegenteiligen Symbol geworden. Sie wird nun, für eine Weile zumindest, mit der Abkehr vom Westen in Verbindung gebracht.

Russland entfernt sich schon länger, zuletzt beschleunigt von Ukraine-Krieg und Krim-Annexion. Jetzt sendet auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Zeichen an seine bisherigen Partner. Und zwar, dass sein Land ihnen, zumindest ein Stück weit, den Rücken kehrt.

Der erste Auslandsbesuch des türkischen Präsidenten nach dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli führte ihn nämlich nicht in die Europäische Union, deren Nähe er jahrelang gesucht hat. Erdoğan flog auch nicht in die USA, immerhin stellt sein Land im gemeinsamen Nato-Bündnis nach Amerika die zweitgrößte Streitmacht.

Stattdessen hieß es: St. Petersburg statt Brüssel. Putin statt Merkel, Obama & Co.

Mit den westlichen Regierungschefs fremdelt der Präsident spätestens seit dem Putschversuch. Kurz vor Abflug in den Norden diktierte Erdoğan Journalisten noch einmal seine Enttäuschung über die alten Freunde in den Block: Der Westen habe unzureichend auf den Putschversuch reagiert, sich sogar auf die Seite der Putschisten gestellt. Erdoğan missfallen auch die Ermahnungen an demokratische Standards, wie sie unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrfach wiederholte. Zudem vermisst der Präsident Solidarität. Seit dem Putschversuch ist kein EU-Außenminister in die Türkei gereist. US-Außenminister John Kerry plant einen Besuch erst Ende August. "Zu spät", findet Erdoğan. "Das macht uns traurig."

Vom Krieg zur Partnerschaft

Umso freundlicher ist das Verhältnis zu Putin - neuerdings. Im barocken Konstantinpalast, der Residenz des Präsidenten mit Blick auf den finnischen Meerbusen, war am Dienstag im Fernsehen viel freundliche Gestik und entspannte Sitzhaltung zu sehen. Allerdings, erklärte ein Reporter anschließend, sei auch ein wenig Anspannung zu spüren gewesen.

Kein Wunder, schließlich ist es noch nicht lange her, da standen Putin und Erdoğan kurz davor, Krieg gegeneinander zu führen. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei war das Verhältnis vergiftet. Putin nannte den Vorfall einen "Dolchstoß". Aus Partnern wurden binnen Augenblicken Feinde, die politische und wirtschaftliche Beziehungen abbrachen. Erst die Entschuldigung Erdoğans bei der Familie des getöteten Piloten und dann der Putschversuch brachten beide Seiten wieder zusammen.

So haben sich Putin und Erdoğan im vergangenen Jahr nicht weniger als einmal um 360 Grad gedreht. Genauso plötzlich wie ihr Hass ausbrach, zelebrierten beide nun ihre Freundschaft.

Das heikle Thema Syrien wurde ausgespart

Erdoğan dankte Putin, dass er rasch zum Telefon griff, als der türkische Präsident den Aufstand in seinem Land abwenden konnte. Und dass er Unterstützung versprach. Das habe "unser Volk glücklich gemacht", so der türkische Präsident. Glücklich dürfte er auch darüber sein, dass Putin nicht die aktuell tausendfache Entlassung von Soldaten, Richtern und Beamten kritisiert. In Russland traf Erdoğan vielleicht sogar sein Vorbild, was den Staatsumbau und die Konzentration der Macht auf seine Person betrifft.

Erdoğan verkündete in St. Petersburg sogleich, er wolle die Demokratie in der Türkei stärken. Putin sprach von der Hoffnung, dass die türkische Führung die Verfassungsordnung wieder herstellen könne. "Wir sind immer gegen verfassungswidrige Handlungen gewesen", sagte er. Lippenbekenntnisse unter Autokraten.

Der türkische Premier wiederholte außerdem, was er schon vor dem Besuch über die Medien hatte ausrichten lassen: Das Treffen sei ein "Neuanfang" und eine "neuen Ära" in den Beziehungen zu "Freund Wladimir". Der Besuch nicht weniger als "historisch". Im Interesse beider Länder und ihrer Bürger wolle man wieder auf das freundschaftliche Niveau der Vorkrisenzeit zurückkehren, erklärten beide Staatschefs. "Unsere Länder verlangen eine Wiederherstellung der guten Beziehungen", so Russlands Präsident. Drei Stunden sprachen Putin und Erdoğan miteinander, erst unter vier Augen, dann im Beisein von Ministern und Wirtschaftsvertretern.

Wirtschaft statt Politik

Heikle Themen sparten die Staatschefs bei ihrem Wiedersehen zunächst aus. Insbesondere bei der Lösung des Syrien-Konfliktes und der Frage nach der Zukunft von Präsident Baschar al-Assad liegen die Vorstellungen weit auseinander. Sie seien "nicht immer einer Meinung", bemühte Putin diplomatische Worte, deshalb wollte man erst später, gemeinsam mit den Außenministern, darüber sprechen.

Stattdessen ging es bei der ersten Begegnung nach monatelanger Funkstille vorerst um die Wirtschaft. Milliardenprojekte wurden eilig wiederbelebt. Verhandelt wird wieder über die Pipeline Turkish Stream, die russisches Erdgas durchs Schwarze Meer in die Türkei und von dort nach Europa pumpen soll. Transitländer wie die Ukraine und Belarus (Weißrussland) will Russland so umgehen. Russland baut das erste türkische Atomkraftwerk. Auf türkischer Seite freut sich vor allem die Tourismusbranche. Zuletzt kamen fast 90 Prozent weniger Reisende aus Russland an die Strände im Süden. Türkische Lebensmittelproduzenten hoffen auf das Ende des von Moskau verhängten Importstopps. Zwei kriselnde Volkswirtschaften sehnen sich nach etwas Linderung.

Politisch nützt das Wiedersehen der vermeintlich verlorenen Brüder vor allem Putin. Er profitiert von der Verstimmung zwischen Erdoğan und seinen westlichen Partnern. Schließlich gewinnt Moskau an Bedeutung und nähert sich seinem Traum, wieder eine Weltmacht zu sein. Hinzu kommt: Jeder Riss in der EU, in ihren Beziehungen zu Washington oder anderen engen Partnern, schwächt den Druck der westlichen Koalition gegen Russland. Das gilt einerseits politisch, noch mehr aber wirtschaftlich, Stichwort Sanktionen.

Das schlechte Verhältnis zum Westen eint die beiden Partner. Russland und die Türkei seien trotz ihrer Rivalität über Jahrhunderte zwei große Mächte, erklärt Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow, "die historisch, kulturell und geografisch mit einem Europa verbunden sind, das sie nie voll akzeptieren werden". Einst hätten Putin und Erdoğan versucht, ihre Länder näher an Europa heranzurücken. Heute stecke die europäische Integration dagegen in einer strukturellen Krise und habe stark an Einfluss in der Welt verloren. Moskau und Ankara wollen davon nun profitieren.





Original