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Kanadas wilder Westen: Was ist schon ein Grizzly im Garten? [1]

© Ole Helmhausen Das Glück der Menschenleere: Wer weder Angst vor Einsamkeit noch vor wilden Tieren hat, wird das Cariboo Plateau in British Columbia als Idyll empfinden.

Man schreibt das Jahr 1861. Als die Gründer-Brüder aus Pennsylvania am Fraser River für einen Sack Kartoffeln satte zwanzig Dollar hinblättern müssen, lassen sie den Goldrausch in Barkerville sausen, kaufen oben auf dem Cariboo Plateau und unten im Canyon Land und werden Farmer. Ihre Nachkommen heiraten Indianerinnen und die Töchter deutscher Siedlernachbarn. Aus dem „ü" wird ein „i", und während der nächsten Jahrzehnte züchten die Grinders Rinder und Pferde, schlagen Vieh- und Waggontrails durch die Wildnis und bauen Straßen. Heute begegnet man in der Gegend rund um Clinton alle Nase lang einem Grinder. „Darum sind wir also hier", grinst Roy Grinder sein zahnloses Lächeln, „wegen eines Sacks Kartoffeln."

Roy, gertenschlank und kerzengerader Gang, ist einer der letzten echten Cowboys zwischen Cache Creek und 70 Mile House. Sein erstes Rodeo bestritt er mit dreizehn Jahren, sein letztes mit 63. In diesem halben Jahrhundert auf Pferde- und Bullenrücken hat er sich, wie er sagt, sämtliche Knochen gebrochen, das linke Handgelenk gleich sieben Mal - in einer einzigen Saison. Roy haust in einer sympathischen Bruchbude mit wild wucherndem Garten und einer Pferdekoppel mit einer schönen braunen Stute darin. Der Blick von seinem Haus fällt auf den mächtigen Fraser River, der einhundert Meter tiefer in weiten Schlingen zum Pazifik mäandert. Gleich hinter Roys Haus recken sich die Canyonwände zum 2300 Meter höheren Plateau empor. Nach Clinton, neben der so luxuriösen wie einsamen Echo Valley Guest Ranch auf dem Plateau die einzige Ansammlung von mehr als zehn Menschen weit und breit, sind es fünfzig Minuten Holperstrecke durch enge Täler und Schluchten. Roy fährt zum Einkaufen dorthin. Oft, wie er sagt. Einmal im Monat, erklärt er auf Nachfrage, und dabei entgeht ihm völlig, dass dies in fremden Ohren merkwürdig klingt.

Kein Stress, keine Sorgen, keine Angst

Roys Canyon ist so spektakulär, dass es einen wundert, ihn in keiner einzigen Broschüre zu sehen. Wer es indes bis zum alten Cowboy hinunter geschafft hat, ahnt, warum das so ist. Die High Bar Road, wie die meisten Wildnisstrecken hier ein Grinder-Werk und Roys einzige Verbindung zum Rest der Welt, ist nicht wirklich eine „road". Es ist eine rauhe Piste, deren loser Schotter hart gegen die Radkästen prasselt, der die Räder in den engen Serpentinen durchdrehen und den Wagen schwimmen lässt. Oben auf dem Plateau warnen Schilder nicht umsonst in fetten Buchstaben: „Danger! Extremely steep and narrow road. Not recommended for public use!" Sie zu teeren war nie Thema. Zu teuer, zu wenige Anwohner. Zu Roy würde das auch nicht passen.

Der Cowboy, der als kleiner Junge mehr als hundert Meilen weit reiten musste, um streunende Rinder zu finden, weil es damals keine Zäune gab, gehört zu dieser kraftvollen Landschaft im entlegenen Innern von British Columbia wie die Salbeibüsche und das Grasland auf dem Plateau. Gerade hat er einen frischgebackenen Brotlaib aus dem Ofen gezogen, jetzt geht er nach seinen Tomaten hinter dem Haus schauen. Er blinzelt in die Sonne und reckt sich, dass es beängstigend knackt. Die Stute wiehert leise, ein warmer Wind weht durch den Canyon. Roy lächelt. Das ist seine Welt. Ein zeitloser Kosmos, unberührt von Stress, Geld- und Zukunftssorgen. Roys Prioritäten sind unmittelbarer. „Hier draußen sind wir alles. Gärtner, Hufschmied, Tischler, Klempner, Elektriker, Schweißer. Und Bäcker. Daran hat sich seit der Sache mit den Kartoffeln nichts geändert."

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