Das Dilemma ist so alt wie die Menschheit selbst: Ohne Berührung gehen wir ein wie verkümmerte Pflanzen. Und zu viel und zu heftige Berührung fügt uns Schmerzen zu oder endet gar tödlich. Dumm gelaufen? Nein, sagt Elisabeth von Thadden in ihrem Buch „Die berührungslose Gesellschaft". Ein Balanceakt sei das Ganze zwar, einer, der Mut abverlange, aber auch einer, der zu meistern sei.
Die Journalistin Elisabeth von Thadden begibt sich auf eine Suche nach dem Mittelweg. Was bewirken Berührungen im Menschen? An welcher Stelle fehlen sie - und wem können sie schaden? Sie sucht die Antworten.
Ihr Buch gleicht einer Entdeckungsreise. Von einer Reklame für Seife am Bahnhof Jena Paradies, die der Haut „Schutz" verspricht, pendelt von Thadden nicht nur regelmäßig zwischen Jena und ihrem Arbeitsplatz in Hamburg. Sie trifft auf ihrer Reise auch den Tastsinnforscher Martin Grunwald, Gründer des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung Leipzig, sie blickt in die Sexualwissenschaft und die Altenpflege.
Es geht um räumliche Enge, die passé ist, um Beinfreiheit, um das Paradox von Einsamkeit und Freiheit in der Großstadt, ums Berühren kalter, glatter Smartphone-Oberflächen und um Selbstoptimierung, die uns bisweilen zerfrisst. Dabei schafft sie es, dieses Kapitel abzuhandeln, ohne im hoffnungslosen Kulturpessimismus zu enden. Chapeau!
Gleich zu Beginn also wird klar: Der Mensch kann nicht ohne die Nähe idealerweise eines anderen Menschen existieren. Dieser Satz wiederholt sich einem Mantra gleich. Dabei liest sich das Buch erfrischend kurzweilig - selbst Passagen, die sich der Rechtsgeschichte widmen.
Die Autorin schreibt nicht für ein allzu verkopftes Publikum, sondern versucht auch diejenigen zu erreichen, die Hartmut Rosas 800-seitiges Manifest „Resonanz" nicht sowieso schon durchwälzt haben. Doch sie kriegt die Kurve: Das Lesen ihres Buches macht Spaß, ohne dass es in die glatt gebügelte Popkultur abdriftet. Mit einem ganz leicht durchschaubaren Kniff macht von Thadden das Sachbuch vor allem eines: nahbar.
Mit Liedtexten von Pink Floyd oder deutschen Singer-Songwritern untermalt sie ihre Theorien genauso wie mit kurzen Analysen literarischer Bestseller: etwa mit John Greens „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" oder mit der Dystopie „Qualityland" des Känguru-Autors Marc-Uwe Kling, dessen Protagonisten sie unter anderem in engen Zusammenhang mit Rosas Resonanztheorie stellt. Die besagt, so von Thadden, dass der Mensch berührbar ist und berühren kann - den Entfremdungen der Moderne zum Trotz, „die alle und alles zum Ding machen will". Dabei geht es um die Fähigkeit zu Wechselbeziehungen, das Zusammenspiel von gefühlsbegabtem Agieren und Reagieren.
Auch wenn das Buch an manchen Stellen ausführlicher hätte sein können, schafft es die Autorin, neugierig zu machen - auf den Pfeife rauchenden Tastsinnforscher, auf das Schaffen des Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch, auf die Theorien des Soziologen Hartmut Rosa.
Überdies setzt sie einen Prozess der Selbstwahrnehmung in Gang: Wie nah darf mir mein Hintermann an der Supermarktkasse kommen? Welchen Teil von mir gebe ich in welcher Beziehung preis? Was regt die glatte Oberfläche meines Smartphones in mir an? Und warum versteht mein Patenkind nicht, dass ich die Pommes Frites, die es mir via Skype-Videocall anbietet, nicht essen kann?
Weil die Berührung fehlt - und zwar die gegenseitige. Das, was der zweijährige Kinderkopf noch nicht begreifen mag, was ihn in schiere Verzweiflung bringt, ist aber vielleicht gerade der Punkt, der uns davor bewahren kann, eine Gesellschaft der Berührungslosen zu werden: „Die Angst, dass nichts mehr einen berührt, weil alles gleichgültig ist, hält sich mit der anderen Angst, dass die Berührung zu stark, gar gewalttätig ist, die Waage, und während man sich öffnet, ist Verletzung zum Greifen nah", erklärt Thadden. Und bleibt ganz optimistisch: „Nur der offene Mensch ist nahbar, offen für Berührung." Er muss sich nur trauen.
Elisabeth von Thadden: Die berührungslose Gesellschaft. C. H. Beck Paperback, 205 Seiten, 16,95 Euro
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