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Das Gespenst des Bolsonarismus

Brasilien steuert auf die vielleicht wichtigste Wahl seiner bisherigen Geschichte zu. Denn wenn am 2. Oktober im größten Land Lateinamerikas die erste Runde der Präsidentschaftswahl stattfindet, geht es um nichts weniger als die Zukunft der brasilianischen Demokratie. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es zu einem großen Showdown zwischen dem aktuellen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula" da Silva kommen wird. Damit stehen sich nicht nur zwei Personen, sondern auch zwei politische Projekte gegenüber, die über die Zukunft des Landes entscheiden werden: Autoritarismus oder Demokratie. In den Umfragen liegt derzeit der Sozialdemokrat Lula weit vorne. Der Rechtsradikale Bolsonaro hat im Laufe seiner Amtszeit viel Unmut auf sich gezogen, kann sich aber auf den harten Kern seiner Anhänger*innen verlassen. Sollte keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erzielen, kommt es am 30. Oktober zur Stichwahl. Und Bolsonaro hat bereits mehrfach erklärt, die Ergebnisse nur im Falle seines eigenen Sieges anerkennen zu wollen. Viele rechnen deshalb mit Gewalt während der Wahl, einige befürchten sogar einen Putschversuch.

Die große Frage lautet: Sind die demokratischen Institutionen stark genug, um einen institutionellen Bruch aufzuhalten? Fest steht: Nach dreieinhalb Jahren der Präsidentschaft Bolsonaros ist Brasilien ein anderes Land. Der Ultrarechte hat die Zerstörung zu seinem Regierungsprogramm gemacht und das Land an den Rand des Kollapses geführt: traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Wie konnte es so weit kommen?

Bolsonaros fulminanter Aufstieg war alles andere als vorgezeichnet.[1] Nur wenige Monate vor der Wahl 2018 hatte ihm kaum jemand Chancen ausgerechnet. Der rechtsradikale Politiker war gar als Freak und Außenseiter belächelt worden. Bolsonaro ging für die Sozialliberale Partei, die PSL, ins Rennen, eine bis dahin weitestgehend unbekannte Kleinstpartei, die keinen einzigen Gouverneur stellte und nur über einen Sitz im Kongress verfügte. Doch Bolsonaro brauchte eine Partei, die für seine Inszenierung nicht zu stark mit Korruption in Verbindung gebracht werden konnte. Für ihn war es eine Zweckehe, mehr nicht. Ein Problem für Bolsonaro: Da in Brasilien seit 2015 Privatspenden an Parteien verboten sind und diese ihre Wahlkämpfe fast ausschließlich über öffentliche Mittel finanzieren müssen, die ihnen nach Fraktionsstärke im Parlament zustehen, stand der Minipartei PSL nur ein Bruchteil der Gelder anderer Parteien zur Verfügung. Nichts sprach für Bolsonaro. Doch entgegen allen Erwartungen stieg er schier unaufhaltsam in den Umfragen auf und gewann letztlich die Wahl mit großem Vorsprung.

Dieser Aufstieg lässt sich vor allem mit den turbulenten Jahren vor 2018 erklären. Die Wirtschaft des einst gefeierten Global Players kriselte, und nach der Aufdeckung gigantischer Korruptionsskandale schlug der gesamten politischen Klasse jede Menge Wut und Ablehnung entgegen. Diese „antipolitische" Stimmung sollte die Wahl entscheiden. Was zuvor als Bolsonaros Nachteil betrachtet worden war, war jetzt seine Stärke. Obwohl er Mitglied verschiedener Parteien gewesen war und für fast drei Jahrzehnte im Kongress gesessen hatte, hatte Bolsonaro nie ein Amt innegehabt. Doch vor allem liefen keine Korruptionsermittlungen gegen ihn. Das reichte Bolsonaro, um sich als Saubermann inszenieren zu können, als jemand außerhalb des korrupten Kreises der Eliten. Zusätzlich gelang es ihm mit einem geschickten Wahlkampf in den sozialen Medien, den Hass auf die Arbeiterpartei PT zu kanalisieren. Zugute kam ihm dabei auch, dass sein größter Widersacher, Ex-Präsident Lula, der in allen Umfragen vorne gelegen hatte, durch eine juristisch extrem fragwürdige Verurteilung von der Wahl ausgeschlossen worden war. 2019 konnten der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald und sein Team des Onlinemediums „The Intercept Brasil" beweisen, dass tatsächlich ein Justizkomplott gegen Lula stattgefunden hatte.[2] Der ehemalige Star-Richter Sergio Moro und die Staatsanwaltschaft hatten zusammengearbeitet, um Lula hinter Gitter zu bringen und seine Wahl zu verhindern. Moro hatte politische Ambitionen zwar immer abgestritten und stets seine Unabhängigkeit betont. Doch nur wenige Tage nach Bolsonaros Wahlsieg ließ er sich vom Präsidenten zum Justizminister ernennen.

Auch die schwere Sicherheitskrise spielte Bolsonaro bei der vergangenen Wahl in die Hände. 2017, ein Jahr vor der Wahl, wurden in Brasilien mehr als 63 000 Menschen ermordet, so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Der Law-and-order-Politiker Bolsonaro wusste die Verängstigung vieler Brasilianer*innen geschickt auszunutzen. Er forderte, alle „Banditen abzuknallen", stellte sich demonstrativ hinter tötende Polizist*innen und erklärte vollmundig, die Bevölkerung bewaffnen zu wollen.

Im Wahlkampf umgarnte Bolsonaro zudem die evangelikalen Kirchen. Sein Wahlkampfmotto lautete: „Brasilien über alles. Gott über allen." Er ließ sich medienwirksam im Jordan taufen, gab dem evangelikalen Sender „Record" Exklusivinterviews und wurde von Star-Pastor Silas Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. Ebenso kamen bei den Freikirchen seine homo- und transfeindlichen Ausfälle, die Hetze gegen eine vermeintliche Genderideologie sowie die Ankündigung an, die strengen Abtreibungsgesetze noch weiter verschärfen zu wollen. Die Konsequenz: Erstmals unterstützten alle großen Freikirchen einen Kandidaten, nämlich Bolsonaro. Die Kirchen sind mittlerweile ein wichtiger gesellschaftlicher und politischer Faktor in Brasilien.[3] Immer mehr Menschen wenden sich den ultrakonservativen Pfingstkirchen zu. Gerade in den vom Staat vernachlässigten Armenvierteln haben sie großen Zulauf. Während sich 1990 noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung als katholisch bezeichneten, waren es 2020 nur noch rund 50 Prozent. 32 Prozent der Bevölkerung verstehen sich mittlerweile als evangelikal - Tendenz steigend. Laut Berechnungen könnten die bibeltreuen Christ*innen schon bald die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung stellen.

Neben den Evangelikalen suchte 2018 auch die Wirtschaftselite den Schulterschluss mit dem Rechtsradikalen. Die Agrarlobby stand treu auf Bolsonaros Seite, auch weil dieser erklärte, als Präsident „keinen weiteren Zentimeter" für indigene Territorien ausweisen zu lassen, gegen Umweltschützer*innen hetzte und die Ausbeutung Amazoniens zu einem seiner wichtigsten Versprechen machte. Auch die Finanzelite suchte die Nähe zum Rechtsradikalen. Das hing vor allem damit zusammen, dass Bolsonaro Paulo Guedes in sein Team holte, den er später zum Wirtschaftsminister ernannte. Der ehemalige Investmentbanker ist ein Ultraliberaler, wie er im Buche steht: Studium bei Milton Friedman an der berüchtigten Chicago School, Karriere bei der rechten Militärjunta in Chile, Gründung neoliberaler Thinktanks in Brasilien. Als Bolsonaro gewählt wurde, knallten die Sektkorken in den Büros der Faria Lima, der symbolträchtigen Finanzstraße von São Paulo. Auch die meisten deutschen Firmen in Brasilien bejubelten den Sieg des Rechtsradikalen, die Deutsche Bank sprach vom „Wunschkandidaten der Märkte".[4] Es war eine historische Koalition ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Kräfte, die 2018 dafür sorgte, dass Bolsonaro tatsächlich mit großem Vorsprung die Wahl gewann.

Eine Spur der Zerstörung

Bereits bei der Amtsübergabe am Neujahrstag 2019 ließ Bolsonaro keinen Zweifel daran, wohin die Reise mit ihm gehen würde. In einer flammenden Rede auf dem Praça dos Três Poderes, dem Platz der Drei Gewalten, in der Hauptstadt Brasília wetterte er gegen „Sozialismus, politische Korrektheit und die Umkehrung der Werte". Und in der Tat begann der rechtsradikale Präsident ab Tag eins, sein rechtsautoritäres Projekt umzusetzen. Allerdings kann Bolsonaro dabei nicht durchregieren. Im Parlament erreicht er kaum Mehrheiten, er regiert per Dekret, und viele seiner Gesetzesprojekte sind gescheitert. Einige vertreten deshalb die Auffassung, Bolsonaro habe auf ganzer Linie versagt, er sei eigentlich ein schwacher Präsident, nichts mehr als ein zahnloser Tiger. Es stimmt zwar, dass ihm gerade der Oberste Gerichtshof immer wieder Grenzen aufzeigt. Doch in vielen Punkten war Bolsonaros rechte Revolte extrem erfolgreich - gerade in der Umweltpolitik.

Für Bolsonaro ist der Amazonas-Regenwald vor allem eines: eine Ressource, die es auszubeuten gilt. Soja-Barone und Rinder-Könige nehmen in Brasilien politisch seit jeher starken Einfluss. Eine dem Agrobusiness nahestehende Interessenvertretung im Kongress wird auf fast die Hälfte aller Abgeordneten geschätzt. Bolsonaro kann sich auf ihre Unterstützung verlassen, der Verein weißer Großgrundbesitzer*innen gehörte gar zu den Hauptunterstützer*innen seines Wahlkampfes.[5]

Für die Durchsetzung von deren Interessen scheint Bolsonaro jedes Mittel recht zu sein. Die Regierung und ihre Verbündeten setzen beispielsweise alles daran, indigene Schutzräume zu verkleinern und somit letztlich auch Stück für Stück deren in der Verfassung garantierten Rechte aufzuweichen. Allerdings blockieren der Kongress und der Oberste Gerichtshof regelmäßig die Gesetzesprojekte der Regierung - auch, weil Zweifel an der langfristigen Wirtschaftlichkeit bestehen. Im April d.J. kippte der Oberste Gerichtshof etwa ein Dekret des Präsidenten, das zum Ziel hatte, Organisationen der Zivilgesellschaft aus dem Nationalen Umweltfonds (FNMA) auszuschließen. Daher schöpft Bolsonaro andere Mittel aus, um sein Kahlschlagprojekt voranzutreiben. So hat die Regierung Umweltbehörden wie die Ibama oder die Indigenen-Behörde Funai entmachtet. Sie kürzte ihnen die sowieso schon spärlichen Mittel, setzte linientreue Funktionär*innen in Führungspositionen ein und feuerte Mitarbeiter*innen mit technischer oder umweltpolitischer Expertise. Einige wenige Beamt*innen setzen zwar weiterhin die Gesetze durch, auch gegen die Interessen der Regierung. Doch in vielen geschützten Gebieten sind die Behörden nun völlig unterbesetzt. Die Konsequenz: Es gibt immer weniger Kontrollen und immer weniger Bußgelder. Holzfäller*innen, Goldgräber*innen und Landräuber*innen verstehen das als Freifahrtschein für ihre illegalen Aktivitäten.[6] Nach Bolsonaros Amtsantritt ist die Abholzung des Regenwaldes daher sprunghaft angestiegen. Deutlichster Ausdruck der Zerstörung sind die Waldbrände, die jedes Jahr in der Trockenphase wüten. All das wird die Region nachhaltig verändern und sich nur schwer zurückdrehen lassen. Auch erbitterte Landkonflikte sind eine direkte Folge dieser Politik: An allen Ecken und Enden des Regenwaldes eskaliert die Gewalt. All diejenigen, die sich dem Raubbau entgegenstellen, leben gefährlich. Jüngster Höhepunkt dieser Gewalt war der Mord an dem britischen Journalisten Dom Phillips und dem Indigenenexperten Bruno Pereira im Juni dieses Jahres, die für ein Buchprojekt in der Region recherchiert hatten.[7]

Und noch an einem zweiten Punkt war Bolsonaros rechte Revolte durchaus erfolgreich: den Waffengesetzen. Unmittelbar nach Amtsantritt brachte er mehrere Dekrete auf den Weg, um die strengen Waffengesetze zu liberalisieren. Zwar machte ihm der Oberste Gerichtshof bei vielen Initiativen einen Strich durch die Rechnung, aber Bolsonaro konnte durchaus einige Erfolge feiern. Per Dekret ordnete er beispielsweise an, dass einfache Bürger*innen bis zu sechs Waffen erwerben können, Jäger*innen und Sportschütz*innen können sogar bis zu 60 Waffen horten. Die wenig überraschende Konsequenz: In Brasilien sind immer mehr Waffen im Umlauf. Laut Bolsonaro sei der bewaffnete Bürger „die erste Verteidigungslinie eines Landes". Die Idee ist simpel: Gewalt mit mehr Gewalt bekämpfen. Ein Irrglauben, sagen fast alle Expert*innen.[8] Studien zeigen, dass lockerere Waffengesetze genau zum Gegenteil führen: zu mehr Morden, mehr Unfällen, mehr Suiziden. Wer unter Bolsonaros Aufrüstungspolitik besonders leiden wird, ist die arme, schwarze Bevölkerung in den Favelas. Was vielen zudem Sorgen bereitet: Bolsonaro könne versuchen, seine radikalisierte Basis hochzurüsten.

Der ultrakonservative Umbau des brasilianischen Staates

Schließlich hat mit dem Amtsantritt Bolsonaros, drittens, ein regelrechter Umbau des Staates nach ultrakonservativen Vorstellungen begonnen. Fundamentalistische religiöse Gruppen haben gezielt die Regierung infiltriert. Unter Bolsonaro wurden ganze Referate ausgewechselt und Expert*innen durch religiöse Hardliner ersetzt. Die Evangelikalen und auch einige ultrakonservative Katholik*innen versuchen zudem, alle Ausschüsse zu besetzen, in denen Themen behandelt werden, die für sie von Interesse sind: Abtreibung, LGBTIQ-Rechte, Drogen. Ebenso versuchen sie Einfluss bei der Vergabe von Radio- und Fernsehlizenzen zu nehmen, die alle fünf Jahre neu zugeteilt werden, damit sie nicht zu Ungunsten ihrer eigenen Netzwerke und Sender verändert werden. Doch auch in der vordersten Riege der Regierung befinden sich Evangelikale. Vor allem eine Personalie hat es in sich: Bolsonaros Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves. Vor ihrer Nominierung predigte die evangelikale Pastorin in vollbesetzten Megakirchen und tourte als Abtreibungsgegnerin durchs Land. In der ersten Rede nach ihrer Nominierung erklärte sie, nun sei der Moment gekommen, in dem die Kirche regiere und Jungen wieder blau und Mädchen wieder rosa trügen.[9] Als Ministerin fungiert sie als Bindeglied zwischen der Regierung und den evangelikalen Gemeinden und treibt den ultrakonservativen Umbau Brasiliens voran.

In der ganzen Welt versuchen christliche Fundamentalist*innen die Politik mitzugestalten. Anti-Abtreibung-Lobbys agieren transnational, in vielen Ländern sind Bibeltreue bis auf die Regierungsebene vorgedrungen.[10] Der Schulterschluss zwischen Rechtsradikalen und Christ*innen ist fast überall gelungen. Doch in kaum einem anderen Land war diese unheilige Allianz so erfolgreich wie in Brasilien - und unter Bolsonaro verschwimmt die Trennlinie zwischen Politik und Kirche immer mehr.

Politik im Krisenmodus

Bolsonaro macht Politik schon immer ausschließlich für seine Wählerbasis, auch als Präsident. Und er ist damit in vielen Punkten durchaus erfolgreich.[11] Doch beim Gros der Bevölkerung ist Bolsonaro mittlerweile unbeliebt, bei einigen gilt er gar als absolute Hassfigur. International steht er vor allem wegen seiner Umweltpolitik in der Kritik. Der Raubbau am Regenwald führt auch dem Globalen Norden die Gefahr eines ökologischen Kollapses vor Augen. Die Beziehung zur Biden-Administration in den USA ist unterkühlt, europäische Staaten drohten gar mit Boykotts brasilianischer Produkte. Doch auch wegen anderer Themen kann der Präsident den Krisenmodus nicht verlassen.

So bekam Bolsonaros Image als Saubermann und vermeintlicher Anti-Establishment-Politiker schon ein paar Wochen nach seinem Amtsantritt einen Riss, als Ermittlungen gegen seinen Sohn Flávio wegen Veruntreuung und Geldwäsche eingeleitet wurden. Gegen mehrere ehemalige Minister wird mittlerweile wegen Bestechlichkeit ermittelt, und beim Kauf von Impfstoffen soll Bolsonaro selbst von Korruptionsvorwürfen gewusst und nicht eingegriffen haben.[12] Der vermeintliche Anti-Establishment-Kandidat Bolsonaro betrieb zudem schon bald genau jene „alte Politik", gegen die er im Wahlkampf gewettert hatte, indem er Koalitionspartner*innen Posten verschaffte, um ein Amtsenthebungsverfahren abzuwenden.

Und noch ein Thema lastet schwer auf der Regierung: die Corona-Pandemie. Bolsonaro spielte das Virus wie kaum ein zweiter Staatschef als „kleine Grippe" herunter.[13] Er rief zur Höchstphase der Pandemie zu Protesten auf, verspottete Kranke, zeigte keinerlei Empathie für die mehr als 600 000 Corona-Toten. Für viele gilt Bolsonaro seitdem als genocida, als Völkermörder. Selbst Konservative wendeten sich in der Folge bestürzt von ihm ab. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss ermittelte über mehrere Monate zur dilettantischen Reaktion der Regierung auf die Pandemie, und die neuesten Ergebnisse wurden den Brasilianer*innen jeden Abend pünktlich in den Nachrichten serviert. Auch Bolsonaros Impfkritik lief in einem Land mit einer langen Impftradition und großem Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem ins Leere.

Am schwersten belastet die Regierung derzeit allerdings die wirtschaftliche Talfahrt. Neben der Bekämpfung der Korruption hatte Bolsonaro versprochen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Doch trotz ambitionierter Pläne ist das Gegenteil eingetreten und die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Die Inflation liegt bei rund 11 Prozent, dem höchsten Wert seit Einführung der Landeswährung Real, die Arbeitslosigkeit kletterte auf 12 Prozent. Alltägliche Dinge wie Gaskanister zum Kochen sind für viele mittlerweile unerschwinglich, und vor einigen Monaten wurde das Land erneut in die Welthungerkarte der UNO aufgenommen. 31 Millionen der knapp 215 Millionen Brasilianer*innen sind laut der Forschungsgruppe „Food for Justice" am Lateinamerika-Institut in Berlin von Hunger betroffen, das entspricht in etwa 15 Prozent der Bevölkerung.[14] Schwindelerregende 59,4 Prozent der Bevölkerung sind demzufolge von „Ernährungsunsicherheit" betroffen. Das heißt, der regelmäßige Zugang zu Nahrungsmitteln in ausreichender Menge oder Qualität ist gefährdet. Die Bolsonaro-Regierung hat dem nichts entgegengesetzt. Im Gegenteil: Eine ihrer ersten Amtshandlungen bestand darin, den Nationalen Rat der Ernährungssicherheit (Consea) abzuschaffen.

Auch in anderen Punkten treibt die Bolsonaro-Regierung die neoliberale Kahlschlagpolitik mit voller Wucht voran. Die Regierung kürzte Sozialprogramme, schwächte Gewerkschaften, hob den Mindestlohn trotz galoppierender Inflation nicht an. Sie privatisierte Staatsbetriebe und setzte eine unpopuläre Rentenreform durch. Die Konsequenz: eine große Frustration in breiten Teilen der Bevölkerung. Und so wird, anders als im letzten Wahlkampf, als die Bekämpfung der Korruption und Wertefragen im Vordergrund standen, in diesem Jahr die Wirtschaft entscheidend sein - ganz zum Missfallen Bolsonaros. Dennoch wäre es gefährlich, bereits jetzt einen Abgesang auf Bolsonaro anzustimmen. Das Wahlverhalten in Brasilien ist oft unberechenbar, Umfragen nicht sonderlich verlässlich, die Stimmung in der Gesellschaft extrem volatil. Und Bolsonaro bereitet den Boden vor, um die Wahl anzufechten.

Die schleichende Aushöhlung der brasilianischen Demokratie

Immer wieder verbreitet Bolsonaro Lügen über das elektronische Wahlsystem und erklärte, „nur Gott" könne ihn von der Präsidentschaft entfernen. Die meisten Analyst*innen gehen davon aus: Je knapper die Wahl ausfallen wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Bolsonaro einen institutionellen Bruch wagt. Kaum jemand bezweifelt, dass es zu Gewalt kommen wird. Die Bilder vom Kapitol-Sturm in Washington könnten als Blaupause dienen. Einige fürchten gar einen klassischen Putsch.

Entscheidend wird sein, ob sich das Militär auf ein autoritäres Experiment Bolsonaros einlassen würde. Expert*innen bewerten diese Frage unterschiedlich. Bolsonaro, selbst Hauptmann der Reserve, ist im Militär nicht unumstritten. Einige können ihm seine Eskapaden als junger Soldat nicht verzeihen, als er Protestaktionen gegen die schlechte Bezahlung in der Armee plante,[15] andere stört sein ungehobelter Ton. Doch gerade bei den unteren Rängen genießt Bolsonaro viel Unterstützung. Und das Militär hat durch die rechtsradikale Regierung weitreichende Privilegien erhalten.[16] Während Bolsonaro in fast allen anderen Bereichen die Axt anlegte, erhielten die Streitkräfte rekordverdächtige Haushaltszuwendungen und blieben auch bei der Rentenreform von Kürzungen verschont. Mehr als 3000 Militärangehörige sitzen in der Regierung, rund 340 auf gut dotierten Posten, häufig ohne entsprechende Qualifikationen. So viele waren es selbst zu Hochzeiten der Diktatur nicht. Mehrere Minister hatten zuvor eine Karriere bei der Truppe hingelegt, und Militärs übernehmen immer häufiger auch zivile Aufgaben, leiten fast ein Drittel der bundesstaatlichen Unternehmen. Ob sie bereit sind, diese Privilegien aufzugeben, darf bezweifelt werden. Ebenso unklar ist, ob sie sich eher dem Präsidenten oder der Verfassung verpflichtet fühlen.

Viele Expert*innen meinen, Bolsonaro fehle für einen offenen Bruch mit der Verfassung die nötige Rückendeckung. Und es stimmt: Trotz aller autoritären Sehnsüchte und des konstanten Angriffsmodus ist Brasilien noch weit von türkischen oder belarusischen Verhältnissen entfernt. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch halbwegs. Auch im Ausland setzen viele deshalb auf eine Abwahl des großen Zerstörers Bolsonaro.

Bolsonaros großer Antagonist, Ex-Präsident Lula, gibt sich in dieser Lage als großer Versöhner, als Anti-Bolsonaro und als jemand, der das Land wieder zusammenbringt. Er zeigt Empathie für die Corona-Toten, gibt sich staatsmännisch auf Europatour. Und er tut, was er schon immer am besten konnte: seine Fühler in alle Richtungen ausstrecken. Am Morgen über ein besetztes Gebiet der linken Landlosenbewegung MST zu marschieren und am Nachmittag in der gläsernen Bankfiliale Kaffee zu trinken, ist für Lula kein Widerspruch. Bereits vor seiner ersten Wahl im Jahr 2002 legte er das Image des ruppigen Gewerkschaftsführers ab und suchte den großen Schulterschluss. Die Rechnung ging auf, er gewann die Wahl. Durch einen beispiellosen Rohstoffboom stiegen in seiner Amtszeit die Armen ein wenig auf und die Reichen wurden noch reicher.[17] Am Ende seiner Regierungsperiode im Jahr 2011 lag seine Zustimmungsrate bei sagenhaften 82 Prozent. So ist es nicht verwunderlich, dass Lula in vielen Brasilianer*innen das Gefühl von saudade, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten weckt. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei, Brasilien hat sich verändert. Die Fronten sind verhärteter, die Gesellschaft gespalten, wirtschaftlich geht es dem Land schlecht. Außerdem: Für viele gilt Lula als Reinkarnation des Bösen und Symbol für Korruption. Er polarisiert, wie es wahrscheinlich sonst nur Bolsonaro tut. Lula selbst sendete angesichts dessen zuletzt ambivalente Signale aus. Er deutete an, die strengen Abtreibungsgesetze zu lockern, versprach, ein Indigenen-Ministerium einzurichten und von der neoliberalen Sparpolitik abzurücken, sollte er gewählt werden. Außerdem holte er bei inhaltlichen Debatten soziale Bewegungen mit ins Boot. Gleichzeitig nominierte er aber den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, als Vize-Präsidentschaftskandidaten. Vielen Linken stößt die Personalie bitter auf, doch Alckmins Kandidatur war vor allem eine Message an das bürgerliche Lager: Niemand muss Angst vor mir haben. Lula weiß, dass es ohne die konservative Mittelschicht schwer für ihn wird, die Wahl zu gewinnen. Denn sein Höhenflug in den Umfragen ist wahrlich kein Ausdruck für die Stärke der Linken. Diese ist schwach, zerstritten und orientierungslos. Seit dem Amtsantritt Bolsonaros hat es bis auf wenige Ausnahmen kaum Proteste gegen die Regierung gegeben, es fehlt an neuen Ideen und charismatischen Persönlichkeiten.

Außerdem zeigen die Wahlen ein grundsätzliches Dilemma: Die Politik in Brasilien war schon immer extrem personalisiert, Parteien sind eher unbedeutend und Charisma ist wichtiger als ein stringentes Wahlprogramm. Die meisten Brasilianer*innen sind unpolitisch, nur wenige haben ein klares ideologisches Profil. Der 76jährige Lula scheint tatsächlich die einzige Person zu sein, die es vermag, Bolsonaro in der Wahl zu schlagen. Deshalb lautet die Devise vieler Linker: Erst Bolsonaro abwählen und dann weiterschauen. Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass Lula im Fall eines Wahlsieges daran anknüpfen kann, wo er 2011 aufgehört hat. Der Politiker der Arbeiterpartei PT wird viele Zugeständnisse an seine konservativen Partner*innen machen und im völlig zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen.

Das Ende von Bolsonaro, nicht aber des Bolsonarismus?

Bolsonaro wiederum hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er ist und wofür er steht. Er ist ein notorischer Antidemokrat, ein Bewunderer der Militärdiktatur. Dennoch halten ihm die demokratischen Institutionen bisher noch stand. Doch Bolsonaro hat andere Wege gefunden, um das demokratische System auszuhöhlen: Mit Attacken auf Medien und die Justiz, durch staatlich legitimierte Gewalt und Hetze gegen Oppositionelle. Wie auch in anderen Ländern geschieht die Erosion der brasilianischen Demokratie in vielen kleinen Schritten, die oft nicht direkt wahrnehmbar sind. In ihrem Buch „Wie Demokratien sterben" schreiben die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: „Aber es gibt noch eine andere Art des Zusammenbruchs, die zwar weniger dramatisch, aber genauso zerstörerisch ist. Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die eben jenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat."[18] Demokratien verschwinden heute meist nicht mehr über Nacht. Der brasilianische Autor Rui Fausto spricht angesichts dessen von einer democratura (Demokratur) - einem System, in dem ein demokratisch gewählter Staatschef versucht, eine Diktatur zu errichten. Das Konzept ähnelt dem der in Europa vieldiskutierten „illiberalen Demokratien", in denen eine demokratische Fassade aufrechterhalten wird, um ihre Substanz von innen aufzulösen.

Dabei sollte man nicht den Fehler machen, autoritäre Staatschefs als individuelle Phänomene und nur im Rahmen ihrer Amtszeiten zu betrachten. Ihr Ziel war es nie, einfach nur Wahlen zu gewinnen. Es geht darum, Gesellschaften langfristig zu verändern. Und damit sind sie bisweilen erschreckend erfolgreich - so auch Bolsonaro.

Klar ist: Jeder autoritäre Staatschef folgt seinen eigenen Regeln. Der brasilianische „Autoritarismus über Wahlen" steckt noch in seiner Anfangsphase. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass autoritäre Präsident*innen mindestens einmal wiedergewählt werden müssen, um das demokratische System vollends auszuhebeln. Die erste Wahl eines „Anti-Establishment-Kandidaten" ist oft die Folge schwerer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krisen. In solchen Zeiten florieren der Hass auf vermeintliche Eliten, klare Feindbilder und der Wunsch nach einem radikalen Neustart. Viele Wähler*innen mögen nicht mit allen Positionen des Kandidaten übereinstimmen, doch sie sehen keine Alternative zum Status quo. Die große Demaskierung folgt oft auf dem Fuß. Nach ihrem Amtsantritt enttäuschen die gewählten Autoritären meist, ihre Umfragewerte fallen. Wenn ein Kandidat jedoch wiedergewählt wird, öffnet das die Türen für einen autoritären Staatsumbau. Deshalb ist die brasilianische Wahl im Oktober so entscheidend.

Der Blick in andere Länder lohnt, um mögliche Szenarien für die Zukunft Brasiliens zu skizzieren: In den USA ist der Trumpismus trotz der Abwahl Donald Trumps weiterhin stark, die Gesellschaft tief gespalten. Bei der nächsten Wahl könnte ein*e Kandidat*in aus dem Trump-Lager mit derzeit guten Aussichten in den Wahlkampf ziehen - oder sogar Trump selbst.[19] Ähnlich könnte es auch in Brasilien laufen. Obwohl sich viele seiner ehemaligen Wähler*innen von Bolsonaro abgewendet haben, hält ihm der harte Kern seiner Anhänger*innen weiterhin die Treue. Gerade wegen seiner ständigen Provokationen und der von Hass geleiteten Politik feiern sie ihn wie einen Popstar und stehen bedingungslos hinter ihm. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Teile der brasilianischen Bevölkerung weiter radikalisieren. Sollte Lula die Wahl gewinnen, wird er scharfen Gegenwind von ganz rechts bekommen. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn sein Namensgeber nicht mehr Präsident sein sollte. Denn er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen - nicht nur auf der großen Bühne der brasilianischen Bundespolitik. In den Parlamenten im ganzen Land sitzen Tausende ultrarechte Ex-Polizist*innen und bibelschwingende Gotteskrieger*innen, die die Politik bereits nach ihren reaktionären Grundsätzen mitgestalten. Auch wenn Bolsonaro im Oktober abgewählt werden sollte, der Geist des Bolsonarismus ist damit noch lange nicht aus der brasilianischen Politik vertrieben.

Dieser Beitrag basiert in Teilen auf dem Buch des Autors, „Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte", das jüngst bei Assoziation A erschienen ist.
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