In Armenien landen Hoffnungen und Wünsche im Taubenschlag. Es gibt schlechtere Endstationen für Träume und teurere. Nur 1.000 Dram, etwa 2 Euro, kostet es, damit ein Käfig geöffnet, ein schneeköniginnenweißes Täubchen herausgegriffen und in die Hände von Brautpaaren, Schulkindern oder Touristen gelegt wird, auf das sie ihre Träume mit dem Vogel fliegen lassen. Eine Bitte erfüllt sich auf diesem Weg garantiert – die der Taubenbesitzer um gute Geschäfte. Mit goldzahnblitzendem Lächeln bedanken sie sich bei ihren Kunden. Im Hauptberuf sind sie Toilettenputzer, Souvenir-, oder Ticketverkäufer, stehen mit ihrem Nebenerwerb aber in der ehrenvollen Nachfolge eines biblischen Stammvaters. Noah soll der Erste gewesen sein, der in dieser Gegend eine Taube auf die Reise schickte. Mit seiner Arche während der Sintflut auf dem Gipfel des Ararat gestrandet, entsandte er eine Taube als Kundschafter. Als diese nicht mehr zu ihm zurückkehrte, schaute Noah selbst nach und rief „Yerevats“ – „Ich sehe Land“. Auf eben jenem Stück Erde soll die Stadt Jerevan errichtet worden sein.
Jerevan – das ist für viele auch nur ein Name wie Milwaukee,
Mongrovia oder Holzkirchen – bloße Punkte auf der Landkarte, zu denen es in
unseren Köpfen keine Bilder gibt, sondern höchstens Witze – die Witze von Radio
Jerevan über Parteiführung, Korruption oder Mangelwirtschaft in sozialistischen
Zeiten. Frage an Radio Jerevan: „Was ist eine Sprotte?“ Antwort: „Ein Wal, der
im Kommunismus angekommen ist.“ Heute wünschten sich nicht wenige Armenier die
Sprotten zurück. Die alten Zeiten waren nicht gut, in ihrer Erinnerung aber
allemal besser als die Gegenwart mit einem Durchschnittslohn von umgerechnet
250 Euro im Monat. Ihr Land steckt im Transit fest - aufgebrochen, aber längst
nicht angekommen. Noch hustet der Sozialismus über Jerevans Plätze und breit
angelegte Boulevards, noch hockt er mit Alten und Arbeitslosen vor den
Hauseingängen der Plattenbauten und klebt nostalgisch an „Mutter Armenien“,
einer Statue im klotzigen Ostblockformat. Neben den Requisiten der Sowjetzeit
lehnt sich aber schon das Neue an die rosa Tuffsteinfassaden der Nobelhotels,
sitzt lässig auf weißen Korbstühlen, bestellt bunte Cocktails oder stöckelt in
Schuhen wie Sprungschanzen über die Abovjan, Jerevans Haupteinkaufsstraße. 1991
trat Armenien aus der Sowjetunion aus und in den Kapitalismus ein. Anzugträger,
die Cafés, Aufzüge und Busse in öffentliche Büros verwandeln, sind bislang in
der Minderheit. Die schöne neue Welt des Westens aber ist im Anmarsch, bereit,
aus den Armeniern funktionierende Konsum- und Kommunikationsmenschen zu machen.
Wer spüren möchte, was Armenien zu verlieren hat, muss weg von Jerevans
Allerwelt-Bars und dem Einheitssortiment seiner Supermarktketten, weg von
kulturellen Prestigeprojekten und den Protzbauten der Oligarchen, dahin, wo
Armenien unverwechselbar ist, aufs Land und in die Dörfer. Über Straßen mit
Löchern, so groß und zahlreich als wäre ein Meteoritenregen niedergegangen,
fährt man den Sanddornpflückern vom Sewansee entgegen, zu den Basaltstelen der
Azat-Schlucht oder den bewaldeten Berghängen des Nordens, vorbei an jesidischen
Schafhirten und an Skeletten ausgeweideter Buswracks, die den Augen in der
graubraunen Berglandschaft bunte Fixpunkte liefern. Und überall wachsen einem
tiefergelegten Horizont Chatsch’khare entgegen. Chatsch’khare sind Kreuzsteine,
eingemeißelt in bunte Tuff-, Basalt- und Sandsteinblöcke. Klein, unscheinbar
und halb zerfallen manche, andere ehrfurchtsvoll groß, mit Mustern so fein, als
wären sie nicht gemeißelt, sondern gestickt oder geklöppelt. Mehrere Tausend
dieser steinernen Symbole des Christentums bevölkern Armenien. Die ältesten
halten sich seit dem 5. Jahrhundert aufrecht, und alle sind so verschieden, wie
die Künstler, die sie einst schufen. Von einem der Kreuzsteine lacht Jesus mit
langen geflochtenen Zöpfen und Mandelaugen. Pfiffig der Steinmetz, der hoffte,
das mongolische Aussehen des Gottessohns würde einfallende Horden aus Asien
davon abhalten, seine Arbeit zu zerstören. In der Nähe dieses Kreuzsteins steht
eine alte Frau im lila Kittel und mit über der Stirn geknotetem Kopftuch und
hält ihren kleinen Enkel an der Hand. Den Gesichtern der beiden kann man nicht
auf den Grund gehen. Sie tarnt sich mit Freundlichkeit und zwinkert grinsend
ihre Wangenhaut zu vielen runzeligen Grübchen. Er blockt die Fremden mit einem
Blick, der viel älter ist als er selbst. Nur das Comic-Heft, das er sich wie
ein Schild vor die Brust hält, gibt seiner Kindheit ein Alibi. Die Verschlossenheit der Armenier ist ein
nationales Erbe, ihre misstrauische Haltung verkörperte Geschichte. Jeghern,
Aghetigoti und Asatamartik – Völkermord, Katastrophengebiet und
Befreiungskämpfer, hinter diesen drei Begriffen steht der Genozid von 1915 an
1,5 Millionen Armeniern, das schwere Erdbeben von 1988 und der Kampf mit Aserbaidschan
um Berg-Karabach. Als hätten sie geahnt, dass die Geschichte ihnen einen festen
Glauben abverlangen würde, führten die Armenier im Jahr 301 n. Chr. den
armenisch-apostolischen Glauben als Staatsreligion ein und wurden damit zum ältesten
Christenvolk der Welt. Italiener besuchen Armenien auch deshalb so gern, um
sich den Konkurrenz-Vatikan in Edschmiatsin anzuschauen. Dort hat der
Katholikos, das geistliche Oberhaupt der armenischen Kirche, seinen Sitz. Mit
alttestamentlichem Gesicht unter schwarzer Kapuze spendet er den Segen,
vollkommen ungerührt von einem Crescendo aus Kameraklicken, mit dem seine
Gläubigen ihn hochauflösend verpixeln. Armenier achten Autoritäten, aber sie
zeigen sich nicht als sündige Selbstbeschuldiger, die bußbereit auf Knien
rutschen oder sich auf den Boden werfen. Erst wird vor dem Altar gebetet, dann
geschwatzt. „Gott darf ruhig alles hören, wir sind mit ihm per Du“, erklärt
eine Reiseleiterin und überlässt es ihrer Gruppe zu überlegen, von wem Gott
sich wohl siezen lässt. Echte Sternschnuppen-Momente schenken einem die
Kirchen, die auf Hochplateaus balancieren, wie Stalagmiten emporwachsen oder
direkt in den Felsen gehauen wurden. Beim Betreten scheuchen Besucher
Staubpartikel auf. Sie tanzen im weißen Licht, schweben die rußschwarzen Wände
hoch bis unter die Kuppeln, die verziert sind mit ineinander verschlungenen
Ranken, Tropfen, Rosetten und Zapfen. Dann verhallt der Klang der Schritte.
Stille wird zum Weihrauch dieses besonderen Augenblicks, und flugs stülpt die
Kuppel uns den Glauben über, den Glauben an Gott oder an die Künstler, die hier
gemeißelt, geritzt, gefeilt und gehämmert haben. Viele Wochen könnte man durch
Armenien reisen und würde doch immer wieder neue Kirchen, Klöster und
Kreuzsteine entdecken, ein endloser Refrain des Glaubens. Nach Jahrzehnten der
Unterdrückung durch das Sowjetreich sehen Armenier Kultur und Identität ihres
Volkes endlich wieder auch in ihren religiösen Bräuchen verwirklicht, und das
größte religiöse Ereignis im Jahr ist das Weihnachtsfest. Schon die
Vorweihnachtszeit ist in Armenien ebenso bedeutend wie in westlichen Ländern,
dauert aber doppelt so lang wie der Advent. Hisnag (fünfzig) wird die
50-Tage-Zeit deshalb auch genannt. Sie endet am 6. Januar, dem Tag von Jesus Taufe
und Geburt. Bis ins 5. Jahrhundert hinein feierten alle Kirchen Weihnachten an
diesem Tag, Armenier führen diesen Brauch bis heute fort. Zu ihren
traditionellen Festtagsspeisen gehört Anuschabur, ein Dessert, der auch Noahs
Pudding genannt wird. Die dazugehörige Legende geht so: Nachdem Noah mit seiner
Arche auf dem Berg Ararat gestrandet und die Sintflut endlich vorüber war,
wollte er ein Festmahl zubereiten. Viele Vorräte waren ihm aber nicht
geblieben, und so verwandte er getrocknetes Obst, Weizen, Hülsenfrüchte und
Zucker. In Erinnerung an Noahs Improvisationstalent servieren armenischen
Christen die Süßspeise zum weihnachtlichen Festessen. Es ist der kulinarische
Teil einer Tradition, die seit Armeniens Unabhängigkeit von Jahr zu Jahr
bedeutender wird. Revival des Glaubens. Religion verspricht dem ältesten
Christenvolk der Welt ein Gegengewicht gegen Kapitalismus und wachsende
Korruption zu sein. „Wir sind ein
kleines Volk, aber wir haben eine eigene Sprache und unsere Religion.“ Der
Taubenzüchter sagt es, die Lehrerin und der Herbergsleiter sagen es. Es ist die immer gleiche Beschwörungsformel,
die den Armeniern Zuversicht gibt. Auch der Mann, der die Plüschpferde
vermietet, auf denen Kinder über den Opernplatz hopsen, preist Sprache und
Glauben, allerdings auf seine Weise – er erzählt Witze. „Frage an Radio
Jerevan: Kann man als guter Kommunist auch ein guter Christ sein? Antwort: Im
Prinzip ja, aber warum wollen Sie sich das Leben doppelt schwer machen? –
Dieses Problem hat sich ja nun erledigt." Er lacht, hebt ein Mädchen auf
eines seiner Pferde und gibt ihr einen kleinen Schubs als Starthilfe. Aus einer
Karaoke-Bar gegenüber dem Opernhaus plärrt jemand den 30 Jahre alten Wham-Hit „Last
Christmas“, und eine Schar Tauben flattert aufgeschreckt über den Platz. Mit
ihren ausgebreiteten Flügeln haben sie die Form kleiner Kreuze.