In den Hügeln von Dumfries, zwischen den Orten Annan und Lockerbie in Südschottland, liegt versteckt hinter Bäumen und Brombeerhecken ein altes Gemäuer. Aus der Entfernung könnte man es leicht für einen Bauernhof halten, wäre da nicht das typische Pagodendach des Kiln House, das traditionellen Whisky-Destillerien ihr unverwechselbares Aussehen verleiht. Und der Schornstein, der 90 Meter hoch in den Himmel ragt und doch fast niedlich wirkt gegen den gewaltigen Baukran, der nun schon seit Monaten die Szene bestimmt.
Viele Jahre fuhren die Leute an dem Gehöft vorbei, ohne anzuhalten. Einige schiefe Giebel waren alles, was sie im Vorbeifahren sahen, bevor sie links auf die B722 abbogen, auf dem Weg in die größeren Ortschaften der Umgebung. Über 90 Jahre lang war Annandale nicht mehr als eine schwache Erinnerung weniger Alteingesessener an einen Whisky mit torfigem, kräftigen Geschmack. „Wie konnte es passieren, dass so eine wundervolle Destillerie über all die Jahre vor aller Augen quasi verloren gegangen ist?“, sagt David Thomson.
Thomson stammt aus der Gegend und kannte die Bruchstücke der alten Geschichten von Annandale und dem Whisky. Also machte er sich auf die Suche nach der alten Destillerie. Das war im Jahr 2006 und was er fand, war auf den ersten Blick wenig einladend.
Die Dächer der beiden Lagerhallen waren verrottet und irgend jemand hatte die Fassade verschandelt und ein breites Scheunentor in eine der Seitenwände gerissen. Der Efeu hatte mit seinen Wurzeln Teile des Mauerwerks förmlich weggesprengt. In vielen Gebäuden stand das Wasser und das Still House erinnerte mit seinen hüfthohen Fundamenten mehr an alt-römische Ausgrabungen als an eine Whisky-Brennerei. Trotzdem: „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Thomson – wie sollte er widerstehen.
Thomson, seine Frau Teresa Church und ihr Geschäftspartner Steve Green haben Annandale im April 2007 gekauft. Und seitdem beschäftigt sie nur eine Frage: Wie kriegt man eine alte Destillerie wieder ans Laufen?
Es ist Anfang September 2013 und Annandale ist eine gewaltige, weithin sichtbare Baustelle. Thomson war fünf Wochen nicht hier. Er war im Ausland und hat viel gearbeitet. „Ich muss ja jetzt eine Destillerie finanzieren“, sagt er. Nun steht er vor der Fassade des Mash House. Dort soll in wenigen Monaten in großen Bottichen die Gerste mit Wasser gemischt und dann weiterverarbeitet werden. Im Moment ist daran noch gar nicht zu denken. Die Außenmauer des Mash House musste komplett neu gebaut werden. Die Schäden, die das Wasser in den vergangenen Jahrzehnten hinterlassen hatte, waren nicht zu reparieren.
Thomson trägt eine fluoreszierende Sicherheitsweste und einen Bauarbeiterhelm auf dem Kopf und kratzt mit dem Fingernagel in den Fugen der neuen Außenwand herum, die die Bauarbeiter in seiner Abwesenheit hochgezogen haben. Es geht um den roten Sandstein, den sie verwendet haben. Der Bauherr hatte extra ein geologisches Gutachten anfertigen lassen, um sicher zu gehen, dass der neue Sandstein optisch zu den übrigen Mauern der alten Gebäude passen wird. Keiner der Besucher, die hier irgendwann einmal vorbei schlendern werden, sollen den Unterschied zwischen der neuen Wand und den anderen sehen. Passt der Stein wirklich? Die Bauarbeiter und die Architektin stehen um ihn herum. Thomson rückt mit der Nase noch ein wenig näher an die Wand heran und alle halten für einen Moment die Luft an.
Bis Jahresende soll es in Annandale Strom und Wasser geben und eine neue Zufahrt zum Besucherparkplatz muss auch noch gebaut werden. Im November wird die Marke Annandale zum ersten Mal einem Fachpublikum vorgestellt. In China, auf der Messe Pro Wine China. Ostern 2014 wird, wenn alles nach Plan läuft, der erste spirit gebrannt, die Vorstufe des Whisky. Und nach Ostern wird das Visitor Centre geöffnet. „Es ist eine ungeheure Chance für Annan und die ganze Gegend“, sagt Mike Cantlay von der staatlichen Tourismusbehörde VisitScotland.
Bis es so weit ist, haben Thomson und seine Frau Teresa die Dächer der Lagerhallen erneuert, Wände eingerissen und neue errichtet. Sie haben neue, kupferne Brennblasen gekauft und einen Destilleriemanager gefunden, der sich mit Whiskybrennen auskennt. Es gibt jetzt einen neuen, 90 Meter tiefen Brunnen, der die Wasserversorgung garantiert. Ein Archäologenteam der Universität Glasgow legte in ihrem Auftrag die im Lehmboden vergrabenen Fundamente wieder frei, die nun erhalten und irgendwann einmal den Besuchern der Destillerie gezeigt werden können.
In den beiden Lagerhäusern, die im Stil der traditionellen Stiel („dunnages“) gebaut sind, riecht es schon jetzt, im Herbst 2013, nach Whisky. Der süße und kräftige Alkoholgeruch raubt einem für den Moment den Atem. Dabei sind das nur die ersten 200 leeren Fässer, die schon angeliefert wurden und die nun im Dämmer der halbgeschlossenen Fenster auf ihren Einsatz warten.
Was für Menschen haben hier einmal gearbeitet? Wie schmeckte der Whisky, den sie herstellten? Niemand weiß es. Nichts erinnert an die alte Destillerie, wie sie vor 100 Jahren einmal bestand: Keine Fässer, kein Whisky, nicht einmal heile Fenster. „Sechs Jahre haben wir gesucht und nichts gefunden - Können Sie sich das vorstellen?“, sagt Thomson während er an seinen neu erworbenen Whiskyfässern vorbeistiefelt.
Ein Stück Papier mit einem aufgedruckten Briefkopf haben sie aufgetrieben, dazu eine alte Fotographie sowie die Eintragung in einem Whiskyführer aus dem 19. Jahrhundert. Das übrige sind Spekulationen. Das geologische Gutachten für das Mash House, die Arbeit der Archäologen, die ganze akribische Restaurierung der Gebäude und sogar jedes alte Hufeisen, das sie im Lehmboden gefunden haben – alles das hilft, die Arbeitabläufe von damals zu rekonstruieren und vielleicht ein paar Spekulationen an die richtige Stelle zu rücken.
Dies sind die Fakten: Die Destillerie wurde 1835 von einem Mann namens George Donald gegründet. Dann wechselte sich noch einmal den Besitzer und gehörte zum Schluss der Whiskyfirma Johnnie Walker. Johnnie Walker steckte zunächst viel Geld in das Anwesen. Im Jahr 1919 wurde Annandale trotzdem stillgelegt und zwei Jahre später ganz aufgegeben. Über die Gründe lässt sich wieder nur mutmaßen. Der Erste Weltkrieg mag eine indirekte Rolle gespielt haben, denn damals arbeiteten viele Menschen aus der Gegend in der Rüstungsindustrie und die konnte sich schlicht kein betrunkenes Personal leisten.
Die Entscheidung, Annandale originalgetreu wiederaufzubauen, ist eine reine Bauchentscheidung. Einen triftigen, messbaren, gar finanziellen Grund dafür gibt es nicht. Es macht die Dinge eher komplizierter, wenn die moderne Technik in die alten Gebäude eingepasst werden muss, sagt Thomson: „Aber nur so fühlt es sich richtig an.“
Es gibt die Momente, wo er sich manchmal erlaubt, sich zurückzulehnen. Im Still House ist so ein Moment. Die Kreissäge ein Stockwerk tiefer ist für einen Moment still. Die Sonne scheint durch die Fenster und wirft goldene Streifen auf die großen Bottiche, die washbacks genannt werden.
Hier sind die Arbeiten weitgehend fertig. Es ist schöner Raum geworden, mit hoher, spitz zulaufender Decke und dicken Mauern. „Es war ein langer Weg“, sagt Thomson und lehnt mit dem Rücken gegen eine der neuen kupfernen Brennblasen, die Arme verschränkt, und beobachtet das Spiel der Sonnenstrahlen auf dem Holz. „Bald haben wir es geschafft.“ Man könnte auch sagen, das es nun erst richtig losgeht. Annandale hat bald wieder einen Ort. Aber noch lange keinen Whisky.
Die Lowlands, das ist das Gebiet zwischen Dundee im Osten und Greenock im Westen. Zu den single malts, die hier produziert werden, gehören Ailsa Bay, Auchentoshan, Bladnoch, Daftmill und Glenkinchie. Diese Whiskys sind eher mild, ohne die torfige, rauchige Note, die beispielsweise die Whiskys von der Isle of Islay an der Westküste haben.
Thomson ist sich aber sicher, dass Annandale einmal einen torfigen, kräftigen Whisky („Peated“) produziert hat, ähnlich wie auf der Isle of Islay. Johnnie Walker & Sons, die früheren Eigentümer, dürften nicht umsonst viel Geld in den heute noch weithin sichtbaren Schornstein und die Lagerhäuser investiert haben. Annandale war vermutlich für Johnnie Walker vom Geschmack her eine ideale Ergänzung, um ihn mit den Whiskys von der Westküste zu mischen (Blend). – Die perfekte Reserve, wenn der Transport von den Inseln wegen schlechten Wetters oder aus anderen Gründen wieder einmal unterbrochen werden musste.
Deshalb sollen in Annandale künftig zwei Sorten Whiskys gebrannt werden. Eine kräftige, torfige Variante – eine Art Verbeugung vor der Tradition. Und eine milde Variante für die Whiskyfans, die mit Lowland-Whisky einen milderen Geschmack verbinden.
Das ist die Aufgabe von Malcom Rennie, dem zukünftigen Manager von Annandale. Er hat fast sein ganzes Leben auf der Isle of Islay gelebt, war dort Manager der Kilchoman Destillerie und in Sachen Whisky macht ihm so leicht keiner was vor. Die Form der Brennblasen, die Fässer, das ganze Design der Destillerie, selbst das Wasser aus dem neuen Brunnens werden später den Geschmack des neuen Whiskys bestimmen. Malcom Rennie ist der Mann, der das alles unter einen Hut bringen soll. Er ist klein und kompakt und kein Freund langer Worte. „Fruchtig“, wird der Geschmack sein, sagt er, wenn man ihn nach dem Whisky fragt, den er machen will.
Es kommt in Schottland immer wieder vor, dass Destillerien stillgelegt („mothballed“) oder wieder zum Leben erweckt werden. Glenglassaugh beispielsweise wurde 1986 geschlossen und im Jahr 2008 wiedereröffnet. Auch Glen Keith in Speyside machte erst im vergangenen Sommer nach 14 Jahren die Tore wieder auf. „Die Tatsache, dass wir eine stillgelegte Destillerie wieder eröffnen zeigt, wie stark die Nachfrage nach schottischem Whisky ist“, sagt der Chef von Chivas Brother, Christian Porta. Auch Thomson setzt auf den boomenden Markt, vor allem in Asien.
Die lange Wartezeit hat er einkalkuliert. Es wird Jahre dauern, den neuen Markennamen bekannt zu machen. Außerdem muss schottischer Whisky laut Gesetz drei Jahre lang in Eichenfässer in Schottland gereift sein. Und in Annandale soll der erste Whisky ja erst noch gebrannt werden. Vielleicht werden sie in den kommenden Jahren schon ein paar Fässer im Voraus verkaufen.
Das Ehepaar besitzt ein Marktforschungsunternehmen mit Büros in China, England und den USA und man darf vermuten, dass die beiden damit viel Geld verdient haben. Sie hätten sich von dem Geld auch ein Luxus-Ferienhaus in Südfrankreich, Weinberge oder ein Schloss in den Highlands kaufen können. Was treibt sie auf eine Baustelle? „Wahnsinn“, sagt Thomson und lacht.
Fünf Millionen Pfund, diese Zahl hat er irgendwann einmal genannt, als er nach der Investitionssumme gefragt wurden. Das ist lange her und Thomson bedauert es, überhaupt eine Zahl erwähnt zu haben. Wenn man ihn jetzt nach den fünf Millionen fragt, sagt er nur: „Schön wärs“.
Irgendwann mag er sich die Frage gestellt haben was bleibt, wenn die Computer der Firma heruntergefahren sind und eine Marke sang-und klanglos von der Bildfläche verschwindet. Wenn die teuren Statistiken und Auswertungen auf dem Bildschirm mit einer einzigen Bewegung des Fingers vom Bildschirm gewischt werden. Annandale bietet eine Antwort auf diese Frage. Hier werden künftig 250 000 Liter Whisky pro Jahr produziert. Das ist im Vergleich mit anderen Whiskybrennereien keine kleine Menge. „Die Destillerie soll eine Zukunft lange nach uns haben“, sagt Thomson.
Im Schatten des Baukrans, zwischen den Containern der Bauarbeiter haben sich die neuen Destillerie-Eigner einen Wohnwagen eingerichtet, der ihnen als Kommando-Zentrale ihres Unternehmens dient. Bauarbeiter-Helme liegen hier bereit, Schutzwesten und Gummistiefel für Gäste. Teresa Church empfängt ein Künstlerpaar aus der Küstenstadt Kirkcudbright. Die drei sind in der Enge des Wohnwagens auf der Sitzbank zusammengerückt. Malcom Rennie kocht Tee. „Wir haben durch die Destillerie unglaublich viele interessante Menschen kennengelernt“, sagt Church. Ihr gefällt das.
Als sie im Jahr 2006 das erste Mal hierher kamen, war eigentlich schon ausgemacht, dass das Gelände in Appartements umgewandelt werden sollte. Und mit dem Thema Whisky hatten sich beide nur ganz amateurhaft beschäftigt. Einige ausgefallene Flaschen gesammelt und auf Whisky-Messen mit Gleichgesinnten geschwätzt. Im November 2006 hatte sie ihrem Mann auf der Isle of Islay eine Art Schnupperkurs im Whiskymachen geschenkt. „Auch wenn ich es seltsam fand, so viel Geld zu bezahlen, nur damit David mitarbeiten durfte“, sagt sie. Bei diesem Kurs lernten sich Thomson und sein späterer Destillerie-Manager Rennie Malcom kennen. Kurze Zeit später fanden sie Annandale.
„Es hatte an dem besagten Tag die ganze Zeit geregnet“, sagt Church. Sie fahren auf die alten Bäume zu, vorbei an der Hecke aus Brombeeren und Schneeball. Auf einmal hört der Regen auf, die Sonne bricht hervor und unzählige Schmetterlinge flattern um sie herum. „Ich habe auf den Schornstein gezeigt und im Spaß gesagt: Guck mal David, da steht Dein Name drauf“, sagt Church. „Wir waren wie angefixt vor Aufregung.“
Viele Monate später stehen sie beieinander.
„Malcom, glaubst, Du dass wir guten Whisky machen werden?“, fragt Thomson.
Malcom steht in seiner typischen Haltung da: Die Hände auf Hüfthöhe tief in den Taschen seiner braunen Jacke vergraben. „Klar“, sagt er. Im Hintergrund bewahren schwere Eisenträger eine Mauer vor dem Einsturz. Die müssen erst noch weg.
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