Wie stark die Partei Alternative für Deutschland (AfD) tatsächlich bei der Berlin-Wahl abschneidet, ist reine Spekulation. Vermutlich wird sie aber in drei bis fünf Bezirken so viele Stimmen aus dem rechten Spektrum erhalten, dass sie nicht nur mit einer starken Fraktion im Bezirksparlament vertreten ist, sondern auch mit einem Stadtrat im fünfköpfigen Bezirksamt. Stimmenergebnisse von etwa 12 bis 15 Prozent bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) könnten dafür bereits ausreichen.
Denn bei der Bildung der Bezirksämter gibt es keine Koalitionen wie auf Landesebene, die die AfD aus verantwortlichen Posten fernhalten könnte. Vielmehr werden die Stadtratsposten nach der Stärke der Fraktionen verteilt: Je stärker eine Partei, desto mehr Stadträte stellt sie.
Mit AfD-Stadträten wird vor allem in den Ost-Berliner Bezirken Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick gerechnet. Dort vermutet man, dass Linke und SPD zusammen drei Stadträte erhalten, die CDU einen - den fünften besetzt die AfD. Während berlinweit die AfD in Umfragen bei 10 bis 15 Prozent liegt, rechnet man in diesen Bezirken mit AfD-Ergebnissen weit über 15 Prozent.
Das bedeutet, die AfD stellt Behördenchefs in Bezirken mit etwa 300.000 Einwohnern, das entspricht einer durchschnittlichen Großstadt. Das wäre in Deutschland ein Novum. Obwohl die AfD nicht die Mehrheit der Wähler repräsentiert, könnte sie ihre Politik in die Praxis umsetzen. Möglicherweise gelingt es der AfD auch in Spandau sowie in einem der City-West-Bezirke einen Stadtratsposten zu besetzen.
Mehrheit erforderlichDen anderen Parteien bereitet das Kopfzerbrechen. „Vor der Wahl reden wir darüber nicht. Wir kämpfen um jede Stimme, damit die AfD nicht zu stark wird", sagt ein Linken-Politiker aus Treptow-Köpenick. „Jetzt über das Unvermeidliche zu sprechen, spielt der AfD nur weiter in die Karten", sagt ein Stadtrat. Dass sie einen AfDler bald ins Bezirksamt hieven sollen, beschäftigt sie seit Wochen. Nicht wenige sagen: Die AfD in ein Regierungsamt wählen? Niemals!
Ein Stadtrat muss von einer Mehrheit im Bezirksparlament gewählt werden. Die Mehrheit in den Bezirken werden auch nach der Wahl Linke, SPD, CDU und Grüne stellen. Michael Grunst (Linke), Jugendstadtrat in Treptow-Köpenick und Chef seiner Partei in Lichtenberg, betont: „Wir wählen auf keinen Fall einen AfD-Stadtrat." Lars Düsterhöft, SPD-Bezirksverordneter in Treptow-Köpenick, sagt: „Ich mache doch nicht Wahlkampf gegen die AfD, wähle die dann aber ins Bezirksamt. Niemand kann mich zwingen, diese Leute zu unterstützen."
Weitere Stadträte, Fraktionschefs und Bezirksverordnete von Linke, SPD und Grünen bekräftigen, einen AfD-Vertreter nicht zu wählen. Wenn sie fachlich nicht geeignet seien, wurden in der Vergangenheit Kandidaten nicht gewählt, sagt Oliver Igel (SPD), Bürgermeister aus Treptow-Köpenick. So erging es in seinem Bezirk Marko Tesch (Linke) zum Beginn der Legislaturperiode. Nach mehreren gescheiterten Wahlgängen suchte die Partei einen neuen Kandidaten, der gewählt wurde. CDU-Stadtrat Michael Vogel fiel ebenfalls mehrmals durch, wurde später aber gewählt. In Reinickendorf war kürzlich nach dem Tod von SPD-Stadtrat Andreas Höhne der neue Kandidat Marco Käber erst intern umstritten, dann versagte die CDU ihre Unterstützung. Der Posten ist nicht besetzt.
Szenarien werden geprüft„Ein Stadtrat muss für den Job qualifiziert sein", sagen Stadträte. Sie bezweifeln, ob die AfD geeignete Kandidaten hervorbringen kann. Der Neuköllner AfD-Spitzenkandidat Jörg Kapitän scheint das zu bestätigen. Er sagte der Berliner Zeitung, er habe keine Ambitionen auf einen neuen Job. „Ich habe gar keine Vorstellung, was so ein Stadtrat macht." Ein SPD-Politiker merkt dazu an: „Ich weiß gar nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll."
Die AfD könnte ihr Vorschlagsrecht verwirken, wenn sie trotz mehrerer gescheiterter Wahlgänge auf denselben Kandidaten bestehen würde. Am Ende könnte die nächststärkste Partei den Stadtratsposten erhalten. Einen entsprechenden Streit müsste das Berliner Verwaltungsgericht klären. Denn die AfD wird kaum akzeptieren, dass man ihr jahrelang einen Stadtratsposten vorenthält.
Linke-Stadtrat Grunst lässt bereits im Rechtsamt mehrere Szenarien prüfen. Wenn die AfD in Lichtenberg zum Beispiel zweitstärkste Kraft würde, dann müsste die Wahl des AfD-Stadtrats direkt nach der Wahl des Bürgermeisters folgen. Die Wahlverweigerung durch das Parlament könnte bedeuten, dass das Bezirksamt arbeitsunfähig wird. Denn erst wenn drei von fünf Posten besetzt sind, darf das Kollegium mit der Arbeit beginnen. Grunst will diese Wahlreihenfolge auflösen, sonst müsste man den AfD-Stadtrat wohl oder übel in sein Amt wählen. Gar nicht ausmalen wollen sich Bezirksverordnete eine weitere Konsequenz: AfD als zweitstärkste Kraft hieße, dass der AfD-Stadtrat gleichzeitig stellvertretender Bürgermeister wird. Wenn der richtige Bürgermeister krank oder im Urlaub ist, würde die AfD den Bezirk führen.
Doch es gibt auch andere Stimmen. „Wir dürfen die AfD nicht weiter in die Opferrolle drängen. Die sollen mal zeigen, ob sie mit Macht verantwortungsvoll umgehen können", empfiehlt ein SPD-Bezirksverordneter. Und es gibt ein ganz praktisches Problem: „Wenn ein Posten im Bezirksamt frei bliebe, dann müssten vier Stadträte die Arbeit von fünf erledigen", warnt Bürgermeister Igel. Die Arbeitsbelastung sei schon jetzt enorm. Ob man sich außerdem auf langwierige Gerichtsverfahren einlassen will, aus denen die AfD als Sieger hervorgehen könnte, ist ungewiss.
Beschränkte ZuständigkeitDer Druck auf die Bezirksverordneten könnte am Ende steigen. Für die Wahl eines AfD-Stadtrats gibt es Überlegungen: Einige Parteien planen, sich zu enthalten oder der Wahl fernzubleiben. In der BVV könnte ein Stadtrat nur mit den Ja-Stimmen seiner Partei gewählt werden. So geschehen in den 1990er-Jahren, als die rechtsextremen Republikaner Stadträte in mehreren Bezirken stellten.
Im Kollegium des Bezirksamtes müssen auch die Zuständigkeiten geklärt werden. Man will der AfD ein kleines und vermeintlich unwichtiges Amt geben, heißt es. Dort können sie keinen allzu großen Schaden anrichten. Kenner der Rechtslage widersprechen aber: Denn die Zuschnitte der Ämter sind berlinweit per Gesetz festgelegt. Angelegenheiten der Friedhöfe zum Beispiel unterliegen dem Tiefbau- und Landschaftsplanungsamt. Die AfD als Friedhofswächterin? Das geht nur, wenn sie gleichzeitig Straßen baut und die Landschaft gestaltet. „Ein unwichtiges Amt gibt es nicht mehr", sagt Igel. „Und mindestens ein solches Amt muss ein Stadtrat verwalten." Ein anderer SPD-Stadtrat merkt an: „Ich will dem AfDler nicht ein kleines Amt geben, damit er dann nichts zu tun hat, dennoch sein Gehalt einstreicht und nebenbei repräsentative Aufgaben wahrnimmt. Man muss den hart arbeiten lassen und sehen, ob er seinen Job überhaupt hinbekommt."