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Warum die Gegenwartskultur vom Kulturkampf lebt

Wahrscheinlich war es noch nie so einfach wie heute, Konservative von Reaktionären zu unterscheiden: Denn während die Linke sich ein immer autoritäreres Gepräge zulegt, je linksliberaler sie wird, lassen sich Konservative seit Jahren darauf ein, auf jedes Zeitgeistphänomen mit reaktiver Hysterie zu antworten anstatt mit der skeptisch analysierenden, souveränen Haltung, die den Konservativen vom Reaktionär unterscheidet. Wer sich dermaßen kategorisch gegen die heutige Linke stellt, ohne überhaupt zu versuchen, ihre Rolle und Funktion zu verstehen, ist auf dem besten Weg, ein sogenannter „Contrarian" zu werden.


Besonders in der US-amerikanischen Rechten ist dieser Begriff inzwischen zur selbstgewählten Bezeichnung für Personen avanciert, die sich ihrem eigenen Anspruch nach dem Zeitgeist radikal entgegenstellen: Sie schimpfen auf den Feminismus, die „woken" Universitäten und schauen Videos von Jordan Peterson oder Ben Shapiro. Ihr ganzes Weltbild beruht darauf, eine Antwort auf die Vormachtstellung einer Linken zu finden, die mit dem Begriff „woke" nur recht unscharf umschrieben wird.


Aktions-Reaktions-Ideologiebildung

Entsprechend grob mutet das an, was „Contrarians" zu Themen verlautbaren, die über einen Kommentarspalten-Kulturkampf hinausgehen: Die Grünen sind für die Ukraine? Dann scheint an der Sache ja irgendetwas faul zu sein. Muslime demonstrieren gegen die Thematisierung von Homo- und Transsexualität an Schulen? Dann sind die „Contrarians" sofort zur Stelle, denn sie sind ja auch gegen die queere Linke und die „Frühsexualisierung" der Kinder. Diese völlig stumpfe Aktions-Reaktions-Ideologiebildung bestimmt jede Gedankenbewegung der „Contrarians".

Ein besonders aktuelles Beispiel: Schon lange bevor der Film „Barbie" im Juli 2023 in die Kinos kam, waren die Reflexe bei den „Contrarians" mobilisiert. Der Film sei „woke" - schließlich sei alles, was heute aus Hollywood komme, automatisch linke Propaganda. Wer „Barbie" jedoch Ideologiegetränktheit oder gar Männerhass unterstellt, muss einen anderen Film gesehen haben. Oder noch wahrscheinlicher: Er muss den Film vor allem als Projektionsfläche rezipiert haben.


Wertekanon der Gegenwart

„Barbie" ist zweifellos ein schlechter Film - das ist er aber nicht aufgrund einer böswilligen Agenda, sondern weil er den Zeitgeist so exakt repräsentiert, dass jeder sich darin wiederfinden kann: Der Film will um jeden Preis gefallen und verliert darüber jede künstlerische Qualität. „Barbie" ist nicht einmal wirklich ideologisch, denn alles, für was der Film einsteht, gehört längst zum breit akzeptierten Wertekanon der Gegenwart.


Da ist der postmodern-ironisierende Humor, der seine Kritik bereits vorbeugend zitiert und für unerheblich erklärt, da ist ein liberaler, für Selbstverwirklichung und Authentizität einstehender Kitsch-Feminismus und schließlich ist da eine zahnlose Patriarchats- und „Toxische Männlichkeits"-Kritik, die alle möglichen, teilweise schon halbtoten Klischees aufruft, dabei aber ja niemandem zu sehr auf die Füße treten will, denn - so heißt es am Ende sinngemäß - das Patriarchat schadet letztendlich ja allen und gut geht uns allen erst, wenn wir einfach wir selbst sind und schwer authentisch unseren Weg gehen.


Versatzstücke gegenwärtiger Kulturkämpfe

Man kann im Falle von Kulturprodukten wie „Barbie" insofern nicht einmal mehr von einer konsistenten Ideologie sprechen. Gerade weil ein Film wie „Barbie" zwar mit Versatzstücken gegenwärtiger Kulturkämpfe spielt, diese aber am Ende in ein wohlgefälliges Miteinander münden lässt, ist er ein besonders formvollendetes Produkt der Zeit. In ihm kommt eine Ideologie des Einverstanden-Seins mit einer totalen Gegenwart zum Ausdruck, die wenig Substanz, dafür aber umso mehr Dichte besitzt. Jeder kann damit etwas anfangen - das zeigt der umfassende Erfolg des Films, der bereits über eine Milliarde Dollar weltweit eingespielt hat.

Selbst die, die den Film nur anschauen, um sich über seine vermeintliche Botschaft zu echauffieren, benehmen sich ungewollt so, als wären sie Teil der Marketingstrategie des Films: Die Empörung gehört zur Hype-Logik, bestätigt die Fans und schürt die popkulturelle Verheizung des Produkts weiter an. Ekstase oder Abscheu sind vorher eingeübt, werden eigentlich nur aufgerufen, um zwischen unzähligen Memes, vorhersehbaren Tweets und grüblerischen Feuilleton-Texten wieder so schnell zu verschwinden, wie sie aufgetaucht sind.

Keine Spur von Debatte oder Kritik, denn man hat sich in dem zu ergehen, was man heute überall Diskurs nennt: ein bloßes Abspulen von Stichpunkten, Affekten und brüchigen Podcast-Gedanken, die sich längst vom eigentlichen Gegenstand entfernt haben. Und am Ende redet die halbe Welt über den Werbe- und Imagefilm eines Spielzeugkonzerns.


Postmoderne Aufmerksamkeitsökonomie

Die Kulturkampf-Logik verhindert so von vornherein jeden Versuch, die Bedeutung eines popkulturellen Phänomens wie „Barbie" auf den Punkt zu bringen. Gerade weil die postmoderne Aufmerksamkeitsökonomie von der einkalkulierten Kontroverse lebt, erscheint die Gegenwart als ein endlos variierter, im Kern aber gleichbleibender Kulturkampf. Mit zunehmender Wiederholung nimmt aber nicht nur die Originalität der Argumente ab, sondern auch ihre formale wie inhaltliche Qualität.

Fast bekommt man das Gefühl, dass ein Großteil der kulturkriegerischen Auseinandersetzungen von einer KI verfasst werden könnte, ohne, dass jemand den Unterschied bemerken würde: Die Argumente sind so oder so beliebig austauschbare Zitate in glatt positivistischer Informationssprache. Die KI gilt es nicht zu fürchten, wenn die Menschen ihr Sprach- und Denkvermögen bereits auf ihr Niveau herabgesetzt haben. Lebendige Gedanken scheint es nur noch abseits dieses Kulturkampfes zu geben.

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