Es ist stets massentauglich, die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft zu beklagen. Dabei steht das, was derzeit unter dem Queer-Banner stattfindet, für das genaue Gegenteil.
Wie sich grundsätzlich sinnvolle Kritik mitunter selbst sabotiert,
lässt sich gegenwärtig an der Debatte um Trans-Aktivismus und angebliche
(Früh-)Sexualisierung studieren.
Die in Amerika wie in Europa
anhaltende Diskussion drehte sich ursprünglich um den zentralen
Glaubenssatz des Trans-Aktivismus, dass das Geschlecht frei wählbar und
damit nichts weiter als eine letztendlich beliebig füllbare Leerstelle
sei. In erster Linie sind es Feministen, die gegen dieses Dogma
aufbegehren und auf die biologische Grundierung menschlicher
Geschlechtlichkeit verweisen: Wenn jeder sich willkürlich als Frau
definieren kann und vom Staat in diesem Recht geschützt wird, dann sind
Schutzräume für Frauen bald passé, während beispielsweise Frauensport zu
einer komplett absurden Veranstaltung verkommt.
Diese oft wiederholten Argumente gegen die Behauptung, ein
sich als Frau identifizierender Mann sollte als eine Frau wie jede
andere behandelt werden, sind in ihrer Einfachheit durchaus korrekt,
auch wenn die als transfeindlich geächteten Kritiker etwas hilflos vor
dem Phänomen zu stehen scheinen, dass die Zahl der Transitionen gerade
jüngerer Menschen in den letzten Jahren enorm angewachsen ist. Um das
alles begreifen zu können, müsste man die Gesellschaft als Ganzes in den
Blick nehmen und versuchen, auf den Begriff zu bringen, welche
Verhältnisse das Bedürfnis nach einer möglichst frühzeitig
vorzunehmenden Geschlechtsumwandlung sowie den Wunsch nach unbedingter
Flexibilität in allen Lebensbereichen und damit auch in der
leiblich-sexuellen Sphäre überhaupt erst wecken.
Sich eine solche
Entwicklung nur als Propagandaerfolg übergriffiger Ideologen zu
erklären dokumentiert stattdessen die Ratlosigkeit der Kritiker.
Konfuse Kritik
Der inzwischen immer häufigere Vorwurf lautet, dass Kinder unter dem Vorwand der Aufklärung über sexuelle Vielfalt zunehmend mit nicht altersgerechten Informationen über Sexualität konfrontiert würden. Einmal sind es überarbeitete Lehrpläne an Schulen, einmal der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die angeblich für Indoktrination und Frühsexualisierung sorgen. Im angloamerikanischen Raum häufen sich währenddessen die Vorwürfe gegenüber transgeschlechtlichen Menschen, sogenanntes „Grooming“ zu betreiben. Der Terminus, der normalerweise die gezielte und manipulative Kontaktaufnahme Pädophiler zu Kindern beschreibt, fungiert in der Trans-Debatte lediglich als willkürlicher Schockbegriff mit dem Ziel, entsprechend negative Affekte wachzurufen: Trans-Aktivisten wird unterstellt, Kinder bewusst und systematisch umerziehen und sexuell belästigen zu wollen.
Alte Rollenmuster
Den
Trans-Aktivismus gelte es zu kritisieren, ohne sich in solche
Schauermärchen zu flüchten. Dass in ihm die Stereotypen alter
geschlechtlicher Rollenmuster ein Comeback feiern, wenn Jungen, die mit
Puppen spielen oder rosa Kleidung tragen wollen, unterstellt wird, sie
seien in Wirklichkeit Mädchen, stellt eindeutig einen enormen
Rückschritt dar. Die Sorgen gerade von schwul-lesbischen Gruppen, die in
den zunehmenden Transitionen eine Art versteckte Konversionstherapie
von vor allem jungen, verunsicherten homosexuellen Menschen zu
heterosexuellen Transfrauen oder -männern befürchten, sollte man vor
diesem Hintergrund ernst nehmen. Darüber hinaus spiegelt auch die
zunehmende Anzahl von Menschen, die ihre Geschlechtsumwandlung bereuen
und sich für eine sogenannte Detransition entscheiden, wider, dass die
in einer Transition zum Ausdruck kommenden Wünsche nicht selten
unerfüllt bleiben.
Eine Kritik jedoch, die sich des Begriffs der
Frühsexualisierung bedient, assimiliert sich dem Zerrbild, das
Trans-Aktivisten seit Jahren von ihr zu zeichnen versuchen. Denn die
Befürchtung, sexuelle Minderheiten würden Kindern irgendetwas aufzwingen
wollen, ist tatsächlich Bestandteil einer reaktionären, früher auf eine
vermeintliche Verbindung von Homosexualität und Pädophilie zielenden
Erzählung, die das Kindeswohl durchgehend von degenerierten Perversen
gefährdet sieht und wohl häufiger den sexualneurotischen Fantasien der
Erwachsenen als einer realen Bedrohung entstammt.
Abwehr des Sexuellen
In
Vergessenheit geraten sollte nicht, dass das Schreckbild Sexualisierung
die Linken und Rechten sogar eint. Während die konservative
Kulturkritik sie dort zu identifizieren meint, wo als unschuldig und
rein imaginierte Kinder von sexuellen Themen belästigt werden, entrüsten
sich Linke vorrangig über eine mutmaßliche Sexualisierung des
weiblichen Körpers in Medien und Werbung.
Der sachgerechte Blick
ist beiden dadurch verstellt, dass das Sexuelle im Denken der moralisch
Empörten Assoziationen von Gefahr und Erniedrigung weckt, die sie nach
außen projizieren. In der These beispielsweise, bestimmte Werbung
degradiere Frauen zu niederen Objekten, drückt sich zumeist der Missmut
aus, zwischen tatsächlich sexistischen Darstellungen und bloßer
Freizügigkeit zu unterscheiden. Hinter der Warnung vor der
Übersexualisierung verbirgt sich oft der Unwille gegenüber jedweder
Sinnlichkeit – davon zeugt der Umstand, dass man Objektifizierung heute
als Synonym für Abwertung und Entmenschlichung im Munde führt, anstatt
sie als ambivalente, deswegen aber nicht weniger grundlegende
Voraussetzung von sexueller Anziehung und Bewunderung anzuerkennen.
Der
stets massentauglichen Empörung über die zunehmend sexualisierte
Gesellschaft fehlte schon immer die nötige analytische Geschliffenheit,
weil sie den Schein der Liberalisierung für bare Münze nahm. Die
entsexualisierte Öffentlichkeit, die diese Kritik herbeiruft, bereitet
die Gender-Linke auf ihre Art schon längst von selbst: Wer sich 60
verschiedene Geschlechter mit je eigenen Pronomen sowie Dutzende
Sexualitäten mit je eigener Flagge ausdenkt, die jede noch so kleine
Schrulle zum substanziellen Persönlichkeitsmerkmal erheben, befreit den
Sexus jedenfalls nicht, sondern erklärt ihn zur profanen
Verwaltungsangelegenheit.
Eine erneute Grenzziehung
Realiter besteht die queere Pseudo-Utopie sexueller Emanzipation eigentümlicherweise darin, die Grenzen des Sexuellen aufzuweichen und weiter zu stecken, um sie dann erneut umso strenger zu ziehen, indem man sie von konkreter Leiblichkeit weitgehend entkoppelt. Die derart zugleich ent- wie begrenzte, symbolische Neustrukturierung des Sexuellen ist allerdings nicht identisch mit deren Entfaltung, weshalb Gender-Studies-Seminare und queere Gruppentreffen wohl auch weniger Orte der Lust als Stätten der identitären Selbstvergewisserung und der Belauerung sind. Von einer Sexualisierung kann keine Rede sein, wo die Prüderie unserer bestehenden Gesellschaft doch nur bunt potenziert wird.
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