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Die neue deutsche Selbstverknechtung und der Hass auf die Unfolgsamen

Die Empfehlung, gesund zu leben, hat heute längst nötigenden Charakter: Einige Krankenkassen bieten Bonusprogramme mit Prämien für Versicherte an, die die Daten ihrer Fitnessuhr an sie weiterleiten. Alkohol, so warnen aktuelle Studien, sei auch schon in geringen Mengen schädlich. Von ungesundem Essen wird tunlichst abgeraten und wer nicht freiwillig verzichtet, muss sich eben mit gestiegenen Preisen für fettige und zuckerhaltige Produkte arrangieren. In Neuseeland begnügt man sich dagegen erst gar nicht mit höheren Tabaksteuern und verbissenen Präventionskampagnen, denn zukünftig soll das Rauchen dort für junge, sozusagen zu spät geborene Menschen lebenslang verboten werden.
Hierzulande fällt es der Öffentlichkeit hingegen sichtlich schwer, sich von Pandemie-Maßnahmen zu verabschieden, deren übereifrige Befolgung sich inzwischen zum Kriterium für Anstand und Moral entwickelt hat. Das längst säumige Vorhaben beispielsweise, die Maskenpflicht zum 2. April weitestgehend abzuschaffen, stellen nicht nur einige als Alarmisten auftretende Virologen und Politiker infrage; auch in Teilen der Bevölkerung fühlt man sich unwohl bei dem Gedanken daran, dass das öffentliche Leben bald wieder von gesundheitspolitischen Anordnungen, Einschränkungen und Verboten befreit sein könnte.
Es wäre kurzschlüssig, all diese Entwicklungen als Konsequenzen unerfreulicher, aber schlussendlich vernünftiger Abwägungen zu betrachten. Vielmehr scheint sich in ihnen eine Mentalität auszudrücken, die sich ehemals in der gesundheitsbewussten, auf Einklang mit der Natur zielenden Esoterik beheimatet fühlte und sich aktuell einen wissenschaftlichen Anstrich verpasst: Gesunde Lebenspraxis wird zum alles überlagernden Ziel. Für die WHO beispielsweise ist Gesundheit ein „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Damit wird unterschlagen, dass der Begriff des „vollständigen Wohlergehens“ willkürlich ist, da er sich selbst mit Bezug auf den ihm vorausgehenden Zustand relativiert. Unfreiwillig zeigt er somit auf, dass es sich bei der Jagd nach vollkommener, dauerhafter Gesundheit nicht einmal um ein erreichbares Ziel, sondern einen absoluten Daseinszweck handelt.

Die neurotische Gesellschaft
Wenn viele Menschen seit zwei Jahren jeden hustenden Fremden misstrauisch anglotzen, kategorisch keine Hände mehr schütteln und sich panisch fragen, ob ihr Gegenüber auch wirklich genug auf die hygienisch gebotenen Standards achtet, dann benennt man diese eigens erdachte Erweiterung staatlicher Maßnahmen nur deswegen nicht korrekt als neurotisches Verhalten, weil man dieses nun offenbar als Inbegriff von Verantwortungsbewusstsein begreift. Misanthropische Impulse der Scheu und des Ekels sind jedem zuweilen eigen und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Fatal ist jedoch die Rationalisierung dieser Idiosynkrasien, die die Frage, was es auf Dauer bedeutet, seine Mitmenschen als wandelnde Virenschleudern zu betrachten, nicht einmal mehr stellt.
Ein solcher hypochondrischer Gesundheitswahn gebietet viel eher, in Gedanken zwanghaft zu antizipieren, was für Gesundheitsrisiken die Nähe zu Leuten birgt, die als Parasiten am Volkskörper ausgemacht werden. Lange Zeit nahmen diesen Platz Raucher ein. Seit vergangenem Jahr trifft der Zorn die Ungeimpften beziehungsweise überhaupt jene, womöglich auch geimpften Menschen, die die Pandemie nicht zur Erprobung der unbedingten Abwendung vom gesellschaftlichen Leben genutzt haben.
Mit diesem Hass auf die Unfolgsamen, die aus dem gesunden Gemeinschaftsklumpen ausscheren, wird in erster Linie die Ahnung von der eigenen Selbstverknechtung und dem tatsächlichen oder lediglich zugeschriebenen Genuss der Anderen kompensiert. Schon der Publizist und Soziologe Wolfgang Pohrt schrieb 1985: „Seit es den Bürger gibt, leidet er darunter, vor lauter Bausparen und ängstlichem Vorsorgen nie zum eigentlichen Leben zu kommen. Seit es den Bürger gibt, empfindet er deshalb eine tiefe Hassliebe zu den Zigeunern oder zur Bohème, wo man angeblich jeden Augenblick bis zur Neige auskostet, von der Hand in den Mund lebt und keine Gedanken an die Zukunft oder die lachenden Erben verschwendet.“
Heute wäre es anachronistisch, vom Bürger und der Bohème zu sprechen, wenn ersterer nur noch als zivilgesellschaftlich dressierter Aktivbürger existiert und letztere irreversibel im staatsverbundenen Medien- und Kunstprekariat verloren gegangen ist. Was sich allerdings überlebt hat, ist jene Hassliebe gegenüber den vermeintlich Sorglosen, von der Pohrt sprach: Nach wie vor betrachtet man sie beinahe gesellschaftsübergreifend mit einer Mischung aus Neid und Verachtung, weil sie sich noch trauen, das in Anspruch zu nehmen, was man für sich selbst als verboten und schädlich erkannt hat, also zum Beispiel den Konsum von Rausch- und Genussmitteln.
Der Groll entspringt der Tatsache, dass das Tabu stets über ein lockendes, anziehendes Moment verfügt. Dass hingegen das Aufwerten der eigenen Enthaltung von Vergnügen und Ausgelassenheit nicht die gewünschte Zufriedenheit einbringt, bezeugt die daraus erwachsende Unfähigkeit vieler Menschen, einen zivilisierten Hedonismus zu leben. Stattdessen besteht allein die Alternative zwischen verstockter Askese oder überdrehtem Exzess, Abschottung oder Überheblichkeit, Abstinenz oder Komasaufen.

Lust und Genuss
Was heute kaum noch anerkannt wird, ist der Umstand, dass die Begriffe der Lust und des Genießens immer eng mit denen des Lasters, des Risikos und des Experiments verbunden waren. Gerade das Wissen darum, dass man einer nicht komplett sicheren Tätigkeit nachgeht, aber zumindest für eine gewisse Zeit so tut, als ob keine Gefahren bestehen würden, macht die Attraktivität aus. An risikofreien, einwandfrei ungefährlichen Tätigkeiten, egal ob es dabei nun um das Trinken von Bier ohne Alkohol oder das Familientreffen per Zoom oder Skype geht, gefällt dagegen allerhöchstens die heilige Gewissheit, weder sich noch anderen potenziell zu schaden.
Doch diese Spannungsminimierung reduziert das Leben auf trübes Dahinvegetieren. Zwar schmückt sich eine solche Haltung mit der Erhabenheit des von Leichtsinn und Wagemut freien Lebensschutzes. Sie missachtet indessen die Implikationen dieser demonstrativen, ängstlich-paranoiden Obacht, die Wolfgang Pohrt ebenfalls treffend auf den Punkt brachte: „Es steckt in dieser dauernden Sorge und Warnung vor Gefahr für Leib und Leben logisch zwingend die Perspektive, ein Menschenleben vorrangig unter dem Gesichtspunkt seiner Auslöschbarkeit zu betrachten.“ Sie bringt sich also selbst um das, was sie eigentlich gewährleisten will: die Voraussetzung, überhaupt einigermaßen frei und genussreich leben zu können.
Die Kehrseite dieser lebensüberdrüssigen Zurückgezogenheit findet man schließlich in banalen, unangenehm schicksalsergebenen Aussagen wie „Krankheit und Tod gehören zum Leben dazu“, die das obsessive Bestreben, das Leben stets am Maßstab des potenziellen Ablebens auszurichten, nur abstrakt negieren, ohne seine Grundlagen anzutasten. Zwischen beiden Seiten herrscht keinerlei Entscheidungszwang. Denn diese Gegenüberstellung macht einen Gegensatz auf, der gar nicht ins Denken dringen würde, wenn es noch ein Bewusstsein gäbe, dass Lust und Genuss weder zu vermeidende Wagnisse sind, noch Gebote, seine Lebenszeit möglichst produktiv auszubeuten."

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