Man muss eine Szene genauer beschreiben: Da schwebt, nach ein paar ganz netten und aus Werbespots bekannten Liedern, die - zugegeben - auch 2015 noch halbwegs knallen, ein animierter Satellit über einer Atari-Erde auf die Zuschauer zu. Nicht schnell, ganz gemütlich. Und das genügt schon. Die Leute rasten aus. "Wow" rufen sie, sie lachen verzückt, so krass. Das letzte Mal, als ich so etwas sah, war im Phantasialand im 3D-Kino. Das war ein Vergnügungspark im Rheinland, den Michael Jackson wohl mochte, er ist da mal mit der Achterbahn gefahren. Ich war damals noch ein Kind. Dieser Satellit schwebt also auf die paar tausend Menschen zu. Mehrmals. Und die sind hellauf begeistert. Mehrmals.
Klar, man kann darüber streiten, ob es nicht eine solche Form der Musikhistorie geben müsse. Ob nicht Geschichte gekannt werden müsse, um die Gegenwart zu verstehen. Es gibt gute Gründe, sich mit den Vorfahren zu beschäftigen, zumal, wenn sie zig Stile wie Techno, HipHop, Elektropop und anderes mit angeschoben haben. Aber gute Kunst hätte uns auch jetzt gerade noch etwas zu sagen. Und gute Künstler wären um Updates und Neusortierungen bemüht. Wenn zu diesem Konzert so viele kommen, um augenscheinlich ihre eigene Jugend nostalgisch zu verklären, dann ist es auch ein valides Argument ganz hedonistisch festzuhalten: Das ist ganz schrecklich, unfassbar, abgrundtief langweilig.
In einem größeren Zusammenhang wird es nicht besser. Selbst ein Song wie "Computerwelt", der in seiner Warnung vor einer weitreichenden Überwachung durch staatliche Behörden und Unternehmen eigentlich schrecklich aktuell sein könnte, ist durch seine Aufführung mit den altbackenen Stimmverzerrungen, den statisch-klobigen Buchstaben, die die Leinwand in permanentem Color Blocking füllen, so sehr historisiert, so sehr vom Jetzt abgewandt, dass es erst mal sprachlos macht.
Die Kostüme sind Tron, also 1982. Die Animationen sind, wir hatten das schon, Neunziger. Und die Hits, wegen denen Mensch hier ist, reichen zurück bis in die Siebziger. Nichts davon kann sich aus der Nostalgiefalle befreien. Mark Fishers Hinweis, der Synthesizer sei schon lange kein Marker mehr für eine zu gestaltende Zukunft, sondern blanke Nostalgie, bekommt durch Kraftwerks Schaffen mindestens des letzten Jahrzehnts die perfekte Verkörperung. Das hier ist nichts weiter als die Verwaltung von uralten Routinen. Man lege einfach mal Holly Herndon s aktuelle Auseinandersetzung mit Big Data in "Home" neben Kraftwerks 2015-Version von "Computerwelt". Man will nicht glauben, dass da "nur" 30 Jahre dazwischenliegen. Und es zeigt sich in Klarheit das Problem, das sich für die elektronische Musik im Allgemeinen und für Kraftwerk im Speziellen stellt: Wer so sehr am Puls der Zeit sein will, wer in seiner kompletten Ästhetik auf den Stand der Technik abzielt, altert sehr schnell.
Die ursprüngliche Idee Kraftwerks, sich mit dem ambivalenten Verhältnis von Mensch und Technik auseinanderzusetzen, wird so kassiert. Waren Kraftwerk auf dem Höhepunkt ihrer Schaffensphase weder fortschrittsgläubige Naivlinge noch Reaktionäre mit Fluchtreflex, bezogen sie eine Position dazwischen, die einerseits möglichst viel herausholen wollte auf der Höhe der Zeit, andererseits aber vor etwaigen Katastrophen warnen, sind sie nun Symbol einer völligen Auslieferung an die Autorität der Tradition, der Klassiker. Sie sind eine Auslieferung an die Unfreiheit. Eine gestaltbare Zukunft ist nirgendwo in Sicht. Dafür ganz viel Verklärung und Klitterung früherer Jahrzehnte und Lebensabschnitte. Für 70 Euro ein Ausflug in Zeiten ohne Smartphones und mit weniger Burn-outs. Wofür Kraftwerk einmal standen, ist ins Gegenteil verkehrt: Sie stehen für das Angestaubte, für alte Casio-Taschenrechner, für Entschleunigung, das Simple, leicht Verständliche. Als Kraftwerk diese Phase der Kanonisierung vor Jahren selbst ohne jeden Widerstand umarmten, ging eine Deutung unter Kolleginnen und Kollegen um, die perfide Volten schlägt: Indem Kraftwerk sich der Innovation verweigerten, seien sie das perfekte Bild unserer Gegenwart. Das so zu sehen, ist nackte Kapitulation, die gar keine normativen Ansprüche mehr formulieren kann. Scheußlich.