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Die Insel der Neuanfänge: 125 Jahre Ellis Island

Vor 125 Jahren wurde die Einwanderungsbehörde auf Ellis Island eröffnet. Foto:dpa

Von Neli Mihaylova

Es war kalt, als Annie Moore und ihre jüngeren Brüder Philip und Anthony mit einem einzigen Koffer an Bord der SS Nevada gingen. An jenem 20. Dezember 1891 begann im Hafen der irischen Stadt Cobh für die Geschwister eine Reise ins Unbekannte. In New York, am anderen Ende des Ozeans, warteten ihre Eltern auf sie, die vier Jahre zuvor ausgewandert waren.


Zwölf Tage brauchte der Dampfer, um den Landungssteg am Hudson River zu erreichen. Doch die Reise der 148 Passagiere endete nicht dort. Am Morgen des 1. Januar 1892 wurden sie zur neu eröffneten Einwanderungsbehörde auf der kleinen Insel Ellis Island befördert. Und die nichtsahnende 17-jährige Teenagerin Annie Moore wurde die erste Immigrantin, die über diese zentrale Sammelstelle einwandern durfte.


Vor 1890 waren die einzelnen Bundesstaaten für die Bearbeitung der Dokumente der Einwanderer zuständig. Zwischen 1855 und 1890 diente die ehemalige Festung Castle Garden im Bundesstaat New York als Empfangsstation für über acht Millionen Menschen, die überwiegend aus Nord- und Westeuropa kamen. Politische Instabilität, Hungersnöte, zahlreiche religionseinschränkende Gesetze sowie die schlechte wirtschaftliche Lage in vielen europäischen Ländern führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der größten Migrationswellen der jüngeren Geschichte.


Castle Garden wurde zu eng

Castle Garden an der Südspitze Manhattans wurde zu eng. Und die Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten wurde strenger. Mehrere Änderungen des Einwanderungsgesetzes führten zu ausführlichen Kontrollen der Neuankömmlinge. Die Neuerungen sahen unter anderem vor, dass Einwanderer, die illegal ankamen oder innerhalb eines Jahres nach der Einwanderung Sozialleistungen empfingen, abgeschoben werden mussten.


1891 beschloss der US-Kongress, dass die Einwanderung in die USA auf Bundesebene kontrolliert werden sollte. Infolgedessen wurde die zentrale Behörde auf Ellis Island gegründet. Die Insel wurde ausgewählt, weil sie sich ganz in der Nähe New Yorks befand, jenes Hafens, durch den damals etwa 70 Prozent aller Einwanderer ins Land kamen.


Der 1. Januar 1892, der Eröffnungstag der Einwanderungsbehörde, war ein eiskalter Tag. Die „New York Times" schrieb: „Der Boden ist bedeckt mit Frost und steinhart". Drei Passagierschiffe warteten vor Ellis Island an jenem Tag: die „City of Paris", die „Victoria" und die „Nevada", der Dampfer, auf dem auch Annie Moore und ihre Brüder waren. Da der Name „Nevada" am amerikanischsten klang, wurde das Schiff für die offizielle Zeremonie ausgewählt.


Warum ausgerechnet Annie Moore als erste an Land ging, ist nicht überliefert. Die „New York Times" berichtete, dass das „Mädchen mit den rosa Bäckchen" am 1. Januar ihren 15. Geburtstag feierte. Spätere Untersuchungen zeigten jedoch, dass sie im Frühjahr geboren worden und zwei Jahre älter war.


Für die überraschte irische Einwanderin gab es einige Begrüßungsgeschenke: Der Leiter der Station auf Ellis Island überreichte ihr eine goldene Münze im Wert von zehn US-Dollar, von einem Missionsarbeiter bekam sie eine Silbermünze. Ein weiterer Beamter schenkte ihr ein Goldstück im Wert von fünf Dollar. An jenem ersten Tag wurden die Dokumente von 700 Immigranten bearbeitet. Bis zum Ende des Jahres waren es fast 450 000. Bis zur Schließung der Behörde im Jahr 1954 durchliefen mehr als zwölf Millionen Immigranten die Station. 40 Prozent aller Amerikaner haben heute Vorfahren, die über Ellis Island ins Land kamen.


Dass Kinder wie Annie Moore und ihre Brüder erst Jahre später nachkamen, war nicht unüblich. Zwischen 1900 und 1910 schlossen sich über 95 Prozent der Migranten Verwandten an, die bereits in den USA lebten. 1890 wurden rund 50 Prozent der Tickets der europäischen Passagiere in den USA gekauft. Annie Moores Vater, der Hafenarbeiter Matthew Moore, brauchte einige Jahre, um das Geld für die Schiffskarten seiner Kinder beiseite zu legen.


Drei bis sieben Stunden Inspektion

Die Inspektion in der Einwanderungsbehörde dauerte mit Befragungen, Untersuchungen und Tests zwischen drei und sieben Stunden. Die Passagiere der ersten und zweiten Klasse wurden bereits an Bord kontrolliert und medizinisch untersucht. Sie mussten nicht mal das Schiff verlassen. Amerikanische Bürger wurden überhaupt nicht kontrolliert.


Für die Schiffspassagiere, die die Reise nach Amerika im Zwischendeck verbrachten, galten andere Regeln. Das 1891 geänderte Einwanderungsgesetz schrieb vor, dass Menschen, die an psychischen oder ansteckenden Krankheiten litten, Sozialhilfeempfänger oder geistig behindert waren, nicht ins Land durften.


Alle Zwischendeck-Passagiere mussten deswegen ins Hauptgebäude der Einwanderungsbehörde. Dort wartete auf sie die erste Prüfung: die lange, steile Treppe, die zum großen Saal führte, in dem die Registrierung stattfand. Am oberen Ende der Treppe standen die Ärzte der amerikanischen Gesundheitsbehörde, die die Passagiere genau beobachteten: Atemschwierigkeiten deuteten auf Herzprobleme, verwirrte Blicke auf mögliche psychische Störungen hin.


Oben angekommen, folgte die nächste Untersuchung: Die Mediziner schauten sich genau das Gesicht, die Hände, das Haar und den Nacken der Passagiere an. Historische Akten zeigen, dass die erfahrenen Ärzte nach diesen, in der Regel nur wenige Sekunden dauernden Untersuchungen, in der Lage waren, über 60 unterschiedliche Krankheiten zu identifizieren. Mehr Zeit gab es sowieso nicht. Zwischen 1891 und 1898 waren nur zwei Ärzte für die Untersuchung von bis zu 5 000 Menschen am Tag zuständig.


Ein X bedeutete eine psychische Störung

Die Gesundheitsbeamten achteten besonders auf Symptome der Bindehautentzündung, einer ansteckenden Krankheit, die zur Erblindung führen konnte und die die sichere Abschiebung bedeutete.


Einwanderer, bei denen der Verdacht auf eine Krankheit bestand, wurden an der Schulter mit Kreide markiert und zu einer weiteren Untersuchung in die Klinik der Insel geschickt. Dies traf auf etwa 20 Prozent aller Einwanderer zu. Die Kreidemarkierungen hatten unterschiedliche Bedeutungen: Ein X auf der oberen Seite der rechten Schulter deutete auf eine wahrscheinliche psychische Störung hin. Ein X in einem Kreis hieß, dass der Einwanderer eindeutig psychisch krank war. Ein B bedeutete Rückenprobleme, ein G - Kropf, H - Herzprobleme, Pg - Schwangerschaft, Ct - Augenkrankheit.


Die Kranken wurden auf der Insel behandelt. Entweder bis sie komplett gesund waren oder stabil genug, um die Rückreise nach Europa durchmachen zu können. Kranke Kinder, die älter als zwölf waren, wurden alleine zurückgeschickt. Jüngere Kinder, die nicht in den USA bleiben durften, mussten mit einem Elternteil zurück nach Hause fahren.


1893 trat ein neues Einwanderungsgesetz in Kraft: Jeder Immigrant sollte vor der Abreise einen Fragebogen ausfüllen. Die Reisenden mussten unter anderem Namen und Adresse eines Verwandten in den USA angeben, nachweisen, dass sie mindestens 25 Dollar besaßen und dass sie nicht im Gefängnis oder in einer psychiatrischen Klinik gewesen waren. Die Reedereien wurden nach dieser Gesetzesänderung verpflichtet, die Rückreisekosten zu übernehmen.


Obwohl Ellis Island oft „die Insel der Tränen" genannt wurde, betrafen die Abschiebungen nur etwa zwei Prozent der Einwanderer. Die restlichen Immigranten, wie Annie Moore und ihre Brüder, durften nach der Registrierung in der großen Empfangshalle ihr neues Leben beginnen.


1,25 Millionen Einwanderer

1907 war eines der Spitzenjahre in der amerikanischen Einwanderungsgeschichte. Allein in diesem Jahr wurden mehr als 1,25 Millionen Einwanderer auf Ellis Island abgefertigt. 1921 führte die Regierung zum ersten Mal eine Quotenregelung ein, die die Einwanderung aus Süd- und Osteuropa eindämmen sollte. Das Not-Quotengesetz (Emergency Quota Act) bestimmte die Zahl der Einwanderer danach, wie viele Immigranten einer Nation zur Zeit der Volkszählung 1910 schon in den USA lebten. Davon ausgehend durften pro Jahr nur drei Prozent dieser Zahl je Nation einreisen. Insgesamt wurde die Anzahl der neuen Einwanderer auf knapp 360 000 pro Jahr beschränkt. 1924 wurde die Quotenregelung noch einmal verschärft. Besonders Menschen aus Ost- und Südeuropa waren nicht mehr gern gesehen, da sie als nicht integrierbar wahrgenommen wurden.


1932 war die Zahl der Abgewiesenen zum ersten Mal höher als die der zugelassenen Einwanderer. Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer Supermacht. In vielen Ländern der Welt wurden Botschaften eröffnet, in denen die Einwanderungswilligen Visa beantragen konnten. Da auch die Reisemöglichkeiten sich änderten, verlor Ellis Island immer mehr an Bedeutung und wurde 1954 geschlossen.


Seit September 1990 beheimatet das Hauptgebäude auf der Insel das amerikanische Museum zur Einwanderungsgeschichte. Fast zwei Millionen Touristen besuchen jährlich die Insel und erfahren mehr über die erste Immigrantin.


Nach ihrer Ankunft auf Ellis Island lebte Annie Moore ein bescheidenes Leben. Sie heiratete den deutschen Bäckermeister Joseph Augustus Schayer und hatte mit ihm elf Kinder. Mindestens fünf von ihnen starben aber jung. Moore selbst starb 1924 an einer Herzschwäche und wurde auf dem Calvary Cemetery in Queens begraben, nur wenige Kilometer Luftlinie von der Insel entfernt, auf der einst ihr neues Leben begonnen hatte.


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