Nancy Waldmann

journalist, Frankfurt Oder Słubice

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93 Straßenschilder - Polnische Straßen in Berlin

Ausstellung zu 93 Straßenschilder im projektraum Alte Feuerwache in Berlin-Friedrichshain

Warum sie nicht verschwanden – Das Namensgedächtnis Friedrichshainer Straßen

Dieser Artikel entstand als Teil des Projekts "93 Straßenschilder - Polnische Straßen in Berlin. Straßenschilder, die im August und September 2015 im Rahmen einer künstlerischen Intervention im öffentlichen Raum pink wurden, weil ihre alten deutschen Namen auf heute funktionierende polnische Städte mit polnischen Namen verweisen. Unter dem Titel "Soll die Grünberger Straße künftig Zielona-Góra-Straße heißen?" diskutierten wir den Wert dieser Situation.


„Die Geschichte könnt ihr nicht auslöschen“, erwidern die Gegner einer Umbenennung den Befürwortern oft. Meinen sie damit die Geschichte der Person, der Stadt, des Ereignisses, auf die ein Name verweist? Die Stadt Grünberg? Den Kommunisten Marchlewski? Oder meinen sie den Akt der Namensgebung, das politische und kulturelle Selbstverständnis, das dazu geführt hat, auf die Stadt Grünberg oder den Kommunisten Marchlewski im öffentlichen Raum zu verweisen? Sind Straßennamen Relikte? Oder sind es absichtlich platzierte Monumente, die nicht Vergangenheit, sondern das vergängliche Selbstverständnis einer Gesellschaft repräsentieren?

Oft sind sie beides, meistens noch viel mehr. Denn nicht jedes Mal, wenn sich ein Bezugsrahmen ändert, ein Regime stürzt oder ein Zeitgeist wechselt, ändert sich auch der Straßenname. Aber seine Bedeutung, sein bisheriger gedanklicher Kontext kann sich ändern oder erweitern. Die neun Straßen entstanden zwischen 1881 und 1912 (auch an den anderen Stellen). Und darum geht es auch bei dieser Aktion: Kontexte verstehen und erweitern. Uns treibt keine Absicht nach Umbenennung. Sondern wir fragen, warum sind sie noch da, die „polnischen“ Straßen mit den deutschen Namen in diesem Kiez? Was bedeuten sie jetzt? Was folgt daraus? Das birgt auch Zündstoff.

Friedrichshain war nach dem Zweiten Weltkrieg Teil Ostberlins, und hatte damals noch weitere Straßen, die auf Orte in Schlesien, Pommern, der Neumark, Großpolen, West- oder Ostpreußen verwiesen. Warum wurde eine Memeler, eine Tilsiter, eine Posener und eine Breslauer Straße umbenannt? Warum eine Glatzer, eine Proskauer, eine Graudenzer und eine Krossener Straße nicht?

Seit 1945 und den Abkommen von Jalta und Potsdam, teils auch schon seit 1919/20, gehörten diese Orte nicht mehr zu einem deutschen Staat, sondern wurden polnisch oder auch sowjetisch. Die deutschen Bewohner und die, die als solche galten, waren gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen. Das machte die Friedrichshainer Straßennamen nicht obsolet. Sie störten jedoch das Bild von der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“, das die DDR aufzubauen versuchte.

Die SED-Führung vertrat außenpolitisch offensiv die Gebietsabtritte. Bereits 1950 unterzeichnete sie das Görlitzer Abkommen mit Polen, in dem sie alle Ansprüche auf Gebiete östlich von Oder und Neiße aufgab, in Abgrenzung zur BRD, die einen solchen Vertrag bis nach der Wiedervereinigung hinauszögerte. Diese später als „verordnete Freundschaft“ bezeichnete Politik half dem von mörderischer deutscher „Lebensraum“-Politik, von Krieg, Genozid und Zwangsmigrationen geschüttelten Mittel- und Osteuropa, zur Ruhe zu kommen. Sie war ein tieferer geschichtspolitischer Bruch mit der jahrhundertelangen Ostkolonisation seit dem Deutschen Orden, die spätestens seit dem Kaiserreich zur „deutschen Zivilisationsleistung“ stilisiert wurde.

Innerhalb der Bevölkerung der DDR dürfte der Verzicht auf die Ostgebiete zunächst nicht auf mehr Akzeptanz gestoßen sein als in Westdeutschland. Mehr als vier Millionen „Umsiedler“ oder „Neubürger“ befanden sich in der Nachkriegszeit in der DDR. Diese von der SED-Führung eingeführten Bezeichnungen sollten das Konfliktpotential deckeln und die Gewalterfahrung tabuisieren, die diese Menschen mitbrachten. Selbst haben sich die meisten von ihnen als Vertriebene, bestenfalls als Flüchtlinge betrachtet. Wer in der Öffentlichkeit darüber sprach, machte sich verdächtig. Namen wie „Schlesien“ zu nennen, galt als revanchistisch und staatsfeindlich-westdeutsch. Die Lebensgeschichten von knapp einem Viertel der Bevölkerung waren aus dem offiziellen Diskurs verbannt, denn ihre Erinnerungen wären Hinweise auf die Vertreibungen gewesen.

Indirekt waren das auch die Friedrichshainer Straßennamen, die auf einmal etwas Verlorenes repräsentierten, an untergegangene deutsche Städte erinnerten. Schon nach dem Ersten Weltkrieg rückten die Namen teilweise in diesen gedanklichen Kontext vom „verlorenen“ oder „bedrohten deutschen Osten“, als Teile des Reichsgebiets mit Städten wie Posen und Graudenz an Polen abgetreten worden waren und andere näher an die Grenze zu den damals verfeindeten polnischen Nachbarn rückten. Im Zusammenhang mit dem verhassten Versailler Vertrag standen die deutschen Namen im öffentlichen Raum auch für die Machtoption auf die Revision des Vertrags.

Ursprünglich taten sie das nicht, sondern sie waren den Herkunftsregionen ihrer Bewohner entnommen. Ab den 1870ern strömten massenhaft Einwanderer in die rasant wachsende Metropole Berlin. Die Friedrichshainer Mietshausquartiere, nach dem Hobrechtplan von 1862 erbaut, schufen Wohnraum für hunderttausende Neuankömmlinge aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs. Die neun Straßen entstanden zwischen 1881 und 1912 und erhielten ihre Namen wie damals üblich per Königlicher Kabinettsorder.

Die Einwanderer stiegen aus dem Zug am damaligen Ostbahnhof am Küstriner Platz (heute Franz-Mehring-Platz), der Endstation der Ostbahn, die Königsberg, heute Kaliningrad, mit der Hauptstadt verband. Später fuhr die Bahn bis zum Schlesischen Bahnhof (der heutige Ostbahnhof), wo die Züge aus Breslau ankamen. Die meisten kamen mit wenig, sie strandeten zunächst in der rauen Gegend um den Ostbahnhof, viele blieben dort. Im Kiez gab es Bordelle, Opiumhöhlen und Banden von Schutzgelderpressern, aber auch soziale Einrichtungen und Theater. Später lieferten sich hier SA-Truppen und Kommunisten Straßenschlachten. Historiker sprechen mal vom „Baltenviertel“, mal vom „Ostpreußenviertel“.
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