Ein Abend im August, ein Familienaufstellungstreffen in der Freiburger Wiehre: Beate (Name von der Redaktion geändert) ist heute hier, weil sie befürchtet, dass die Tochter ihr entgleitet. Sie hofft, dass ihr das Treffen helfen wird. Beate will Klarheit über die Rollenverteilung in ihrer Familie bekommen. Dazu hat sie sich vor einiger Zeit an Saskia Kiebler gewandt. Die 42-jährige Freiburger Rechtsanwältin und Mediatorin arbeitet auch als zertifizierte Familienaufstellerin. Seit 2007 bietet sie solche Angebote in Gruppensitzungen an.
Es ist schon mehr als zehn Jahre her, seit Beate von ihrem Ex-Partner getrennt lebt. Ein halbes Jahr nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Franziska beendete sie die Beziehung . Noch dreieinhalb Jahre wohnten sie in derselben Wohngemeinschaft, dann zog Beate mit ihrer Tochter aus. Damals war Franziska vier Jahre alt. Vater und Tochter verbindet bis heute ein gutes Verhältnis. In letzter Zeit besucht die Jugendliche ihren Vater häufiger. Er und seine neue Frau unterstützen Franziska bei den Hausaufgaben und ihren Hobbys.
Die Mutter beobachtet das immer enger werdende Verhältnis mit Skepsis. Einerseits findet sie es toll, wie ihr früherer Mann Franziska unterstützt, andererseits fragt sie sich, ob sie der Partnerin ihres Mannes zu sehr das Feld überlassen hat. Die Tochter spürt diese Unsicherheit und zieht sich zurück.
Beim Familienstellen handelt es sich um ein szenisches Gruppenverfahren, das dabei helfen soll, seelische Konflikte zu lösen. Die Methode gründet auf der Annahme, dass psychische Probleme oft mit gestörten Beziehungsmustern der eigenen Familie einhergehen. Um diese zu erkennen, stellen die Teilnehmer einer Aufstellung ihre Familie als Standbild dar. Dazu ordnen sie andere Gruppenteilnehmer im Raum an, sodass deren Position ihrer persönlich wahrgenommenen Wirklichkeit aus Nähe und Distanz entspricht. Allein aufgrund ihrer Position können die Stellvertreter so Gefühle und Gedanken entwickeln, die jenen der Familienmitglieder entsprechen. Davon gehen Anhänger der Methode jedenfalls aus.
Nach dieser Logik macht es also einen Unterschied für den Teilnehmer, der den Ex-Mann der Aufstellerin vertritt, ob er abgewandt, zugewandt, entfernt oder nah aufgestellt wird. Er soll schildern, was das mit ihm macht. Während der Aufstellung beobachtet der Betroffene seinen Stellvertreter zunächst von außen. Durch die innere Distanz kann er im Idealfall die gestörten oder komplizierten Familienstrukturen erkennen.
Die Teilnehmer eines solchen Kurses kommen mit unterschiedlichsten Anliegen auf Saskia Kiebler zu. Manche möchten ihre Beziehungsprobleme verstehen, andere einen Einblick in das angespannte Verhältnis zur Mutter bekommen, wieder andere versuchen, Jobschwierigkeiten auf den Grund zu gehen. Doch die Methode ist umstritten. Das liegt unter anderem an Bert Hellinger. Der Theologe und Psychoanalytiker machte daraus ein Bühnenspektakel und geriet zunehmend in Kritik. In den 1990er Jahren entwickelte er in Südafrika als katholischer Priester seine Form der Familienaufstellung. Hinter der Methode steckt eine ausgearbeitete Weltanschauung, die als esoterisch kritisiert wurde. Seine Aufstellungen setzte Hellinger meist dramaturgisch wirksam auf der Bühne in Szene. Dabei ließ er einen Freiwilligen aus dem Publikum auf die Bühne kommen. Fachleute und Medien kritisierten ihn dafür, die Betroffenen bloßzustellen.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) distanzierte sich 2003 ausdrücklich von ihm: Statt umfassende Diagnostik zu bieten, inszeniere sich Hellinger als Orakel. Dabei wenden Familientherapeuten Aufstellungen in der so genannten systemischen Therapie bis heute an. Auch wenn die DGSF Hellingers Ausführung ablehnt, hält sie Familienaufstellungen an sich als diagnostisches und therapeutisches Hilfsmittel für berechtigt.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Michael Wirsching, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Freiburg. Seit vielen Jahren nimmt er mit Patienten Familienaufstellungen vor. Er hat Hellinger selbst noch beim Praktizieren in Heidelberg kennengelernt und hält von dessen Art der Aufstellung nichts. "Er wird kritisiert, weil er sich bestimmte Elemente der Familienaufstellung-Methodik herausgepickt und bei Großveranstaltungen eingesetzt hat." Um den Klienten in der Familientherapie zu schützen, müssten aus Wirschings Sicht jedoch verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssten die Aufstellungen Teil eines fortlaufenden Behandlungsprozesses sein. Zweitens sei es notwendig, dass sich die Gruppe untereinander gut kenne und einander vertraue. Drittens müssten die Gruppenleiter Psychotherapeuten sein.
Um zu veranschaulichen, wie sie Familienaufstellungen realisiert, hat Saskia Kiebler zu einer Aufstellung in ein Yogazentrum eingeladen. Dass eine Journalistin anwesend ist, wissen alle und waren einverstanden. Einige Teilnehmer kennen sich bereits aus anderen Sitzungen.
Nachdem die Yogagruppe den Raum verlassen hat, gehen die Teilnehmer in Socken rasch über den hellen Parkettboden und stellen Stühle zu einem Sitzkreis zusammen. Die Abendsonne wirft warmes Licht in den Raum. Durch die geöffnete Verandatür weht eine Brise. Unter den neun Teilnehmern sind auch zwei Männer. Saskia Kiebler wendet sich Beate zu. Sie hat sich bereit erklärt, die Aufstellerin der heutigen Runde zu sein. Jetzt schildert sie der Gruppe die Situation mit Tochter Franziska, ihrem ehemaligen Partner und dessen jetziger Frau. Ihr macht zu schaffen, dass die neue Partnerin ihres früheren Mannes viel redegewandter ist als sie. Zudem sei sie unglaublich engagiert als Ersatz-Mama. So engagiert, dass sie Angst habe, ihrer Tochter nichts Gleichwertiges geben zu können.
Saskia Kiebler hört aufmerksam zu. Dann bittet sie Beate ihr Anliegen zu nennen. Beate sagt: "Ich würde gerne wissen, was ich tun kann, um das Verhältnis zwischen mir, dem Vater und der neuen Frau zu entspannen, so dass es Franziska gut geht". Bisher sei das Verhältnis zwischen ihr und der Tochter sehr eng gewesen. Saskia Kiebler nickt und fordert Beate auf, Stellvertreter ihrer Familie auszusuchen. Beate erhebt sich und steuert auf den Mann zu, der neu in der Runde ist. Er soll ihren früheren Mann repräsentieren. Der Mann nickt, steht auf und lässt sich von ihr in die Mitte des Raums führen. Dann sucht Beate noch drei weitere Stellvertreter aus: einen für ihre Tochter, einen für die neue Frau ihres Ex-Manns und einen für sich selbst.
Schließlich setzt sie sich ebenfalls in den Stuhlkreis und schaut sich von außen ihre Aufstellung an. Ihr Alter Ego steht - ein Ziffernblatt gedacht - auf 12 Uhr, die neue Frau ihres Mannes auf 18 Uhr, direkt gegenüber, ihr Ex-Mann-Stellvertreter auf 17 Uhr und die Stellvertreter-Tochter auf 13 Uhr. Vater und Tochter trennen fast eineinhalb Meter, wohingegen sich die Schultern von Mutter und Tochter fast berühren.
Gruppenleiterin Kiebler steht neben der Anordnung. Sie fragt die Tochter, wie sie sich fühlt. Diese antwortet: "Mir ist das etwas zu dicht, so Schulter an Schulter mit meiner Mutter, mich drängt es weg". Sie macht einen Schritt zur Seite und steht nun näher bei ihrem Vater. Danach wird sie erzählen, dass sie die Traurigkeit der Mutter spürt. Kiebler unterbreitet ihr einen Vorschlag: Sie sagt einen Satz, den die Tochter nachsprechen darf, wenn er sich für sie richtig anfühlt. Kiebler schlägt der Tochter den Satz vor: "Ich spüre deine Unsicherheit und das verunsichert mich". Die Tochter überlegt kurz, ob das stimmt. Dann nimmt sie eine kleine Änderung vor und sagt zur Mutter: "Ich spüre deine Unsicherheit und dann gehe ich auf Distanz".
Auch der Vater, dessen Partnerin und die Mutter schildern ihre Empfindungen. Dabei zeigt sich, dass die Mutter immer noch traurig ist, dass sich ihr früherer Mann nicht für sie entschieden hat. Das spürt die Tochter und reagiert gereizt. Sie sagt: "Ich bin genervt, dass du immer noch so an Papa hängst." Ihr Ex-Mann sagt: "Die Trennung hat mich frei gemacht. Die Beziehung zu dir hat mich eingeschränkt". Die Sätze entfalten in ihrer Deutlichkeit eine ungeheure Wucht. Während der Aufstellung muss Beate immer wieder weinen.
Michael Wirsching kennt die Kraft, die von einer Familienaufstellung ausgeht. "Diese Methode ist ungeheuer wirksam und deshalb hochgefährlich. Die Klienten dürfen mit ihren ganzen Emotionen danach nicht alleingelassen werden." Saskia Kiebler bietet nach Aufstellungen immer Einzelstunden an, ob die Mitglieder sie annehmen, bleibt ihnen überlassen. Beate wirkt nach der Aufstellung erleichtert und dankt allen. "Für mich ist jetzt einiges klarer geworden", sagt sie.
Wirsching hält es dennoch für zu gefährlich, Familienaufstellungen außerhalb einer Familientherapie anzubieten. "Natürlich bringt so eine Aufstellung die Menschen in Wallung. Genau deshalb muss das Ganze in einen therapeutischen Prozess eingebettet werden." Menschen, die zu Stellvertretern gewählt werden, tragen die Probleme aus ihrer eigenen Familie in die Aufstellungssituation hinein. Groß sei die Gefahr, dass bei den Teilnehmern durch bestimmte Sätze Schuldgefühle ausgelöst würden. Eine Familienaufstellung außerhalb eines Therapieprozesses findet Wirsching grenzwertig. Der Begriff des Therapeuten sei glücklicherweise geschützt und ist Ärzten, Psychologen und Heilpraktikern nach entsprechender Ausbildung vorbehalten. "Von Quereinsteigerei halte ich gar nichts", sagt der Psychotherapeut.
Saskia Kiebler ist Heilpraktikerin für Psychotherapie. Die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen hat sie als Familienaufstellerin anerkannt. Nach den Richtlinien der DGSF setzt sich die zweijährige Weiterbildung in Systemaufstellung aus einem Theorie- und Praxisteil zusammen und enthält vorgegebene Einheiten an Selbsterfahrung, Peergruppen-Arbeit, Hospitation und Supervision - eine Beratung für Menschen in psychosozialen Berufen. Grundvoraussetzung ist eine abgeschlossene Weiterbildung in Psychotherapie oder Beratung.
Saskia Kiebler hat nicht den Anspruch, eine Therapie zu ersetzen. Sie arbeitet nebenbei bei Pro Familia in Freiburg als Mediatorin und berät bei Trennung und Scheidung. "Es gibt Teilnehmer, die nicht an einer psychischen Erkrankung leiden, sondern sich in einer schwierigen Lebensphase befinden und deswegen die Aufstellung in Anspruch nehmen", sagt sie. Ihr sei durchaus klar, dass eine Aufstellung weder eine Therapie noch eine vernünftige medizinische Abklärung ersetzen kann. Sie sieht die Familienaufstellung als ergänzende Methode, die mit dem behandelnden Therapeuten abgesprochen werden sollte.