Ingrids Arbeitstag beginnt morgens um 8 Uhr. Dann stellt sich die Prostituierte, die eigentlich anders heißt, auf den Hansaplatz im Hamburger Bahnhofsviertel St. Georg, wartet auf Freier und geht mit ihnen in eines der umliegenden Hotels. Ingrid begeht damit eine Straftat, denn Straßenprostitution ist in dieser Gegend verboten. Wird sie von der erwischt, wie sie Freier anspricht, muss sie mit einem Platzverweis und einem Bußgeld von 200 Euro rechnen. Nach dem zweiten Mal droht ihr ein Strafverfahren nach Paragraf 184f im Strafgesetzbuch - und im schlimmsten Fall bis zu sechs Monate Haft.
Jener Paragraf könnte bald gekippt werden. Auf der Herbstkonferenz der Innenminister hat sich Hamburgs grüne Justizsenatorin Anna Gallina für eine Streichung des Paragrafen 184f ausgesprochen. Durch eine Verurteilung könnte sich nämlich die "ohnehin prekäre Lebenssituation" der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter verschärfen, sagt die Politikerin. Zudem stehe die Strafbarkeit im Widerspruch zu den Regeln im Prostitutions- und im Prostituiertenschutzgesetz, die Sexarbeiterinnen eigentlich schützen sollen.
Nicht nur Gallina sieht das so: Die Reformkommission Sexualstrafrecht hatte bereits 2017 empfohlen, den Paragrafen ersatzlos zu streichen. Damit wäre "die Ausübung verbotener Prostitution" keine Straftat mehr, sondern nur noch eine Ordnungswidrigkeit. Sexarbeiterinnen müssten keine Geld- oder Haftstrafen mehr fürchten.
Was bringt es, Sexarbeiterinnen zu bestrafen? Über diese Frage wird in Hamburg seit Jahren gestritten. Zum Verständnis eine Einordnung: Prostitution ist in Deutschland legal. Die Bundesländer können sie aber lokal einschränken, indem sie sogenannte Sperrbezirke festlegen, in denen das Gewerbe nur zu bestimmten Zeiten erlaubt ist. In Hamburg gibt es seit 1980 zwei solcher Sperrbezirke: in Altona am Hafen, westlich des Fischmarkts. Und in der gesamten Innenstadt inklusive der Stadtteile St. Georg und St. Pauli. Auf St. Pauli ist das Gewerbe von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens legal, in St. Georg ist es rund um die Uhr verboten. Bei Verstößen zahlen Prostituierte Geldstrafen. Mit der "Kontaktverbotsverordnung", die der SPD-Senat 2012 beschloss, verschärften sich die Regeln: Seither können auch Freier, die Prostituierte ansprechen, mit Bußgeldern zwischen 200 und 800 Euro belegt werden.
Die Verbote zeigen wenig WirkungMit diesen Maßnahmen setzt Hamburg auf Abschreckung. Doch die Bilanz ist ernüchternd: Einer Untersuchung der Hamburger Sozialbehörde aus dem Jahr 2019 zufolge ist es nicht gelungen, Straßenprostitution einzudämmen. Und weder die Situation der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter noch die Lebensqualität der Anwohnerinnen und Anwohner habe sich verbessert.
Ingrid weiß, dass Sexarbeit in St. Georg illegal ist. Doch von den Kameras und den patrouillierenden Streifenpolizisten lässt sie sich nicht abschrecken. Unzählige Platzverweise hat sie bereits kassiert, vor vier Jahren wurde sie von Polizisten angezeigt. Ein Gericht verurteilte sie zu einer Geldstrafe, weil sie der Prostitution "beharrlich nachgegangen" sei. Ingrid konnte oder wollte die Summe nicht zahlen - stattdessen saß sie in der JVA Billwerder ein. "Ich geb' dem Staat doch nicht meine hart verdiente Kohle, die sollen nicht auch noch an mir verdienen. Ich sitz' das lieber ab!", sagt Ingrid. Belege dafür hat nicht. Aber was gilt eigentlich als "beharrlich"? Zweimal, dreimal? Der Begriff ist dehnbar, vor Gericht wird er unterschiedlich ausgelegt. Als Untergrenze gilt ein dreimaliger Verstoß. Nicht nur wegen dieser vagen Auslegungsfrage, sondern auch wegen der im Vergleich zu anderen Ordnungswidrigkeiten schwerwiegenden Folgen ist der Paragraf 184f unter Juristen umstritten.
Gudrun Greb leitet die Hamburger Beratungsstelle Ragazza, in der Sexarbeiterinnen beraten und mit Kondomen und Hygieneartikeln versorgt werden. Die Aufhebung des Paragrafen sei längst überfällig, sagt Greb. "Die hohen Geldstrafen führen eben nicht dazu, dass die Frauen keine sexuellen Dienste mehr anbieten. Sie schließen schneller ein Geschäft ab, um nicht erwischt zu werden." So werde die Arbeit der Prostituierten aber nur gefährlicher. "Sie prüfen weniger, wer ihnen gegenübersteht. Dadurch werden sie noch schneller zu Opfern gewalttätiger Übergriffe", sagt Greb.