Wenn man Niklas Wozniak gegenübersitzt, wirkt er wenig rebellisch. Der 27-Jährige hat zu sich nach Hause eingeladen. Knapp zwei Stunden wird das Gespräch dauern, während dem er immer wieder innehält, nachdenkt, differenziert. Stellt man sich so einen Rebellen vor? Wozniaks tiefe Augenringe sind ein sichtbares Indiz, dass hinter dem jungen Mann anstrengende Wochen liegen.
Anfang April, Deutschland steckt mitten in der Coronakrise, steht der 27-Jährige das erste Mal mit wenigen Mitstreitern auf dem Würzburger Marktplatz und verteilt Grundgesetze. 60 Stück hatte er bestellt. Es ist der unterfränkische Auftakt einer umstrittenen Widerstandsbewegung gegen die Corona-Politik.
Protest aus Sorge um die Demokratie
Die Demonstrationen sind zunächst in Berlin gestartet, organisiert von der "Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand". Wozniak und seine Mitstreiter holten die Bewegung nach Unterfranken – nach Würzburg, Schweinfurt, Bad Kissingen, Marktheidenfeld und Karlstadt (Lkr. Main-Spessart) und nach Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld). Die Organisation läuft über den Nachrichtendienst Telegram, die Unterstützer und selbsternannten "Rebellen" tauschen sich dort in privaten und öffentlichen Gruppen aus.
Wozniak hat in Freising Forstingenieurwesen studiert und ist jetzt an der Uni Würzburg eingeschrieben. Dem Corona-Widerstand, so erzählt er, habe er sich aus Sorge um die Demokratie angeschlossen. Monatelang hätte die Exekutive, hätten also die Landesregierungen, über Verordnungen regiert – hinter verschlossenen Türen. Damit werde die Gewaltenteilung ausgehebelt, sagt Wozniak. "Ich will das im Parlament sehen, ich will Streit sehen."
Auch die Schweinfurter Organisatoren argumentieren, die Informationen von Virologen und Politikern seien nicht schlüssig, die Schutzmaßnahmen deshalb "unverhältnismäßig". Wenn flächendeckend Grundrechte eingeschränkt würden, müsse dies besser begründet werden.
"Ich will das im Parlament sehen, ich will Streit sehen."
Niklas Wozniak, Mitorganisator der Würzburger Corona-Proteste
"Fast der komplette Shutdown basiert auf Zahlen, die das nicht hergeben", kritisiert Rainer Klement, der als Medizinphysiker in Schweinfurt arbeitet. Die vorliegenden Daten und Studien reichen ihm nicht. Sie seien statistisch fragwürdig. Auch die Folgen des Lockdowns würden nicht hinreichend diskutiert. "Kein Arzt würde ein Medikament verabreichen, ohne dass die Nebenwirkungen erprobt sind", kritisiert auch Wozniak.
Viel wurde in den vergangenen Wochen über die sogenannten Corona-Rebellen geschrieben, die großen Versammlungen in Berlin, München oder Stuttgart prägten die öffentliche Wahrnehmung. Schnell entstand das Bild, auf den Demos tummelten sich nur Verschwörungsgläubige und Spinner.
Viele Kritiker der Corona-Maßnahmen befürchten, dass die Grundrechte unter dem Deckmantel der Virusbekämpfung dauerhaft eingeschränkt werden. Wer das nicht glaubt, sollte zu den Demos hingehen und widersprechen.
Auch in Unterfranken versammeln sich beinahe jede Woche Corona-Kritiker und meditieren, halten Plakate hoch, verteilen Protestzeitungen. Immer friedlich und ohne laute Trillerpfeifen, wie man sie von anderen Demos kennt. Die Polizei achtet darauf, dass die Abstände eingehalten werden. Unter den Teilnehmern sind Studenten, Physiker, Schreiner, Erzieher und Krankenpfleger – einige impf-, andere kapitalismuskritisch. Anhänger der Naturheilkunde und der Esoterik stehen neben Reichsbürgern, AfD-Sympathisanten neben Alt-Grünen.
Nicht jeder Corona-Kritiker ist ein Spinner
Die Bewegung ist kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Klar ist, dass sich nicht alle Teilnehmer pauschal in die Kategorie "Spinner" einsortieren lassen. Was die meisten Demonstranten eint, ist die Kritik an Einschränkungen der Grundrechte, die Sorge vor einer Impfpflicht und der Wunsch nach mehr Transparenz. Und es ist Wut, die die Kritiker auf die Straße treibt. Der Vorwurf: Politik und Medien verbreiteten Angst und Panik.
Die Mehrheit der Bevölkerung sieht das anders: Laut einer repräsentativen Umfrage der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-Politbarometer unterstützen noch immer zwei Drittel der Deutschen die staatlichen Maßnahmen. 81 Prozent lehnen die Corona-Proteste ab. 19 Prozent glauben, dass die Grundrechte dauerhaft eingeschränkt werden.
Feindbilder und die Gegenexperten
Die Feindbilder des Corona-Widerstands sind die Regierung, die Pharmaindustrie, der Virologe Christian Drosten und Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts. Als Gegenexperten werden Attila Hildmann, Xavier Naidoo und Bodo Schiffmann präsentiert – ein Vegankoch, ein Sänger und ein Spezialist für Schwindelerkrankungen. Zitiert werden außerdem Wolfgang Wodarg, Internist und Lungenfacharzt, Sucharit Bhakdi, emeritierter Professor für Mikrobiologie, und Ken Jebsen, ein umstrittener Journalist, der beim Rundfunk Berlin-Brandenburg rausgeflogen ist und nun Videos auf Youtube veröffentlicht.
Auch bei den Demos in Unterfranken sind Verschwörungsmythen zu hören. Wie zum Beispiel: In den Leichenwägen im italienischen Bergamo - die Bilder gingen um die Welt - seien eigentlich Flüchtlinge aus Lampedusa transportiert worden. Oder: China habe das Virus gezüchtet, um die eigene Bevölkerung zu dezimieren. Und Bill Gates kontrolliere die Weltgesundheitsorganisation und das Robert Koch-Institut.
Was man bei den Protesten auch hört: Eine alleinerziehende Mutter, die auf der Bühne erzählt, dass sie finanziell kaum über die Runden komme. Oder einen besorgten Familienvater, der sich um die Kinder Sorgen macht, die ihre Freunde nicht mehr treffen können. Und eine Frau macht auf die Situation all derer aufmerksam, die in Alten- und Pflegeheimen von ihren Familien isoliert wurden. Es sind diese Geschichten, die im starken Kontrast zur öffentlichen Wahrnehmung stehen.
Kein Vertrauen in die Arbeit von Journalisten
Viele der Demonstranten informieren sich nicht mehr über Zeitung, Radio und Fernsehen, zu groß ist ihr Misstrauen gegenüber Medien und Journalisten. "Es wird nur anerkannt, was zum Mainstream passt", beschwert sich eine Frau, die nach eigenen Angaben einst die Grünen mitgegründet hat. Ein Erzieher mit Ordnerbinde kritisiert, dass die ARD eine Anne-Will-Sendung zu den Corona-Protesten ausstrahle, ohne auch nur einen Vertreter des Widerstands einzuladen. Fair sei das nicht.
Informationsflut auf der einen Seite, Ungewissheit auf der anderen. "Mir fehlt eine klare unparteiische Studie", sagt eine Frau, die an einem Montagabend mit einigen Mitstreitern auf dem Würzburger Marktplatz steht. Vieles, was berichtet wird, sei nicht schlüssig. "Irgendwann macht man sich dann auf die Suche nach Antworten."
"Menschen unterscheiden sich darin, wie sehr sie in der Lage sind, unklare Situationen und Komplexität auszuhalten."
Markus Appel, Professor für Kommunikationspsychologie an der Uni Würzburg
Fündig werden viele der Demo-Teilnehmer auf Youtube und umstrittenen Medienseiten wie "Rubikon" und "NachDenkSeiten". Wer dort etwas liest, teilt es mit anderen auf Telegram und WhatsApp. Von dort verbreiten sich die Informationen, meist ohne dass die Quellen hinterfragt werden. Stattdessen setzt ein Selbstbestätigungseffekt ein, Falschnachrichten bleiben unwidersprochen.
"Wir leben in einer Zeit, in der große Unsicherheit vorherrscht. Diese komplexe und unangenehme Gemengelage lässt sich einfach klären, wenn man an Verschwörungstheorien glaubt", sagt Markus Appel, Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationspsychologie an der Uni Würzburg. Dies sei mit dem Konzept der Ambiguitätstoleranz zu erklären. "Menschen unterscheiden sich darin, wie sehr sie in der Lage sind, unklare Situationen und Komplexität auszuhalten."
Viele Beobachter sind sich einig, dass die Bewegung ein Problem mit der Abgrenzung von Verschwörungsmythen und radikalem Gedankengut hat. Auch Niklas Wozniak hatte als Organisator in Würzburg zeitweise die Sorge, die Bewegung könne ihm entgleiten und von radikalen Kräften vereinnahmt werden. Dabei lehnt der Student, der seine Bachelorarbeit im Ostkongo geschrieben hat, völkisch-militantes Denken genauso entschlossen ab wie Antisemitismus.
In Würzburg haben die Organisatoren reagiert: Seit Mitte Mai sind Deutschlandflaggen und Nationalhymne auf den Demos tabu, einige Teilnehmer, die offen mit der AfD sympathisierten, ärgerte das sichtlich. "Wir halten nicht mehr an unserer Hymne fest", kritisierte eine Frau. Auch Silvio Kante, stellvertretender Kreisvorsitzender der Würzburger AfD, der Anfang des Jahres im Zusammenhang mit antisemitischen Aussagen an einem Infostand der Partei in die Kritik geriet, ist zu sehen.
Müssten sich die Corona-Kritiker von Rechtsradikalismus und Reichsbürgertum abgrenzen? Eine ältere Demonstrantin sagt: "So lange sie sich ruhig verhalten, sind sie auch willkommen. Das sind auch nur Menschen." Niemand widerspricht – auch nicht Erika Lenz, Kandidatin der Würzburger AfD bei der Kommunalwahl, die mit in der Runde steht.
Die Organisatoren können nur bedingt moderieren. "Da komme ich persönlich an Grenzen", sagt Wozniak. Die Antifaschistische Szene (Antifa) in Würzburg habe ihm vorgeworfen, er würde Extremisten aus der Region eine Plattform geben. Er will, genauso wie die Schweinfurter Organisatoren, verhindern, dass die Bewegung unterwandert wird. "Mir setzt das psychisch enorm zu", sagt Wozniak und will deshalb vorerst keine Demo mehr anmelden.
Eine friedlich Bürgerbewegung
Wie viele in der Bewegung will der 27-Jährige, dass die Menschen – egal was sie denken oder wen sie wählen – ins Gespräch kommen. "Ich bin einfach so, ich rede mit jedem." Er habe auch Aktivisten von Fridays-for-Future und die Antifa eingeladen, sagt Wozniak. Gekommen sind sie nicht.
Er stellt sich eine friedliche Bürgerbewegung vor. "Die AfD hat gerafft, dass es bei uns nichts zu holen gibt." Tatsächlich scheint es, als habe die Partei – anders als in anderen Teilen Deutschlands – Probleme, sich in die Proteste in Würzburg und Schweinfurt einzuklinken, obwohl sich beispielsweise die AfD-Landtagsfraktion schnell hinter die Proteste stellte.
Die Grenzen des Links-Rechts-Schemas
Bei der letzten Kundgebung vergangenen Samstag in Würzburg waren 600 Teilnehmer angemeldet, am Ende kamen 150. Corona war das dominierende, aber längst nicht das einzige Thema. Diskutiert wurde auch über Gemeinwohlökonomie, partizipative Demokratie, Geldpolitik und die Schattenseiten des Finanzkapitalismus. Es sind grundsätzliche Fragen, die weit über Ausgangsbeschränkungen und Maskenpflicht hinausgehen – auch das macht es so schwierig, die Bewegung einzuordnen.
Ein Mann sitzt auf dem Podium, der sich nach einer starken Führung sehnt, das System stürzen will und öffentlich über die Errichtung einer Diktatur nachdenkt. Ein Teilnehmer zweifelt wie ein Reichsbürger an, ob Deutschland überhaupt souverän ist. Offensichtlich stehen nicht alle selbsternannten Rebellen hinter dem Grundgesetz – auch wenn sich das die Würzburger und Schweinfurter Organisatoren wünschen.
Klima der Harmonie
Es ist auch diese Widersprüchlichkeit, die den Corona-Widerstand charakterisiert. Sämtliche politischen Differenzen werden zurückgestellt. Jeder ist willkommen, alle Meinungen werden toleriert. Immer wieder betonen die Organisatoren, man dürfe sich nicht spalten lassen. Über die Wochen ist ein Klima der Harmonie entstanden, in dem nur Einzelne radikalem Gedankengut entschlossen widersprechen.
Zwar wird in den Telegram-Gruppen diskutiert, wenn auf einer der Demos in Schweinfurt eine Kaiserreichflagge geschwenkt wird oder eine Nutzerin gegen Homosexualität wettert, doch die meisten der Gruppenmitglieder lesen still mit. Eine klare Distanzierung findet kaum statt. Inhalte werden selten gelöscht.
So teilte ein AfD-Funktionär eine Zeichnung, die eine Herde Schafe zeigt, die auf Zuggleisen in Richtung des Konzentrationslagers Auschwitz laufen. Darüber steht der Schriftzug "Zwangsimpfung". Ein anderer Nutzer rief die Demo-Teilnehmer auf, eine Flagge des Kaiserreichs zu kaufen. Außerdem wurde ein bekanntes Bild aus dem Jahr 1936 verbreitet, das Werftmitarbeiter mit Hitlergruß zeigt. Nur einer der Arbeiter verschränkt demonstrativ die Arme. Auf dem bearbeiteten Foto in der Gruppe tragen alle um den Mann herum einen Mundschutz.
Solche Vergleiche zur Herrschaft der Nationalsozialisten sind keine Seltenheit. Immer wieder fällt auf den Demos der Begriff "Corona-Diktatur". Laut der Antisemitismus Recherche-Stelle RIAS hat es zuletzt bei den Protesten in Bayern mehrere judenfeindliche Vorfälle gegeben – wie einen gelben Davidstern am Ärmel mit der Aufschrift "Ungeimpft".
Rechtsextremisten betreiben Eigenwerbung
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) plädiert für eine differenzierte Betrachtung. Die Organisatoren der Demonstrationen im Freistaat seien nicht dem extremistischen Milieu zuzuordnen. "Und auch die Mehrzahl der Teilnehmer dieser Demos will damit nichts zu tun haben."
Bei einer der Demos in Nürnberg seien allerdings nachweislich Rechtsextremisten – etwa aus dem Umfeld der Partei "Der dritte Weg" – zu sehen gewesen. Er habe den Eindruck, dass es dabei bislang vor allem um eine Selbstdarstellung einzelner Personen in den eigenen Reihen gehe, so Herrmann: "Sie präsentieren sich als Einflussgeber dieser Demonstrationen."
Wo sind die Politiker?
Zwei Wochen ist es her, dass bei einer der Demos in Würzburg während der Podiumsdiskussion eine Frau vors Publikum tritt. Blaues Regencape, rote Haare, giftgrüne Schuhe. Das Mikro will sie nicht, dann müsste sie einen Mundschutz anziehen. "Wo sind die Politiker?", fragt sie und schaut in die Runde. Aus ihr spricht nicht die Wut. Sie hat Fragen und will ernst genommen werden.
Auf dem Podium greift Aribert Hümmer, der früher in einer Druckerei arbeitete und jetzt jede Woche an den Demos teilnimmt, zum Mikrofon. Auf dem Kopf und vor dem Gesicht trägt er einen rosa Schlüpfer – seine persönliche Rebellion gegen die Maskenpflicht. Seinen Redebeitrag beendet er mit dem Satz: "Politiker sind auch nur Menschen". Das Gelächter im Publikum ist groß.
Mitarbeit: Corbinian Wildmeister, Henry Stern
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