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Die Ego-Gesellschaft: Am Ende verlieren die Beschäftigten

Würzburger Soziologe Andreas Göbel: "Es ist ein tiefes Gefühl der Verunsicherung, welches das moderne Arbeiten prägt." (pexels.com, dpa)

In vielen Betrieben fehlt es an Solidarität. Jeder kämpft für sich. Doch welche Folgen haben solche Egoismen am Arbeitsplatz? Antworten eines Würzburger Soziologen.

Wenn sich Politik und Medien mit dem Arbeitsmarkt beschäftigen, geht es häufig um die harten Fakten. Allerdings, es sind nur Momentaufnahmen. Erst wenn man herauszoomt, wird erkennbar, wie grundlegend sich die Arbeitswelt über die Jahrzehnte gewandelt hat. Im Zuge des Strukturwandels sind ganze Industrien verschwunden – und mit ihnen das klassische Arbeitermilieu.

Doch wie hängen Arbeit und Gesellschaft zusammen? Antworten darauf hat der Würzburger Soziologe Andreas Göbel. Im Interview erklärt er die Bedeutung von Individualisierung in der modernen Gesellschaft und beschreibt die Folgen sich verlierender Solidarität. Es geht um prekäre Beschäftigung, fragmentierte Betriebe und das Selbstverständnis moderner Gewerkschaften.

Frage: Herr Professor Göbel, welchen Wert hat Arbeit heute eigentlich noch?

Andreas Göbel: Unterm Strich identifizieren wir uns noch noch immer stark über die eigene Arbeit. Das schnelle Geldverdienen spielt da eine eher nachrangige Rolle. Es geht vielmehr um die Art und Weise, wie wir unser Leben sinnvoll gestalten. 

Aus welcher Perspektive schauen Sie als Soziologe auf die Arbeitswelt?

Göbel: Wow, das ist eine große Frage. Natürlich kann man beim Blick auf die Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik Tendenzen erkennen, die auch gesamtgesellschaftlich relevant sind. Wir wissen beispielsweise, dass der Strukturwandel die Arbeitsgesellschaft grundlegend verändert hat. Der Soziologe Richard Sennett hat dieses Phänomen analysiert und kam dabei zu folgendem Ergebnis: Nach Jahrzehnten, in denen der Mensch sein ganzes Leben an einen Beruf gebunden war und sich maßgeblich damit identifiziert hat, befinden wir uns heute in einer immer stärker fragmentierten Arbeitswelt. Die Leiharbeit hat sich etabliert und immer mehr Stellen werden befristet ausgeschrieben. Wir erleben, wie Berufsbiographien und damit auch Identitäten zersplittern. Es ist ein tiefes Gefühl der Verunsicherung, welches das moderne Arbeiten prägt.

Ist dieser Wandel der Arbeitswelt das Ergebnis eines gesellschaftlichen Umbruchs?

Göbel: Zumindest finden wir Parallelentwicklungen. Gesellschaftlich erleben wir seit den 1960er und 1970er-Jahren eine zunehmende Individualisierung persönlicher Lebensgestaltung. Das ist vor allem ein Phänomen westeuropäischer und nordamerikanischer Wohlstandsgesellschaften, denn Individualisierung setzt ein hohes Maß an sozialer Absicherung voraus. 

Das klingt sehr abstrakt. 

Göbel: Ich zeige das gerne an einem Beispiel: Wenn Sie Ende des 18. Jahrhunderts als Sohn eines Schusters auf einem unterfränkischen Dorf geboren sind, wären sie klassischerweise ebenfalls Schuster geworden und hätten später den Familienbetrieb übernommen. Wir sprechen hier von vorgezeichneten Lebensläufen. Individualisierung bedeutet dagegen eine Vervielfältigung persönlicher Optionen. Gibt es die entsprechenden staatlichen Rahmenbedingungen, kann der Schustersohn plötzlich darüber nachdenken, sein Abitur zu machen und später zu studieren.

Das ist doch erstmal eine gute Sache.

Göbel: Grundsätzlich schon, aber die Individualisierung hat Licht- genauso wie Schattenseiten. Auf der einen Seite steht die Chance, die eigene Biographie zu gestalten, selbst zu entscheiden, wer man sein möchte. Darüber denkt der Schusterjunge im 18. Jahrhundert gar nicht nach. Gleichzeitig zwingt einen die Individualisierung, selbst Entscheidungen zu treffen, die natürlich auch mal schief gehen können. 

Erleben wir also gerade das Ende sozialer Schichten und Klassen?

Göbel: Das kann man durchaus so sagen. Die traditionelle Arbeiterklasse als Gegenspieler zur Klasse der Kapitalisten – wie es Karl Marx beschrieben hat – gibt es in diesem engen Sinn schon lange nicht mehr. Aber auch die Begriffe "Schicht" und "Milieu" sind als Erklärungsansätze nur noch bedingt geeignet. Das ist eines der großen Probleme der Gewerkschaften genauso wie der Sozialdemokratie und vieler anderer Parteien.

... die auch klassische Milieus bedienen. 

Göbel: Genau. Viele Parteien sind noch immer in ihrem alten Milieu-Denken verhaftet, dabei sind die Zeiten einer homogenen Wählerschaft längst vorbei. Heute steht der Einzelne im Fokus. Auch deswegen werden im Wahlkampf riesige Summen investiert, um individualisierte Parteiwerbung auszuspielen. Die klassischen Milieus sind zwar nicht völlig erodiert, aber sehr viel durchlässiger und dadurch unschärfer geworden. Dieser Wandel ist auch eine der Folgen gesellschaftlicher Individualisierung.

Könnten wir statt Individualisierung nicht einfach von Egoismus sprechen? Sie haben eben die Gewerkschaften angesprochen. Für die wird es immer schwieriger, engagierte Mitglieder zu gewinnen.

Göbel: Ich wäre sehr vorsichtig mit einer allzu engen Verknüpfung von Individualisierung und Egoismus. Aber Sie haben Recht: Die Ich-Bezogenheit in unserer Gesellschaft greift um sich. Bei den Gewerkschaften erleben wir, dass diese Form der Solidarität, das Einstehen für gemeinsame Interessen, in hohem Tempo erodiert. Heute ist sich jeder selbst der Nächste. Das fängt an den Schulen an. Während Schülervertretungen früher gegen Widerstände für die eigenen Interessen gekämpft haben, beschränken sich die Aktivitäten heute auf die Organisation von Unterstufenpartys. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft sich längerfristig in Vereinen und Organisationen zu engagieren – gerade wenn es darum geht, Verpflichtungen einzugehen. Unangenehme Aufgaben werden gerne den anderen überlassen. 

Nochmal gefragt: Hängen Individualisierung und Egoismus zusammen?

Göbel: Da sind wir bei der heiligen Kuh der modernen Gesellschaft angekommen: die Rolle des einzelnen Individuums. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung seit Ende des 19. Jahrhunderts prägt ganz massiv das persönliche Selbstverständnis und die eigene Lebensgestaltung. Es ist das einzelne Individuum, auf das sich alles hin orientiert. Das bedeutet aber auch: Jeder ist seines Glückes Schmied. Jeder muss aus seinem Leben etwas machen und daraus resultieren natürlich Egoismen. Mittlerweile sind wir soweit, dass diese gesellschaftlich honoriert und bisweilen sogar erwartet werden. Beispielsweise erleben wir durch den Druck am Arbeitsplatz und die vielfältigen Karriere-Ambitionen ein ausgeprägtes Konkurrenz-Denken innerhalb der Betriebe – gegeneinander statt miteinander. 

Das ist ein Konzept, das so gar nicht zum gewerkschaftlichen Prinzip der Solidarität passt. Welche Folgen hat das für die Arbeitswelt? 

Göbel: Nun ja, die Unternehmen und deren Verbände sind heute so machtvoll, weil ihre Gegenspieler – die Gewerkschaften – mit sich selbst beschäftigt sind. Wenn in den Betrieben die Bereitschaft zur Solidarität verloren geht, erodiert das Tarifsystem. Am Ende verlieren dabei die Beschäftigten.

Also sind die Arbeitnehmer selbst schuld? 

Göbel: So einfach sollte man es sich nicht machen. Damit blendet man nämlich aus, dass in Zeiten prekärer Beschäftigung auch die Risiken gestiegen sind. Grundsätzlich richtet der Einzelne sein Handeln immer an den erwarteten Folgen aus. Wenn ich mich von einem befristeten Job zum nächsten hangele, ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ein großes Wagnis. Letztlich haben viele Beschäftigte schlichtweg Angst. 

Und den Gewerkschaften gelingt es kaum, sich dem rasanten Wandel der Arbeitswelt anzupassen. 

Göbel: Es lässt sich zumindest feststellen, dass sich die Gewerkschaften in ihren Strukturen und ihrem Auftreten noch stark auf das Arbeitermilieu konzentrieren. Das Problem: Den klassischen Industriearbeiter gibt es nur noch ganz vereinzelt. Wir erleben gerade, dass unter den Bedingungen einer Informations- und Wissensgesellschaft völlig neue Berufe und Milieuformen entstehen. Aber so wie die Gewerkschaften heute aufgestellt sind, präsentieren sie sich als Relikt einer älteren – längst überkommenen – Arbeitswelt. 

Ein harter Vorwurf. 

Göbel: Ich möchte es an einem Beispiel erklären. Ich war im letzten Jahr als Redner auf einer Gewerkschaftsveranstaltung eingeladen und saß dort in einem kleinen, schmucklosen Gemeindesaal. Das Auffällige: Es waren nur Gewerkschafter im Raum, alle kannten sich. Und sie waren fortlaufend damit bestätigt, sich selbst zu bestätigen. Echokammer-Kommunikation in Reinform.

Wie haben Sie reagiert?

Göbel: Ich habe versucht – durch leicht provokante Thesen –, sie in ihrem Milieu-Selbstverständnis zu kitzeln. Das kam nicht bei allen gut an. Das Publikum gab einem das Gefühl, nicht dazuzugehören – nach dem Motto: Der tickt anders als wir. Ich befürchte leider, dass das in vielen Betrieben ähnlich läuft. Und das ist schade, denn ich sehe nicht, wie Interessensvertretung am Arbeitsplatz jenseits der Gewerkschaften funktionieren soll.

Ist also Solidarität der wirksamste Schlüssel, um der Macht der Arbeitgeber im Kollektiv etwas entgegenzusetzen? 

Göbel: Da reicht ein Blick in die Historie. Natürlich war gewerkschaftliche Solidarität ein unglaublicher Machtfaktor. Ohne den Arbeitskampf im 19. Jahrhundert gäbe es heute keinen Sozialstaat, keine soziale Absicherung.

Ein gutes Stichwort: In seinem Buch “Die Abstiegsgesellschaft” spricht der Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey von der "regressiven Modernen". Hat er Recht, dass wir uns als Gesellschaft zurück entwickeln?

Göbel: Mit Progression und Regression – also Fortschritt und Rückschritt – bin ich als Analytiker sehr vorsichtig. Was wir sehen, ist Veränderung. Denn der Soziologe betrachtet nie nur eine Seite, sondern stellt immer eine Gewinn- und Verlustrechnung auf.

Dann betrachten wir mal die Defizit-Seite. Geben wir nicht momentan viel auf, was Generationen vor uns erkämpft haben?

Göbel: Ganz persönlich würde ich sagen, dass momentan viele Sicherheiten verloren gehen. Dazu gehört auch ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Die Einführung des Hartz-IV-Systems und die Ausweitung des Niedriglohnsektors sind auch eine Reaktion auf den Einstellungswandel in der Gesellschaft. Plötzlich wird der Einzelne viel stärker in Verantwortung genommen. Ich bin gespannt, was die Kapitalisierung unserer Gesellschaft mit den Individuen macht. 

Dagegen wehrt sich aber kaum jemand. Sind wir als Gesellschaft so übersättigt?

Göbel: Ja dieses Phänomen gibt es. Als es beispielsweise um die Privatisierung der Altersvorsorge ging, gab es keinen Aufschrei. Auch deshalb sind wir, was den Standard unseres Wohlfahrtsstaats betrifft, nicht mehr auf dem Level der goldenen 70er-Jahre. Aber ein Blick auf den Globus zeigt auch: Es könnte weitaus schlimmer sein.


Info: Andreas Göbel und die Soziologie

Seit 2011 ist Andreas Göbel Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie an der Uni Würzburg. Als Studiendekan leitete er drei Jahre lang die Fakultät für Humanwissenschaft mit. Besonders interessiert sich der Soziologe für den Wandel der Gesellschaft. Der 58-Jährige studierte Philosophie, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Linguistik an der Ruhr-Universität in Bochum . In seiner Habilitation setzt er sich mit Theorien und dem Begriff der Gesellschaft auseinander. 

Durch Beobachtungen, Befragungen und Experimente erforscht die Soziologie die Mechanismen menschlichen Zusammenlebens und die Grundlagen sozialen Handelns. Dabei geht die Forschung – anders als die Psychologie – über das Individuum hinaus. Der Soziologe interessiert sich für soziale Strukturen in Gruppen, Organisationen und Netzwerken, in Gesellschaft und Staat. Dabei beschäftigt er sich mit Fragen von Identität und Interaktion, Rollen und Beziehungen, Macht und Herrschaft.

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