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„Europa macht sich zu Bolsonaros Komplizen"


Jair Bolsonaros Regierung zerstört den Regenwald und den Lebensraum der brasilianischen Indigenen auch während der Coronakrise weiter. Diese fordern nun ein klares Nein von Europa zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten. Wie kann die europäische Wirtschaftspolitik die Indigenen unterstützen?


Kreta Kainang findet harte für Worte für Europa: „Wenn die EU das Freihandelsabkommen mit Mercosur unterzeichnet, finanziert sie damit den Krieg, den Bolsonaros Regierung gegen uns führt." Der indigene Aktivist kämpft seit vielen Jahren gegen die indigenen-feindliche Politik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, die er als „Genozid" bezeichnet. Noch Ende 2019 tourte Kaingang mit anderen Vertreter*innen indigener Völker durch Europa, um über die von Bolsonaro vorangetriebene brutale Landaneignung und Waldrodung im indigenen Amazonasgebiet aufzuklären. Kainangs Botschaft: Statt nur zuzuschauen, müsse Europa eine klare Position gegen Bolsonaro einnehmen.

Mitte Juni trafen sich Kainang und der ebenfalls indigene Aktivist Dainanam Tuxa mit Vertreter*innen des EU-Parlamentes und brasilianischen Umweltaktivist*innen in einem Webinar, das unter anderem von dem internationalen Städtenetzwerk Klimabündnis und der Rainforest Foundation Norwegen organisiert wurde. Die Leitfrage: Wie kann Europa Brasilien zur Seite stehen? Im Zentrum der Debatte stand das Freihandelsabkommen der EU mit dem lateinamerikanischen Staaten-Bündnis Mercosur, das neben Brasilien aus Argentinien, Uruguay und Paraguay besteht. Würde das Freihandelsabkommen, das bereits seit etwa 30 Jahren verhandelt wird, unterzeichnet, entstünde damit die größte Freihandelszone der Welt. Konkret könnten durch das Abkommen europäische Unternehmen jährlich vier Milliarden Euro Zölle sparen. Im Gegenzug könnten die Mercosur-Staaten wesentlich mehr landwirtschaftliche Produkte nach Europa exportieren, insbesondere Rindfleisch.

Für Kainang und Tuxa bedeutet das jedoch: mehr Regenwald, wird abgeholzt und mehr Gebiet den Ureinwohner*innen entrissen.

Bolsonaros Regierung zerstört den Regenwald während der Coronakrise weiter

Auch Marcio Astrini, Leiter der brasilianischen Umweltorganisation Observatório do Clima, und zuvor langjähriger Sprecher von Greenpeace Brasilien spricht sich gegenüber enorm deutlich gegen eine Kooperation der EU mit Bolsonaro aus. „Das würde die klare Botschaft senden, dass Bolsonaro im Recht ist und das alles, was gerade mit der Umwelt und der indigenen Bevölkerung in Brasilien passiert, egal ist. Manche glauben, dass das Abkommen Bolsonaros Verhalten verändern könne, aber sie irren sich. Es wird die Europäer nur zu seinen Komplizen machen." Laut Astrini ist Bolsonaros Regierung direkt dafür verantwortlich, dass die Rodung des Amazonas vergangenes Jahr um 30 Prozent gestiegen und im ersten Halbjahr von 2020 das Ausmaß der Abholzung 70 Prozent höher sei als im gleichen Zeitraum 2019.

Dass indigene Gemeinden und brasilianische Klimaaktivisten eine Kooperation mit der Regierung komplett verweigern, sei ein völlig neues Phänomen, erklärt Thomas Brose, der Geschäftsführer des Klimabündnisses und Mitorganisator des Webinars. Das zeige, wie aussichtslos die Indigenen ihre Situation unter Bolsonaro empfinden. Vor allem die Coronakrise hat die Situation der Indigenen noch verschärft. Die brasilianische Regierung hat die Rodung und das Eindringen von Goldsucher*innen in die Gebiete der Indigenen nicht gestoppt, so dass sich der Coronavirus auch dort verbreiten konnte.

In einem kürzlich an die Öffentlichkeit geratenen Video von einer Versammlung von Bolsonaros Kabinett, sagt der brasilianische Umweltminister, dass die Regierung die Coronakrise nutzen sollte, um die Abholzung des Regenwaldes voranzubringen, Umweltgesetze weiter aufzuweichen und demokratische Prinzipien zu untergraben, während die Öffentlichkeit abgelenkt ist. Eine solche Regierung sei als Kooperationspartner immer undenkbarer, sagt Brose, der selbst in Brasilien aufgewachsen ist. Er beobachtet mit Sorge, wie sowohl in Brasilien als auch in anderen südamerikanischen Ländern wie Peru immer mehr Indigene, darunter auch Stammesführer*innen und Älteste, dem Coronavirus zum Opfer fallen. „Wenn diese Ältesten sterben, dann geht der Wissensschatz und die Identität dieser Völker verloren, denn sie sind die Bewahrer dieses Wissens."

Brose findet, dass es nicht reicht, nur über das Abkommen zu sprechen. Er wünscht sich klare Lieferkettengesetze auf deutscher und europäischer Ebene, die dafür sorgen, dass jeder globale Handel mit Produkten auf Nachhaltigkeit und Menschenrechtsverletzungen überprüft werden können.

Auch auf enorm: Lieferkettenegsetz: der Kampf um deutsche Sorgfaltspflichten Deutschland will das Freihandelsabkommen Mercosur vorantreiben

Die Regierung hat gestern das erste mal konkrete Eckpunkte für ein deutsches Lieferkettengesetz vorgelegt: ordnungsrechtliche Sanktionen und eine zivilrechtliche Haftung von Unternehmen für Verstöße gegen Umweltschutz und Menschenrechte sind formal vorgesehen. Nun müsse man sehen, inwiefern ein solches Gesetz tatsächlich umgesetzt werde, sagt Brose.

Da Deutschland ab dem ersten Juli den Vorsitz des Europäischen Rates übernimmt, kommt dem Land eine Schlüsselrolle in der Verhandlung des Freihandelsabkommens zu: Die Regierung hat angekündigt, die Ratspräsidentschaft dafür nutzen zu wollen, das Abkommen voranzutreiben. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller verteidigte vor wenigen Tagen die Freihandelszone in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: Sie sichere Arbeitsplätze in Brasilien. Die Zusammenarbeit einzustellen, helfe weder dem Regenwald noch der indigenen Bevölkerung. Berlin müsse bei der Umsetzung des Abkommens in Brüssel jedoch dafür sorgen, dass Brasilien zu „entwaldungsfreien Lieferketten" verpflichtet werde, die bei Verstößen auch mit Sanktionen bestraft werden. Man müsse Bolsonaro an Brasiliens Zustimmung des Pariser Klimabkommens „erinnern".

Umweltaktivist*innen glauben hingegen nicht, dass Bolsonaro durch solche Maßnahmen einen anderen Kurs einschlagen wird. Schließlich habe auch die brasilianische Zustimmung zum Klimaabkommen ihn in keiner Weise daran gehindert, den Regenwald weiterhin zu zerstören. Gerade erst veröffentlichten Greenpeace Deutschland und Misereor eine Studie, in der sie zu dem Schluss kommen, dass auch ein sogenanntes „Nachhaltigkeitskapitel" im Abkommen Bolsonaros Politik nicht verändern würde.

„Der Handelsdeal der EU ist ein Brandbeschleuniger, der die Zerstörung des Regenwaldes weiter vorantreibt", warnt Martin Kaiser, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland. „Die EU hat nun gemeinsam mit anderen die Pflicht, diese Katastrophe zu verhindern." Laut der Studie ereigneten sich im vergangenen Jahr 70 Prozent der Amazonasbrände in Brasilien in den Herkunftsregionen für Schlachtfleisch, das letztendlich auch in Deutschland auf den Tellern lande. Die beiden NGOs fordern, dass Deutschland sich gegen das Abkommen aussprechen solle. Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Irland und Belgien haben dies bereits getan: Der Widerstand dieser EU-Staaten liegt jedoch vor allem in der Sorge um die eigene Wirtschaft begründet: Sowohl in Frankreich, als auch in Österreich haben Bauernverbände beklagt, dass sie mit billig produziertem Rindfleisch aus Brasilien nicht konkurrieren könnten. Außerdem gibt es Bedenken über die Qualität dieser Produkte: In Brasilien werden zum Beispiel in hohem Maße Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt, die zum Teil von deutschen Firmen bezogen werden.

In Lateinamerika hat insbesondere Argentinien sich mittlerweile auch gegen das Abkommen ausgesprochen, da es die eigene Wirtschaft gefährden könne.

Investor*innen drohen erstmals direkt der brasilianischen Regierung

Was aber kann Europa konkret tun, um auch jenseits des Handelsabkommens auf Brasilien Druck auszuüben? Neben der Überwachung von Lieferketten findet Brose, dass vor allem auch die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) endlich in Deutschland umgesetzt werden müsse. Die Konvention verpflichtet Staaten dazu, indigene Rechte zu schützen. Brasilien hat diese Konvention pro Forma ratifiziert, ebenso einige europäische Länder wie Norwegen. In Deutschland ist die Ratifizierung dieser Konvention im Koalitionsvertrags erwähnt, wurde aber immer noch nicht umgesetzt.

Schließlich müssen vor allem auch Wirtschafts-Akteur*innen ihre Verantwortung wahrnehmen. Am 23. Juni haben erstmals eine Reihe bedeutender Investor*innen der brasilianischen Regierung mit einem offenen Brief gedroht: Investor*innen aus Norwegen und acht anderen Ländern haben Brasilien darin aufgefordert, die Abholzung im Amazonas-Gebiet zu stoppen und die Rechte indigener Völker zu respektieren. Sollte sich nichts an dieser Politik ändern, könnte das zur Folge haben, dass man seine Investitionen aus einzelnen Firmen oder Geschäftsfeldern zurückziehe, warnte der Brief. Brose sieht in dem für die Privatwirtschaft sehr ungewöhnlichen Schritt einen Beweis dafür, wie ernst die Gesellschaft Themen wie Umweltschutz und indigene Rechte mittlerweile nimmt. Unternehmen gerieten dadurch in den Handlungsdruck. Die Coronakrise könnte hier indirekt Veränderungsprozesse beschleunigen, weil sie die globalen sozialen und ökologischen Missstände noch deutlicher zeige. Mehrere große brasilianische Medien haben die Drohung aus Europa bereits aufgegriffen.

Anna Cavazzini vertritt die Grünen im Europäischen Parlament und spricht sich ebenfalls gegen das Mercosur-Abkommen aus. Sie machte in dem Webinar des Klimabündnisses auf eine Petition der NGO Campact aufmerksam, die Supermärkte dazu auffordert, brasilianische Produkte zu boykottieren, um Druck auf Bolsonaro auszuüben. Vorbild ist eine ähnliche Initiative von britischen Supermärkten. Konkret richtet sich der Protest gegen den brasilianischen „Erlass 910", ein Gesetz, durch das Bolsonaro die unrechtmäßige Besetzung und illegale Abholzung von Regenwald bis zum Jahr 2018 legalisieren will. Die beiden Supermarktketten Rewe und Aldi Süd hatten sich schon zu einem Boykott bereit erklärt. Die Petition will auch Aldi Nord, Edeka und Lidl zu diesem Schritt bewegen.

Kreta Kainang beendet das Webinar unterdessen mit einem Apell an das historische Gewissen Europas: „Europa hat eine Verantwortung gegenüber den Ländern, die es Jahrhunderte lang ausgebeutet hat. Unsere Ressourcen und Territorien dürfen nicht mehr ausgebeutet werden."

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