Hanni Lévy (gespielt von Alice Dwyer) ist Vollwaise und gerade 17 Jahre alt geworden. Nun sitzt sie beim Frisör. „Sie möchte die Haare ganz blond haben", erklärt ihre Begleiterin dem Mann, der gerade die braunen Strähnen der jungen Frau begutachtet. „Da werden wir einige Sitzungen für brauchen", erwidert dieser. Als Hanni schließlich blond ist, hat sie nicht nur ihre alte Haarfarbe abgelegt, sondern auch ihre bisherige Identität. Denn die 17-Jährige ist Jüdin und hat sich entschieden, in Berlin zu bleiben - obwohl täglich die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und ihre Spitzel die Reichshauptstadt nach Juden und Jüdinnen* absuchen, um sie in Vernichtungslager zu deportieren. „In dem Moment, in dem ich mein Aussehen geändert hatte, habe ich etwas von mir abgelegt." Mit ihren blauen Augen und hellblonden Haaren fällt Hanni künftig nicht mehr auf, trotzdem bewegt sie sich vorsichtig, stetig ängstlich umblickend durch Berlin. Sie taucht ab in die Illegalität.
Auch Cioma Schönhaus (Max Mauff) ist einer dieser Menschen, die es nach Aussage des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels von 1943 eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Doch auch er taucht unter, entkommt im Gegensatz zu seiner Familie der Deportation und versucht sich mit seinen knapp 20 Jahren an Passfälschungen für deutsche Juden und Jüdinnen*. Mit seinem Talent rettet er dutzenden Verfolgten das Leben. Dann sind da noch der 16-Jährige Eugen Friede (Aaron Altaras) und Ruth Arndt (Ruby O. Fee) - zwei weitere „Unsichtbare". Beide müssen sich verstecken, haben mehrfach Glück im Unglück. Um zumindest ein bisschen Normalität im bereits zerrütteten Alltag zu haben, tarnen sich Ruth und eine Freundin als Kriegswitwen, um ins Kino gehen zu können. Doch jeder Schritt nach draußen stellt eine Gefahr dar, jede Unterhaltung mit Fremden ein Risiko, jede Busfahrt eine mögliche Enttarnung durch die Gestapo. Bis zum Kriegsende 1945 und der Befreiung Berlins durch die Rote Armee ist jeder Tag ein Kampf um Leben und Tod. Doch alle vier jungen Menschen sind sich in einem einig: sie wollen überleben.
Die Geschichten der Protagonist*innen basieren allesamt auf Interviews mit Zeitzeug*innen, die abwechselnd mit den Spielszenen in den Film eingebaut sind. In einem Moment sieht man die junge Hanni über den Kurfürstendamm laufen, im nächsten lächelt eine ältere Dame in die Kamera, Hanni als Seniorin. Obwohl einem so beim Anschauen klar ist, dass die Darstellenden überleben werden, fiebert man bis zur letzten Szene mit. Die Schicksale packen, es macht sich ein Gefühl der Beklemmung und der Benommenheit breit. Denn auch, wenn diese Vier überlebt haben - Millionen andere Menschen haben es nicht.
Von den 7.000 „Unsichtbaren" in Berlin gelingt es gerade einmal 1.700 bis zum Kriegsende von den Nazis unentdeckt zu bleiben. Viele verlieren ihre gesamte Familie durch den Holocaust. Das wird gleich beim Vorspann klar, als man in schwarz-weiß Bildern Schienen vor sich sieht und dazu das Rattern eines Waggons im Hintergrund hört - die Deportationszüge rollen vorbei. Auch während des Films werden immer wieder kurze Sequenzen aus damaligen Echtzeit-Aufnahmen eingebunden. Es geht stetig hin und her - auch mit den eigenen Emotionen.
Diese Achterbahn der Gefühle, die während des Films aufkommt, liegt insbesondere an der Mischung aus Spiel-und Dokumentarfilm, die in dieser Art und Weise für die Thematik fast schon einzigartig ist. Fast zehn Jahre lang hat Regisseur Claus Räfle gemeinsam mit seiner Co-Autorin Alejandra López recherchiert, Interviews mit Zeitzeug*innen geführt und das Material entsprechend bearbeitet. Dabei war dem Regisseur und seinem Team die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin eine große Hilfe. Gemeinsam mit der Forschungsgruppe „Gedenkstätte Stille Helden" konnten Überlebende aus dem damaligen Untergrund ermittelt und kontaktiert werden. „Uns hat es fasziniert, wie es möglich sein konnte, so lange unsichtbar zu sein", sagt Räfle bei der NRW-Premiere des Films am vergangenen Dienstag, 24. Oktober, in der Lichtburg in Essen. Im Film wechseln sich die Interviewausschnitte in einem stetigen Rhythmus mit Spielszenen ab, manchmal werden Dinge, die man sieht, durch die Gespräche ergänzt, in anderen Szenen ist es genau anders herum. Oftmals kommen die Erklärungen auch als Stimme aus dem Off - entweder von den Protagonist*innen im Film oder von den Zeitzeug*innen selbst.
Und obwohl die Ungerechtigkeit an den Verfolgten im Vordergrund steht, schafft der Film es gleichzeitig auch humorvolle Momente abzubilden. Es sind eben solche Szenen wie die, in der beiden Mädchen getarnt als Kriegswitwen ins Kino gehen und hinter vorgehaltener Hand über gutaussehenden Soldaten tuscheln, die die Sehnsucht nach Alltag, nach Normalität porträtieren. Doch vor allem sind es die beeindruckenden Geschichten und der Überlebenswille der „Unsichtbaren", der sich auch in den Interviews widerspiegelt, die den Film so wertvoll machen. Erst durch die Zeitzeug*innen wird er so authentisch, emotional und einzigartig.
Gleichzeitig ist der Film aber auch denjenigen gewidmet, die sich damals gegen das Gesetz gestellt und jüdische Menschen bei sich versteckt haben. „Es gab Menschen, die das Herz an der richtigen Stelle hatten, die gemerkt haben, dass da etwas Unrechtes geschieht", so Regisseur Räfle. Durchschnittlich hatten Untergetauchte in den zwei bis drei Jahren im Untergrund sieben Verstecke, manche deutlich mehr, andere weniger. Ohne die Helfer*innen des deutschen Widerstandes hätten viele nicht überleben können. Schätzungen gehen heute von insgesamt mehreren zehntausend Menschen aus, die in Deutschland jüdischen Verfolgten geholfen haben. Die vier Überlebenden, die in Die Unsichtbaren - wir wollen leben porträtiert werden, dürften es ihren Helfer*innen zumindest niemals vergessen.