Die aktuelle Hitzewelle bedeutet für Rettungsschwimmer und Bademeister viel Arbeit. Denn nicht alle, die ins Wasser gehen, können auch schwimmen. Und nicht alle halten sich an die Regeln. Doch Bademeister Hartmut Ebert sieht alles.
An der äußeren Bojenkette treibt ein bewegungsloser Mann auf dem Rücken. Er trägt eine neongrüne Badekappe, nur die Fußspitzen und der Kopf schauen aus dem Wasser. Hartmut Ebert hat ihn gerade erst entdeckt. Einen Augenblick lang blickt er konzentriert hinüber zu der Stelle, die vielleicht 80, 90 Meter vom Ufer entfernt ist. Er kneift die Augen zusammen, runzelt die Stirn, der Kiefer ist angespannt. "Ah gut, den kenn' ich," sagt er dann, seine Miene entspannt sich. Bei dem vermeintlich leblosen Mann handelt es sich um einen geübten Schwimmer, der hier regelmäßig seine Bahnen zieht. "Der spielt bloß toter Mann", sagt Ebert und grinst.
Hartmut Ebert ist Bademeister und Betriebschef im Strandbad Farmsen, einem Naturfreibad in einer ehemaligen Tongrube im Hamburger Nordosten. An Tagen wie heute hat er alle Hände voll zu tun. Es ist Wochenende, vor Kurzem haben in Hamburg die großen Ferien begonnen, das Thermometer zeigt um die Mittagszeit 29 Grad. Seit 10 Uhr früh ist er im Bad unterwegs, "Toiletten kontrollieren, Strand ablaufen, Wasserproben nehmen. Muss man alles erledigt haben, bevor die Badegäste kommen", sagt Ebert.
Eine Stunde später startet dann der Badebetrieb, über 2000 Gäste können es an so einem Tag werden. Sie liegen auf den Wiesen oder am Sandstrand, plantschen im seichten Nichtschwimmerbereich oder ziehen im etwa fünf Meter tiefen Schwimmerbereich ihre Bahnen. Schluss ist normalerweise um 19 Uhr - außer Ebert will seinen Gästen etwas Gutes tun: "Neulich, da hatten wir 33 Grad. Da hab' ich abends ne Durchsage gemacht, dass wir aufgrund des guten Wetters eine halbe Stunde später schließen. Da haben die sich aber gefreut."
Hartmut Ebert, Bademeister seit 1979Der 65-Jährige hat die gesunde Gesichtsfarbe eines Menschen, der viel Zeit an der frischen Luft verbringt. Arme und Beine sind stark gebräunt. Zum Schutz gegen die stechende Sonne trägt er einen ausgeblichenen Strohhut, dazu dunkelblaue Badeshorts und das signalrote T-Shirt der Farmsener Rettungsschwimmer. Sein drahtiger Körper ist ständig in Bewegung. Seit 1979 ist er Schwimmmeister, seit zwei Jahren ist Chef im Strandbad. "Eigentlich wollte ich ja meine Rente genießen", sagt er und lacht. Doch dann ging 2017 die damalige Badleiterin in Mutterschutz. "Da haben sie mich halt gefragt, ob ich das nicht machen kann. Ich wohn ja hier hinten gleich hinterm Zaun." Ebert zeigt mit dem Finger auf die Backsteinmauer, die das Badgelände begrenzt. Dahinter sieht man die Giebelspitze eines grauen Hausdachs. "Jetzt hab' ich gar keinen Urlaub mehr. Also im Sommer zumindest."
Im Farmsener Strandbad dauert die Saison von Mai bis September, geöffnet ist je nach Wetterlage. Ebert hat immer Dienst. "Wenn offen ist, bin ich da", sagt er. Neben ihm sind das Kassen- und Verkaufspersonal und mindestens drei weitere Rettungsschwimmer vor Ort. Das Strandbad wird, im Gegensatz zu den meisten anderen Bädern in Hamburg, nicht von der Stadt betrieben, sondern von einem Verein. Der wurde 1988 gegründet, als der damalige Besitzer, die Hamburger Wasserwerke, das Bad aufgeben wollte. Doch ein paar engagierte Farmsener schlossen sich zusammen und retteten ihr Bad.
Der Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge, Spenden - und natürlich das Eintrittsgeld. Vier Euro kostet eine Tageskarte für Erwachsene, Kinder zahlen nur die Hälfte. Damit das Bad profitabel bleibt, müssen mindestens 25.000 Badegäste pro Saison kommen. Im "Katastrophenjahr 2017", wie Ebert es nennt, waren es gerade einmal 11.000. "Da haben wir ganz schön gezittert." 2018 konnte die Bilanz ein wenig ausgleichen, es kamen 46.000 Besucher.
Mehr Gäste, mehr Stress für den BademeisterAuch 2019 scheint ein ganz gutes Jahr zu werden. Allein heute sind bis Mittag schon um die 1000 Badegäste im Bad, auch die letzten Wochen waren gut. Natürlich freut sich Badleiter Ebert über so eine Zahl - aber sie bedeutet auch Stress für ihn. Ein tätowierter Endzwanziger schickt sich gerade an, mit seiner etwa drei Jahre alten Tochter auf dem Arm über die innere Bojenkette zu steigen, die den Nichtschwimmer- vom Schwimmerbereich trennt. 1,40 Meter ist das Wasser an dieser Stelle tief. Ebert steht am Ufer vor seinem Beobachtungsturm, streckt die rechte Hand nach oben, winkt dem Mann zu, bis er Blickkontakt hergestellt hat. Dann deutet er mit dem Zeigefinger auf das kleine Mädchen und macht eine Wischbewegung in Richtung Ufer. Sofort steigt der Mann zurück in den Nichtschwimmerbereich.
"Der Bademeister ist immer noch eine Respektperson hier", sagt Ebert. Stress gebe es fast nie, "aber wir sind ja auch zu 90 Prozent ein Familienbad." In der Tat: Im Nichtschwimmerbereich wuselt es von Kindern jeglichen Alters. Kleinkinder mit Schwimmflügeln, Grundschulkinder mit Taucherbrillen, Sechstklässler auf Luftmatratzen, dazwischen vereinzelt Elternteile. Es scheint unmöglich, sich auf eine Situation zu konzentrieren. Wie behält man da denn Überblick? "Das ist Routine", sagt Ebert, während er gemächlich am Ufer entlangläuft. Seine Augen stehen nie still, haben stets den See, den Strand und die Liegewiesen im Blick. Auf dem Weg hat jemand eine grüne Plastikschaufel liegenlassen. Ebert hebt sie auf und bugsiert sie zurück in den Strand.
Das Walkie-Talkie knarzt. "Hartmut?", fragt eine rauschige Stimme in Eberts Hosentasche. Der Bademeister holt das Gerät hervor und spricht ein deutliches "Hört!" hinein. Eberts Kollegen am Steg im Eingangsbereich haben eine Entdeckung mit dem Fernglas gemacht. "Die Frau mit dem Reifen, die erreichen wir mit dem Megaphon nicht. Gehste mal hin?", knirscht es aus dem Walkie-Talkie zurück. Die Augen des 65-Jährige fliegen über die Seefläche. Nach zwei Sekunden hat er die Frau entdeckt, sie treibt mit einem aufblasbaren Reifen im Schwimmerbereich, das ist verboten. Er läuft ein paar Schritte am Ufer entlang, bis er auf gleicher Höhe mit ihr ist. Auch hier: Blickkontakt aufnehmen, kurz gestikulieren. Die Frau schwimmt mit ihrem Reifen zurück in den Nichtschwimmerbereich. "Wir wollen nicht, dass die Kinder sowas sehen und nachmachen. Die schwimmen dann auch mit ihren Reifen ins tiefe Wasser, rutschen einmal unten durch und gehen unter", erklärt Ebert.
"Immer weniger Kinder können gut schwimmen"Der Bademeister ist froh, wenn sie im flachen Uferwasser bleiben. "Heutzutage können ja immer weniger Kinder wirklich gut schwimmen", sagt er. Woran liegt das? Zum Teil an den Eltern, so Ebert. "Die führen ihre Kinder gar nicht mehr ans Wasser heran." Das fange schon im Kleinkindalter an: "Da muss man raus mit den Kindern. Ins Schwimmbad, an den See. Hauptsache nass." Ebert deutet auf zwei Grundschuljungs im Flachwasser. Sie haben Taucherbrillen an, kabbeln sich und juchzen, werfen sich immer wieder ins Wasser. "Solche Kinder meine ich. Die haben hier richtig Spaß. Die haben keine Angst." Leider, so Ebert, sei das immer weniger der Fall. "Viele Eltern denken sich: Mein Kind lernt ja in der Schule Schwimmen. Aber das ist falsch", sagt Ebert. Wer Angst vor Wasser habe, gehe auch beim Schwimmunterricht nicht ins Becken. Und die Lehrer hätten nicht die Zeit, sich um jedes Kind so intensiv zu kümmern.
60 Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen in Deutschland schaffen den Freischwimmer nicht, ergab kürzlich eine Studie. Das hat Auswirkungen: Wer in jungem Alter nicht Schwimmen lernt, der bleibt oft sein Leben lang Nichtschwimmer. Ebert merkt das auch bei sich im Bad: "Früher waren mehr Leute im Schwimmerbereich unterwegs. Heute sind da oft den ganzen Tag über nur eine Handvoll."
Online-Petition gegen das "Badsterben"Problematisch sei auch, dass immer mehr Bäder in Deutschland schließen. "Wo sollen die Kinder denn schwimmen?", fragt Ebert. Davor warnt auch die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG). Von 2000 bis 2017 sind in Deutschland jedes Jahr rund 80 Bäder geschlossen worden, hat die DLRG ermittelt. "Kein Wunder", sagt Bademeister Ebert, "Schwimmbäder sind fast immer ein Minusgeschäft." In der Tat: Energie und Wasser müssen bezahlt werden, Chemikalien, Personal und Instandhaltung. Viele Bäder überleben nur, wenn sie staatlich bezuschusst werden - oder wenn sich, wie in Farmsen, ein Verein oder privater Träger findet. Die DLRG hat deswegen nun eine Online-Petition gestartet, um ein weiters "Badsterben", wie sie es nennt, zu vermeiden.
Im vergangenen Jahr sind in Deutschland mehr als 500 Menschen beim Baden ertrunken, wie eine DLRG-Auswertung ergeben hat. Nicht immer waren daran mangelnde Schwimmfähigkeiten schuld. Menschen überschätzen sich, unterschätzen Distanzen, erleiden medizinische Notfälle. In Farmsen gab es 2018 glücklicherweise keine Toten - wohl aber vier Badeunfälle. Ein Vater, so erzählt Ebert, sei zum Beispiel mit seiner vier oder fünf Jahre alten Tochter in den Schwimmerbereich hinausgeschwommen. Das Kind habe sich dort plötzlich verschluckt und sei in Panik geraten. "Da hat sich die Kleine an den Hals des Vaters gekrallt und ihn unter Wasser gedrückt." Der Vater habe wild um sich geschlagen und laut um Hilfe gerufen. Einer seiner Kollegen habe die Situation sofort erkannt und das Team alarmiert. "Zwei sind dann sofort rausgeschwommen zu ihm und haben ihn aufs Rettungsbrett gelegt, dann haben sie ihn an Land gezogen." Vater und Tochter hatten Glück: Sie überlebten.
Am Uferbereich ist, während Ebert erzählt hat, eine Entenmama mit zwei Küken aufgetaucht. Unbeirrt schwimmen sie zwischen den plantschenden Kindern durch, direkt auf eine vierköpfige Gruppe halbstarker Jungs zu. Ebert ruft ihnen zu: "Aber gefrühstückt habt ihr schon?" und lacht. Auch die Teenager lachen, einer von ihnen nickt in Richtung der Enten und entgegnet: "Ne, wir hauen die jetzt aufn Grill." Ebert lacht nochmal, dann verstummt er jedoch und sagt mit ernsterer Stimme: "Ne komm. Lasst die mal in Ruhe." Die Jungs waten ein paar Schritte zurück, Mama Ente und die Küken schwimmen davon.
Auch Rettungsschwimmer sind rarEine Kollegin von Ebert kommt angelaufen. Sie ist zwar gerade einmal 16 Jahre alt, aber schon ausgebildete Rettungsschwimmerin. Eine von mehreren jungen Leuten, die im Sommer auf 450 Euro-Basis im Bad mithelfen. Ebert würde gerne mehr als drei Rettungsschwimmer außer ihm da haben, "aber es gibt einfach keine." Vier müssen es mindestens sein, damit das Bad abgesichert ist. "Ich hab' schon die Unis in Hamburg angeschrieben, die haben oft Rettungsschwimmergruppen. Zwei Leute konnten die uns schicken, die jetzt ab und an mitarbeiten." Ebert findet, dass nicht nur in die Schwimmausbildung von Kindern, sondern auch von Rettungskräften zu wenig investiert wird.
Seine Hoffnung: die DLRG. Weil im Farmsener Strandbad eine größere Fläche neben dem Kassenbereich bislang ungenutzt ist, hat Ebert den zuständigen Mitarbeitern in Hamburg angeboten, dort einen Stützpunkt zu errichten. Im Gegenzug hofft er auf ihre Unterstützung beim Badebetrieb.
Eberts junge Kollegin und der erfahrene Bademeister tauschen nun die Plätze: Ebert geht vorn zum Steg, die Kollegin klettert den Badeturm hoch. Ebert bemerkt, dass sie ziemlich rote Beine hat. "Eincremen bitte, ja?", ruft er ihr zu. Es klingt ein wenig väterlich-besorgt "Jahaa", kommt es von oben zurück. Der Bademeister nickt zufrieden und marschiert in Richtung Steg.
Ist das, was er hier tut, sein Traumjob? "Na klar!", kommt es wie aus der Pistole geschossen. "Ich darf mit Menschen arbeiten. Mit fröhlichen Menschen. Im Freibad sind alle fröhlich." Da mache es ihm auch nichts aus, dass er manchmal wochenlang keinen einzigen Tag frei habe, sagt er. Und auch nicht, dass der Job ganz schön anstrengend sei. "Ich mach es gerne."
Ein kleines Mädchen auf dem Hüpfkissen, vielleicht drei Jahre alt, hat den Bademeister auf seinem Rundgang entdeckt. "Hallo Hartmut!", ruft sie zaghaft und winkt. Im Gewusel der Kinder ist sie kaum zu erkennen. Der Bademeister bleibt stehen, sucht mit seinen Augen das Hüpfkissen ab. Dann hat sein Blick das Mädchen gefunden, er winkt zurück. Die Kleine lächelt. Hartmut Ebert sieht alles.
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