Seit 1997 gehört das Hurricane zu den etablierten Musikfestivals in Deutschland. Und mit bis zu 73.000 Besuchern auch zu den Großevents hierzulande. 1.750.000 qm Fläche für Zelt- und Parkplätze breiten sich um das 90.000 qm große Festivalgelände in der Provinz zwischen Bremen und Hamburg aus. Offizieller Start des Festivals war am 19.06.2015. Unzählige Helfer hatten über 52 km Kabel verlegt, 1.300 Toiletten aufgestellt und 35 km Bauzaun montiert.
Auf der Motorrad-Sandrennbahn Eichenring im niedersächsischen Scheeßel wird erfolgreich auf eine Mischung aus Alternative, Rock, Pop und in den letzten Jahren zunehmend auf Electro-Acts gesetzt. Die Entwicklung zum grünen Festival wurde auch in diesem Jahr vorangetrieben. Pfandstationen auf dem Gelände erleichterten die korrekte Müllentsorgung, eigene Zeltplätze für ruhiges und grünes Camping standen Familien, ökologisch Orientierten und nach Rock'n'Roll-Schluss Ruhebedürftigen zur Verfügung. Die Möglichkeit im Ressort zu übernachten spart lange Wege, wenn auch kein Geld, denn teuer sind die komfortablen Unterkünfte allemal. Vorbei jedoch für die Begüterten die Zeiten der langen Wege und des Schleppens von A nach B. Und allgemein des Niederbrennens aller Überreste am Abreisetag. Grün rockt - so lautet die Überzeugung der Hurricane-Macher. Doch da auch Rock rockt war die Vorfreude, trotz des wenig sommerlichen Wetters, groß, als es am Freitag losging. Einem Freitag voller Highlights!
Freitag
Beim Check-In für die Presse, auf einem umfunktionierten Hof in Scheeßel, eine gute Dreiviertelstunde per Pedes vom Festivalgelände entfernt, gab es jedoch zunächst deren drei schlechte Nachrichten zu gewärtigen. Der erste Festivalklatsch brachte folgende Missstände zu Gehör: Die Ausgabe der Festivalbändchen mit den elektronischen Chips, die sich zuvor mit Bargeld im Internet oder am Gelände über Einzahlautomaten aufladen ließen, sei schlecht organisiert gewesen. Von zwei- bis dreistündigen Wartezeiten wurde an einzelnen Ausgabestellen berichtet. Den Betroffenen sei Beileid bekundet. Und betont, dass die Organisation an den folgenden Tagen im Allgemeinen gut zu funktionieren schien. Außerdem wurde bekannt, dass das Hurricane mit 61.000 verkauften Festivalpässen deutlich unter den Erwartungen und den Zahlen der letzten Jahre geblieben war. Schließlich wurde der geneigte Reporter Augenzeuge des ersten Festivalskandals, noch bevor er selbst einen Fuß auf das Gelände gesetzt hatte. Denn eben vor den Check-In-Schalter getreten, stapfte ein großer, schwerer Mann in Gummistiefeln und Latzhose an der kurzen Schlange wartender Journalisten vorbei. Wie sich herausstellen sollte, ein anliegender Landwirt. Ein Anlieger mit Anliegen.
Entschlossen stemmte der Landmann seine durch die harte Arbeit groben Hände auf den Tresen, fixierte den sympathischen Pressebetreuer und stieß den Satz aus: „Das Hurricane läuft aus dem Ruder!" Als Journalist reibt man sich die Hände und harrt der skandalösen Dinge, die da kommen mögen. Und siehe, der brave Agronom zeterte: „Die Chaoten haben den Bauzaun eingerissen und sch*** mir Alle in den Wald!" Ein besonders witziger Hurricane-Mitarbeiter ließ sich zur Bemerkung hinreißen: „Dann brauchst du wenigstens nicht düngen." Auf einen Blick des Bauern, der an niedersächsischer Reserviertheit und echter Finsternis keine Wünsche übrig ließ, verstummte der Scherzbold. Der Pressebeauftragte versprach, rasch einen Verantwortlichen anzurufen und bat darum, eben die wartenden Journalisten abzufertigen. Bedauerlich, ich hätte gern gehört, wie das weiterging. Doch mit meinem Presseticket ums Handgelenk und den drohenden Worten des Bauern, „Mach mal, sonst hol ich die Schrotflinte raus", begab ich mich Richtung Festivalgelände.
Auf dem Fußmarsch zum Gelände wurden die Verhältnisse in Bezug auf die Altersstruktur des Festivals unmissverständlich klar gestellt. Nach fünf Minuten unter dem Festivalvolk war der Reporter bei drei von drei Gesprächen gesiezt worden. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Festivalbesucher untereinander auf die Idee kommen könnten, sich zu siezen. Doch wären vermutlich die größtenteils recht jungen Besucher wohl auch nie auf die Idee gekommen, dass ein derart alter Mensch ihr Happening besuchen könnte. Zum Glück hielten mich und meinen Kompagnon, wie ich ein Mann näher der 40 denn der 35, die zwei betrunkenen Teenie-Mädchen, die uns gesiezt hatten, immerhin nicht für so alt, dass sie uns nicht zugetraut hätten, ihren Hausstand eine Weile für sie zu schleppen. Die Damen waren wohl etwas erschöpft und hatten eben danach gefragt. Da waren wir Veteranen natürlich froh, auch heute noch gebraucht zu werden. Wie eine unsere dauerhaften Begleiterinnen aus der nämlichen Alterskohorte wusste, gehörten wir zu den ältesten 7% Prozent der Festivalbesucher, was der Augenschein der folgenden Tage durchaus bestätigte. Ein Hoch auf die unbestechliche, die gnadenlose Statistik.
Als idealer und entspannter Einstieg in das Festival boten sich die australischen Geschwister Angus und Julia Stone an. Das Duo war mit vier Gastmusikern angereist. Die derart erweiterte Combo spielte einen warmen und sehr entspannten Indie-Folk auf grundsolider Blues-Basis. Mit Banjo, halbakustischer und E-Gitarre, Keyboard und anderen Tasteninstrumenten verbreiteten die abwechselnd singenden Geschwister, wobei sich Julia entsprechend ihrer größerer Sangesbegabung hervortat, eine grundgute Bühnenatmosphäre. Vor der Bühne stiegen Seifenblasen in den wolkenverhangenen Himmel. Junge Menschen mit bemalten Katzengesichtern und Glitzer an der Wange bildeten kleine Tanzkreise, in denen die Hüften gewiegt wurden und auch mancher improvisierter Paartanz zur Aufführung kam. Dies motivierte Julia Stone gar zu einer kleinen Kostprobe ihrer Deutschkünste: „Ihr seid geil" rief sie von der Bühne. Ein Kompliment, dass das Publikum mit langanhaltendem warmem Applaus schließlich gern zurückgab.
Ein persönliches Highlight das Abends startete anschließend um 19:45 Uhr auf der grünen Bühne. Das Wiedersehen mit NOFX, der vor 32 Jahren gegründeten US-Punkrock-Legende machte, wie jedes Mal, gewaltigen Spaß. Gitarrist El Hefe startete auf der Bühne mit einer Bierverkostung, wozu er ansehnlich grimassierte. Anschließend kamen Bandleader Fat Mike und Konsorten auf die Bühne, über der traditionell einzig ein fusseliges, winziges „NOFX"- Schild windschief baumelte. Fat Mike grüßte seine Mama und erklärte, diese habe ihm geraten, sich bei einem Festival in Deutschland hübsch warm anzuziehen. Zwar habe er seiner Mutter erklärt, dass es Sommer auch in Deutschland gäbe. Wobei er sich nun nicht mehr so sicher sei. Mit Nietenlederjacke und kurzen Hosen wähnte er sich jedoch gut ausgestattet. Im Unterschied zum zweiten Gitarristen Eric Melvin, der mit freiem Oberkörper daher kam. Trotz aller Beteuerungen, dass er nicht friere, ließ es sich Fat Mike nicht nehmen, den Mitstreiter etwas warm zu rubbeln. Melvin schüttelte sich und bat darum, Fat Mike möge endlich seine, um es in noch harmloser Übersetzung wiederzugeben, Wichsgriffel von ihm nehmen. Nach dieser gewohnt lässig-nonchalanten Ouvertüre gaben NOFX mit sattem Uptempo-Beat ein Potpourri ihrer alten Hits zwischen Skater-Punk, Ska und Hardcore zum Besten. Vor der Bühne wurden kräftig Bierduschen verteilt und der gute alte Pogo zeigte sich in ewig junger Blüte. Zwischen heiteren Trompeten-Soli von El Hefe erregten zwei Dinge die Aufmerksamkeit von Fat Mike. Vor der Bühne hüpfte ein Festivalbesucher im Ganzkörper-Bananenkostüm herum. Das missfiel Fat Mike, der sich irgendetwas über seine Lebenserfahrung mit „Bananentypen" zurecht faselte und den unbeirrt Herumhüpfenden mehrmals grinsend mit „Fuck you, Banana" schurigelte. Außerdem ließ es Fat Mike keine Ruhe, dass auf der grünen Bühne nach NOFX The Gaslight Anthem spielen sollten und die Freunde von Lagwagon auf der roten Bühne. Also forderte Fat Mike die Zuhörerschaft auf, nach dem Konzert sofort zur roten Bühne zu eilen. Es sei denn, sie hätten tatsächlich dermaßen keine Ahnung von Punk, dass sie sich lieber die „Loser" Gaslight Anthem anschauen wollten. Auch wenn das natürlich wahnsinnig nette Leute seien. Außerdem ließ sich Fat Mike für sein 20-Jahre-ohne-Drogen-Jubiläum feiern. El Hefe gab bei aller Euphorie zu bedenken, dass er Fat Mike mit einer kleinen Menge Drogen intus immer noch lieber gehabt hätte. Aber Mike hätte ja den Hals nie voll gekriegt. Nach diesem Zwischenspiel wurde Radio in einer sehr reggaelastigen Extended-Version gespielt, was zu entspanntem Tanzen allenthalben und ausgelassener Stimmung führte. Auch wenn Fat Mike seinen Getränkebecher mit XXL-Strohhalm so am Mikroständer befestigt hatte, dass er sich zum Trinken nicht bücken musste, war durch die launigen Plaudereien ein gewisser Zeitverzug entstanden. Dies erforderte radikale Maßnahmen: „Ok, eleven Songs in three Minutes" wurde angekündigt und in Sachen Tempo und gekonnter Übergänge wahrlich mitreißend umgesetzt. Anschließend atmete Fat Mike durch, legte die Lederjacke ab und erklärte Neulingen worauf es bei NOFX-Konzerten ankomme: „Quantity, it's all about Quantity"! Die nötige Verschnaufpause nutzte Fat Mike um Werbung für einen Hamburger Flohmarkt zu machen, wo man ein so tolles babyblaues „Adolescent"-Shirt, wie er es trage, für nur 4 Euro kaufen könnte. Wow, ich hätte es nicht geschenkt genommen, doch man muss es auch tragen können. Weiter ging die wilde Fahrt mit der Live-Premiere von Suits and Ladders und der abermaligen Empfehlung im Anschluss Lagwagon anzuhören. Danach war die Zeit gründlich überzogen und am Bühnenrand ließen sich erste Techniker blicken und deuteten auf imaginäre Armbanduhren. Fat Mike schnodderte „We play another set" - und ließ nach dem aufbrandenden Jubel den Techniker schöne Grüße an Gaslight Anthem ausrichten: „The People has spoken"! Dann knallten diese wunderbaren Unikate des Punkrock Kill all the White Man herunter und verabschiedeten sich mit den Worten: „Now Lagwagon".
Welcher Reporter wäre so kaltschnäuzig, diesem Diktat zu widerstehen. Ich gewiss nicht. Und so ging es rüber zur roten Bühne, wo mit Lagwagon eine weitere Legende des California-Punk aufspielten. Die 1990 gegründete Formation um Sänger Joey Cape hatte 2013 mit neuem Album, neuer Ernsthaftigkeit und musikalischer Härte aufmerken lassen. Auf der Tour hatte das Quintett im Berliner SO36 in wahrem Düsenjet-Tempo ein Hardcore-Feuerwerk abgebrannt, das selbst mit alten Hits keine Sentimentalitäten kannte. Beim Hurricane präsentierten sich Lagwagon einmal mehr schnörkellos und überzeugten mit enormer Live-Qualität. Joey Cape konzentrierte die Ansagen auf das Nötigste und es wurde Hochgeschwindigkeits-Melodycore geboten. Dass das Tempo nicht ganz so brachial durchgezogen wurde, wie auf der Tour im Frühjahr, tat insbesondere den alten Songs, die durchaus ihre hymnischen Qualitäten haben, sehr gut. Der gesamte Auftritt war bretthart, von einer in die Beine gehenden Intensität und voll auf die Zwölf. Eine rundum klare Kiste, die die Menge vor der roten Bühne zum Kochen brachte. Ein emotionales Highlight bildete der Tribute-Song für Tony Sly. Der verstorbene No Use for a Name-Sänger war ein Wegbegleiter und guter Freund von Joey Cape. Unter frenetischem Jubel verließ der furiose Fünfer schließlich die Bühne.
Auf Lagwagon folgten auf der roten Bühne die Backyard Babies, das vermeintlich nächste Highlight. Die Neugier, was mit den schwedischen Punk-Hard-Rockern sieben Jahre nach dem letzten Album los ist, war zu groß, als dass ein Rübermachen zu den „nice guys" (Fat Mike) von Gaslight Anthem in Frage gekommen wäre. Während man sich später erzählte, die Reggaeformation hätte blendende Laune verbreitet und große Spielfreude an den Tag gelegt, muss man feststellen, dass der Auftritt der Backyard Babies den hohen Erwartungen nicht entsprochen hat. Neben alten Hits präsentierte der 1987 gegründete Vierer aus Nässjö Songs des in Entstehung befindlichen neuen Albums. Ihrem Ruf als wahrhaft speckige Schweinerockbrigade wurden die Backyard Babies jedoch nicht gerecht. Und einen gewissen Nimbus durfte man voraussetzen, immerhin hatte Gitarrist Dregen für die Backyard Babies die Hellacopters verlassen. Und so leicht verlässt wohl niemand die Hellacopters. Während Lagwagon dem gegen halb 10 eingesetzt habenden Dauerregen mit einer energetischen Performance und entschlossener Ausstrahlung begegnet waren, verloren sich die Backyard Babies etwas in Selbstgefälligkeit. Nicke Borg ließ sich wiederholt zu minutenlangen Gitarrensoli hinreißen, wo Griffigkeit und hohes Tempo den begossenen Pudeln im Publikum mehr Kraft gegeben hätten. Da halfen auch gelegentliche Nettigkeiten nicht. Der Auftritt war musikalisch durchaus in Ordnung, doch gingen den Backyard Babies die Galligkeit, das Rotzige ab, das die Alben der Schweden besonders macht. Gesanglich schien Borg nicht alle Register zu ziehen, oder aber er verpulverte seine Kräfte eben in nicht gerade notwendigen Gitarrensoli. Das Publikum nahm das Alles recht wohlwollend zur Kenntnis, doch wurde auffallend oft der Weg zum Bierstand eingeschlagen. Zeit, die sich wegen des unbedingten Tanzeinsatzes bei Lagwagon nicht ergeben hatte. Ein wenig angestaubt wirkte es, was die Backyard Babies zum Besten gaben. Das klang nach KISS und Mötley Crue, wo eine deutlichere Portion Social Distorsion der Veranstaltung gut getan hätte. In gewisser Hinsicht altehrwürdig, aber doch nicht auf den Punkt.
Von der roten Bühne ging es folglich leicht vorzeitig im Laufschritt zurück zur grünen Bühne, wo Placebo den Abend beschließen sollten. Die international besetzte Formation aus London blickt auf eine wechselvolle Bandgeschichte bei gleichzeitiger enormer Stiltreue und inzwischen sieben Studioalben zurück. Trotz leichter Innovationstendenzen auf dem 2013er Longplayer Loud Like Love hat sich die Band, deren festen Stamm der charakteristische Sänger Brian Molko und Bassist Stefan Olsdal bilden, von Neuerfindungstendenzen rein gehalten. Das mag nicht immer ganz spannend sein, hat der Formation aber eine gewaltige Fanbase eingebracht. Und Placebo enttäuschten die Erwartungen nicht. Mit Videoprojektionen wurde hier der ganz große Bahnhof beschworen und das durchaus gelungen. Ein Reigen der großen alten Hits, der das Publikum zum andächtigen bis durchaus wilden Wogen brachte. Zwar saß nicht alles perfekt, so wurde Every you every me von Molko relativ versemmelt, doch hatte Placebo im strömenden Regen auch große Momente zu bieten. Je länger die Show dauerte, desto betörender wurde das Ganze. Das Finale mit den großen Blockbustern Special K und The Bitter End zeigte die Londoner als große Meister ihres Fachs, das hatte Gänsehautqualität. Nach minutenlangem Fordern einer Zugabe kam die Kapelle zurück. Molko bezeichnete die treuen Zuhörer als „Real Warriors of Rock", recht so, und setzte mit dem Kate Bush-Cover Running up that Hill zu einer gloriosen Zugabe an. Nach Post Blue gab es Infra-Red zu hören und schlussendlich auch zu bejubeln. Erwartung erfüllt, keine Experimente, die großen Hits in großer Rockshow und ab. Das war schlicht die richtige Band für Uhrzeit und Wetter. So ging der Freitag zu Ende.
Samstag
Als wir am Samstag auf dem Gelände eintrafen verwandelten die Südafrikaner von Die Antwoord gerade das Festival mit hämmernden Beats, schrillem Plastikgesang und Videoanimationen von Bikini-Planschbecken-Miezen in ein Ballermann-Tollhaus allererster Güte. Viele schienen das sehr gut zu finden. Ich persönlich hielt die Performance für die Hölle auf Erden. Nun gut, jedem das Seine.
Den Samstag durfte für mich persönlich das Farin Urlaub Racing Team gewohnt animativ eröffnen. Farin hatte natürlich blendende Laune und zeigte sein Perlweiß-Haifischgrinsen so oft es ging. Ich kenne keinen vergleichbar gelaunten Menschen, dem man diese Naturprallheit tatsächlich abnimmt. Mitgebracht hatte der gute Ex-Arzt das Racing Team, bestehend aus vier Trompetern, zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, sowie drei Backgroundsängerinnen. Diese Fülle auf der Bühne gewahrte man sehr plötzlich, wurde diese doch vor dem Auftritt von einem riesigen Vorhang verdeckt. Während man noch rätselte, wann es den losgehen würde, schreckte jäh ein gewaltiger einzelner Schlagzeugbeat die Zuhörerschaft auf, dann fiel der Vorhang und Farins Spaß-Show war eröffnet. Es folgten witzige Ansagen, eine Menge Freude bei der Arbeit und ein gewaltiger Kindergeburtstag mit dem Publikum. Dieses fraß der Grinsebacke aus der Hand, machte La Ola - gerade und seitlich -, sang aus Leibeskräften mit, warf Strandbälle und Konfetti in den Himmel, setzte sich und machte Männchen auf Kommando und sang schließlich Die Leiche a capella fast vollends selber. Dazu dudelten die Bläser, tanzte das gesamte Ensemble ununterbrochen und nahm sich insgesamt wie ein Kinderchor auf Ekstasy aus. Das war wirklich heiter, wenn mir persönlich auch die bedingungslose Hingabe der Leute etwas zu weit ging. Man wird ja wohl noch kritisch sein dürfen. Fiel jedoch tatsächlich schwer. Einfach ein guter Mann, wenn auch das FURT musikalisch und textlich nicht an Die Ärzte herankommen. Dafür ist das Konzept dann doch etwas zu eindimensional positiv verstärkend, zu selbsttherapeutisch und auf Animation ausgelegt. Gewirkt hat es trotzdem. Ich schreibe das ja auch nur, weil es sonst am Ende wieder keiner tut. Punkt.
Weiter ging es auf der roten Bühne mit The Cat Empire. Die sechsköpfige Combo aus Australien setzte auf instrumentale Vielfalt und hatte sich gar noch mit zwei Gastmusikern verstärkt. Banjos, Trompeten und Percussions in Hülle und Fülle, Flöten, E-Piano und Kontrabässe, dazu ein scratchender DJ wurden gesichtet und vernommen. Auch stilistisch bot die Band einen mehr als wohltuenden Genremix. Fusion-Jazz und Reggae, wilde Gospel-Klänge, Klezmer, Hip Hop und Funk bis an die Grenzen des Ska wurden von dieser Vollblutrasselbande zum Besten gegeben. Dabei machte sich, trotz äußerst anregender Darbietung, eine lässig-entspannte Atmosphäre im Auditorium breit. Ansagen gab es keine und die Band schien wie für sich selbst zu spielen, genügsam, glücklich und ohne je enden zu wollen. Dieser Verzicht auf die große Rock- oder Popstarattitüde war sehr angenehm. So tanzte und schunkelte die Menge vor sich hin, viele blickten nicht einmal zur Bühne. Das erinnerte mich stark an das Festivalgefühl auf dem Summer Jam. Hier ging es nicht um die Band, sondern um die Musik und die Leute. Großartig, das zauberte gute Laune und ein warmes Gefühl in die Herzen. Auch wenn das Wetter für einen Juni recht frostig war. Doch vor so viel künstlerischem Sonnenschein verneigte sich auch der Himmel und behielt seine Tränen bis zum Ende des Festivals für sich.
Black Rebel Motorcycle Club, im Anschluss auf der roten Bühne zu erleben, spielten den besten Gig des Festivals. Ich wurde Zeuge des drittbesten Konzerts meines Lebens! Das Alternative-Trio um die Gründungsmitglieder Peter Hayes und Robert Levon Been hat sich inzwischen von der strikten Punk-Rock-Doktrin der Anfangsjahre verabschiedet. Mit Leah Shapiro, nach Hirnoperation 2014 wieder genesen, am Schlagzeug kamen auch die neuen Folk, Americana und Blues-Einflüsse der Kalifornier zum Tragen. Das ergab eine vielschichtige, tiefe und intelligente Rock-Musik, die mich daran erinnert hat, wie - verdammt noch mal - geil E-Gitarrenmusik sein kann. Hayes und Levon, diese beiden Superhechte in schwarzem Leder, von denen man nicht sagen kann, wer das größere Genie ist, peitschten als wahre Schamanen den Rock'n'Roll in die komplette Musiktradition Amerikas. Brettharte Gitarrenriffs, das Schlagzeug durchgeknüppelt und mäandernde Auflüge in dunkle psychedelische Tiefen. Statt Mitmachgestus Leck-mich-Attitüde mit Kippe im Mundwinkel. Unbeschreiblich, ein einziger, großer, wahrer und erschöpfender Gitarren-Orgasmus. Genug gesagt, nur eines noch: Wer noch nicht weiß, dass Black Rebel Motorcycle Club eine der besten Rock-Bands des Planeten ist, hat diesen Artikel nicht verstanden.
Nach diesem Höllenritt fühlte ich mich zugleich beseelt, erfüllt und sehr erschöpft. Dem auf der grünen Bühne den Einpeitscher wie Rausschmeißer des Tages gebenden Jan Delay konnte und wollte ich zunächst keine rechte Aufmerksamkeit widmen. Genau genommen wollte ich keine anderen Töne mehr meine Gehörgänge passieren lassen. Wer putzt sich schon direkt nach einem köstlichen Eis die Zähne? Dass mich der Hamburger Nasal-Troubadour dennoch für sich einnehmen konnte, war nicht hoch genug einzuschätzen und seiner konsequenten Party-Performance auf hohem Niveau geschuldet. Mit drei Trompetern und kräftigen Basslinien verwandelte Herr Eißfeldt im wahrsten Sinne das halbe Festivalgelände in einen tanzenden Mob. Der Kontrast aus hellem Männergesang und dem dunklen Frauengesang das Chors, das wilde und eingedeutschte Covern aller möglichen Rock-Hits von Led Zeppelin bis Red Hot Chili Peppers und die bewegungsfreudige Performance dieses First-Class-Entertainers erweichten jeden Stein bzw. brachten diesen ins Rollen und Rocken. Bei der Aufforderung „Hands up" drehte ich mich von der Bühne weg. Und sah in den Himmel gereckte Hände noch in 200 Meter Entfernung von der Bühne. Jan Delay gehörte der ganze swingende Laden. Allererste Güte und ein mehr als würdiger Abschluss eines sehr gelungenen zweiten Festivaltages.
Sonntag
So schnell war der letzte Tag des Festivals gekommen. Um 17:45 Uhr fieberte die blaue Bühne dem Auftritt von Noel Gallagher's High Flying Birds entgegen. Seit 2011 steht der ehemalige Oasis-Gitarrist, Bruder und Lieblingsfeind von Oasis-Sänger Liam Gallagher mit seinem eigenen Brit-Rock-Quintett auf der Bühne. Und dies recht erfolgreich, das Debüt erreichte ebenso wie das neue Album Chasing Yesterday in UK Platz 1. Der große Oasis-Bombast ist gewichen, doch abgesehen von der Größe werden im Prinzip dieselben Brötchen gebacken wie zuvor. Nur eben kleiner. Dennoch begegnet man einem Gallagher selbstredend mit großer Neugier und Vorfreude. Denn als charismatisch hat man die beiden größenwahnsinnigen Rauhbeine aus Manchester allemal in Erinnerung. Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug und Orgel bildeten die instrumentale Ausstattung der Band. Ohne großes Aufhebens starten Gallagher & Co ihr Set. Gespielt wurde Classic-Rock mit britischer Note. Der Sound geriet klar, doch wirkte das Bühnengeschehen recht unverbindlich. Was auch an der emotionslosen Performance der Beteiligten lag. Grundsolide wurden die Songs zum Besten gegeben, flankiert von Videoprojektionen, die vor allem Gallagher zeigten, über dessen Gesicht der Mittelstreifen einer Autobahn zu rasen schien. Im Bild wurde so eine Dynamik suggeriert, die real fehlte. Das Publikum nahm die Darbietung, bis auf einen harten Kern vermutlich ehemaliger Oasis-Fans vor der Bühne wohlwollend bis gleichgültig hin. Eine gewisse Nachmittagsschläfrigkeit lässt sich nicht leugnen. Zu wohlbekannt, zu Oasis-lastig klang die Musik, wobei Oasis ohne Pomp und die dynamische Hass-Liebe der Gallagher-Brüder auch nur noch die Hälfte wert ist. So trudelte das Konzert arm an Höhepunkten und Spannung dem vorhersehbaren Ende entgegen. Nach 50 Minuten wurde der Oasis-Klassiker Don't look back in Anger gegeben. Dankbar eine popkulturelle Erinnerung teilen zu können, hoben die vormals müden Krieger die Arme in den Himmel und wedelten gegen die Müdigkeit an. Danach ein kurzes „Thank you", ab von der Bühne und das war es. Noel Gallagher verwaltet mit dem High Flying Circus die eigene Vergangenheit recht erfolgreich. Auf Platte scheint der matte Abglanz großer Tage unters Volk zu bringen zu sein, doch ist diese Formation als Live-Band ohne Relevanz, weil uninteressant und nicht besonders motiviert. Reine Routine, die Brötchen sind für Gallagher kleiner geworden und werden nur noch im heimischen Ofen aufgebacken.
Wie schön war hingegen der Auftritt von Katzenjammer auf der grünen Bühne. Die vier Vollblutmusikerinnen bearbeiteten in einem steten Wechsel an den Instrumenten einen riesige Katzen-Bass-Balalaika, Banjo, Gitarre, Mandoline, Ukulele, Akkordeon und Schlagzeug, dass es eine wahre Folk-Rock-Art hatte. Dazu sangen alle Vier, mal solo und oft im Chor. Selbst unter heftigstem Schlagzeugwirbel bekam Turid J. Honerud noch einen mehr als annehmlichen Backgroundgesang zu Stande. Wirklich verblüffend war auch, was die vier sympathischen Norwegerinnen in vollem Körpereinsatz an Tanzeinlagen vorführten. Freude, Enthusiasmus und künstlerische Meisterschaft bei der Arbeit, sehr schön. Stilistisch trat das Quartett eine Wanderung durch die halbe Welt an. Von rauchigem Blues, der sehr in die Beine ging, über Chansons französischer Art und wilden Zigeunersound führten die Wegmarken bis hin zu einem groovenden Jazz mit Scat-Gesang. Dazu gewannen die vier Damen aus Oslo mit ihrem aufgeschlossenen und unaufdringlichem Umgang mit dem Publikum. Marianne Sveen erzählte gar eine wirklich berührende Anekdote über die Kraft der Musik, anhand eines Erlebnisses, das sie mit einer Alzheimer-Patientin gehabt hatte. Ein großartiges A Capella-Gospel-Stück krönte diesen bemerkenswerten Auftritt, der von gelebter Liebe zur Musik getragen war. Bravo!
Zur Primetime um 20:15 Uhr wurde der rote Bühnenteppich für eines der in den letzten Jahren hierzulande zurecht am stärksten beachteten musikalischen Comebacks ausgerollt. Die oberbayerische Indie-Band The Notwist brachte 2014 nach sechs Jahren Pause das kaum noch für möglich gehaltene neue Album Close to the Glass heraus und erntete Lobeshymnen. Mit intelligenten Arrangements, schwurbeligem Sound und großem Songwriting riefen sich The Notwist mehr als nur ins Gedächtnis zurück. Doch Ende 2014 verließ überraschend Martin Gretschmann, der Mann für die Electronica, die Band. Mit Messier Objects legten die Weilheimer in diesem Jahr zwar ein instrumentales Konzeptalbum nach, doch darf über den zukünftigen Weg der Band spekuliert werden. Umso schöner, den Vierer um die Acher-Brüder live begutachten zu können. Mit zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug und Keyboard war die Bühnenbesetzung auf fünf Leute angewachsen. Allerdings hätte es angesichts der komplexen Soundfülle nicht verwundern können, wenn es ein fünfzigköpfiges Orchester gewesen wäre, dem man lauschte. Und auch der musikalische Anspruch ans Live-Spielen ist bei den Weilheimer in einer außergewöhnlichen Liga unterwegs. Das Krautrock-Labor der verrückten Wissenschaftler war eröffnet. The Notwist spielten einige ihre alten Hits wie Pilot und neue Stück wie Run Run Run. Dabei wurde jedoch auf eine dramaturgisch aufs Publikumsinteresse abzählende Auswahl ebenso verzichtet, wie auf eine geläufige Interpretation der Stücke. Vor dem Konzert hatte uns eine junge Dame, die sich die Band nur als Zwischenspiel vor Casper ansehen wollte, die Frage gestellt, was für Musik diese merkwürdige Band macht, zu der alle alten Leuten auf dem Gelände gepilgert kamen. Wie treffend, dass wir geantwortet hatten: „Das kann man so nicht beantworten, das lässt sich nicht sagen". Denn unsagbar war, was The Notwist losließen, besser gesagt: Erschufen, dekonstruierten und zerstörten und in neuem Glanz wieder erstehen ließen. Ein wahres Monumentalepos des Ambient, Indietronic, Noise Rock und Post-Punk, ein wahres Improvisations-Massaker, für das man als hilflosen Genrebegriff atemlos „Krautrock" sagen möchte und vielleicht den Jazz meint, den die Bewohner von Himmel und Hölle hören mögen. Gnadenloses Feuer aus den Synthies, Gitarrenkaskaden, ein manischer Derwisch am Glockenspiel und ein Drummer wie „Tier" aus der Muppetshow, größtes Konzert-Kino! Pilot als stampfendes Elektro-Erdbeben, Run Run Run in einer opulenten Viertelstundenversion, die Auf- und Untergang des Abendlandes ungefähr ein halbes Dutzend mal am Gehörgang vorbeiziehen lässt. Dem Abgleiten in eine Suche nach Spurenelementen der Musik, folgt ein wilder, sich steigender Ritt in die Ekstase des Experimentellen, bis plötzlich und dennoch von logischer Konsequenz und kathartischer Wirkung getragen die Rückkehr in die großen Melodien als Anfangs- und Endpunkt einer höllenhündischen experimentellen Inspiration genommen wird. Dabei kamen Instrumente zum Einsatz, die zum Zählen zu zahlreich waren und zum Kennen zu exotisch. Der Körpereinsatz war enorm. Himmlische Verzückung, äußerste Gespanntheit und Momente tiefer Entspannung, großes Songwriting und improvisatorische Schöpfungskraft kamen hier zusammen. Es war eine Offenbarung, was die sympathischen Weilheimer, die allesamt wie Sozialpädagogen in der Ferienfreizeit aussahen, darboten. Ein absolutes Highlight, das mit einem genuschelten „Tausend Dank. Und viel Spaß noch" derart unkapriziös daherkam, dass man es kaum glauben konnte. The Notwist sind gewiss die beste deutsche Live-Band.
Nach diesem Höllenritt auf Engelsflügeln schlenderte ich mit einem Dauergrinsen zur grünen Bühne, wo Florence + The Machine das Festival beschlossen. Die Indie-Folk Band, deren unbedingten Mittelpunkt die junge Sängerin Florence Leontine Mary Welch bildet, feierte in diesem Jahr mit How Big, How Blue, How Beautiful, dem dritten Studioalbum, einen der größten Plattenerfolge in Europa und Übersee: Platz 1 in UK und den USA sprechen eine mehr als deutliche Sprache. Der flotte Folk-Rock der Londonerin verfügt über genug Pop-Appeal, um massenkompatibel zu sein, nimmt aber mit den bodenständigen Arrangements die Glaubwürdigkeitshürde. Hallende Keyboardklänge beschworen die Massen, die mit großem Jubel die Band empfingen. What the Water gave Me bildete den ätherischen Auftakt, im hellem Licht stand die Elfe und haschte nach den aufsteigenden Seifenblasen aus dem Publikum. Mit dem hymnischen Ship to Wreck entfaltete Welch ihre Bühnenpräsenz vollends. Die Sängerin präsentierte sich im wallenden Engelskleid sehr bewegungsfreudig und bestürmte von rechts nach links und vorn bis hinten die Bühne in allen Dimensionen. Gestenreich nahm sie das Publikum mit. Gesanglich wurde sie durch einen dreiköpfigen Frauenchor unterstützt, was zu den hippieesken Folk-Hmynen sehr gut passte. Das sechsköpfige Ensemble aus Gitarre, Schlagzeug, Keyboard, Bass und Harfe wirkte bestens eingespielt und spielte einen melodiösen, luftigen und dennoch kraftvollen Folk-Rock, der sich zum späten Abend sehr gut ausnahm. Während Wunderkerzen brannten und das Publikum aus vollem Herzen mitsang und schunkelte, endete ein sehr angenehmes Hurricane. Und das Wetter hatte auch immerhin das Wenige gehalten, was es versprochen hatte. Bis auf den Freitagabend war es trocken geblieben. Das Drama um den vollgesch*** Wald konnte zwar nicht zu Ende verfolgt werden. Doch sind keine Meldungen über Chaoten bekannt, die durch Schrotladungen zu Tode gekommen sind. Na also, eine runde Sache.