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Special

Vom Kick des Kicks

England ist das Mutterland des Fußballs. Doch nicht nur Brasilianer dürften die Sache so sehen, dass der Sport erst am Zuckerhut zu seiner eigentlichen Veredlung als Kunstform gekommen ist. Die einzig richtige Art den Fußball wahrhaftig zu interpretieren lautet: Jogo bonito, zu deutsch „schönes Spiel“. Dieser Begriff ist mehr als eine Liebeserklärung, mehr als eine Beschreibung des kreativen Stils, für den die brasilianische Seleção wie keine zweite Nationalelf berühmt wurde: Die Rede vom „jogo bonito“ ist der kategorische Imperativ des brasilianischen Fußballs. Von der Verpflichtung zu mitreißendem Offensivspektakel entbindet einzig maximaler Erfolg.

 

Der britische Student Charles William Miller brachte den Fußball 1894 nach Brasilien. Der Sohn eines schottisches Eisenbahningenieurs kehrte vom Schulaufenthalt in England zurück und brachte die Leidenschaft für den Fußball mit. Der Fußball setzte sich bald als beliebteste Freizeitbeschäftigung der elitären britischen Gemeinde durch. Die Spiele der College- und Vereinsmannschaften waren Societyevents erster Güte. Die Masse der farbigen Brasilianer blieb ausgesperrt. Brasilien hatte erst 1888 als letztes westliches Land die Sklaverei abgeschafft. Die Einfachheit des Spiels in Regel- und Ausstattungsfragen ermöglichte es jedoch auch den Ärmsten, dem Kick des Kicks zu frönen.

 

Der berühmteste Pionier jener Anfangsjahre war Arthur Friedenreich, ein Wanderer zwischen der alten Ordnung und einem multiethnischen bürgerlichen Brasilien. Als Sohn eines deutschen Auswanderers und einer farbigen Mutter stand ihm eine Aufnahme in die Vereine eigentlich nicht offen, doch dank der Beziehungen des Vaters fand Friedenreich 1909 als erster farbiger Spieler den Weg in den offiziellen Fußball. In seinem Spiel zeigte sich der bewegungsfreudige und geschmeidige Stil, das sprichwörtlich „brasilianische“ Element. Seinem Beispiel folgten viele farbige Spieler, bis 1933 der diskriminierende verpflichtende Amateurstatus aufgehoben wurde. Friedenreich war ein würdiger Repräsentant des jungen Brasiliens, er pflegte Umgang mit Menschen aller Schichten und schöpfte Stärke aus seinen multiethnischen Wurzeln.

 

Der Fußball spielte eine Hauptrolle bei der Herausbildung des nationalen Einheitsgefühls. Für die Dauer der Spiele kamen in den Stadien und auf dem grünen Rasen die unterschiedlichen Schichten und Hautfarben zusammen, im Fußball fand sich eine Metapher für das neue Brasilien. Die kulturelle Stunde Null fällt auf das Jahr 1950. Seit 1945 hatte Brasilien eine Phase der Demokratisierung erlebt, auch wirtschaftlich befand sich das „Land der Zukunft“ im Aufschwung. Die Fußballweltmeisterschaft 1950 sollte die Bühne abgeben, auf der sich die aufstrebende Nation der Welt präsentierte, den Triumph bei den Spielen inbegriffen. Der symbolische Ort der Einheit und Stärke Brasiliens war das Maracanã-Stadion. Inmitten Rio de Janeiros, dort wo die reichen und armen Viertel aneinander grenzten, wurde das größte Stadion der Welt erbaut. Das letzte Spiel der WM 1950 verfolgten 200.000 Menschen, Weltrekord bis heute.

 

In dieser Kultstätte fand das letzte Spiel zwischen Brasilien und Uruguay statt. Nach den spektakulären Darbietungen, die die Nation an den Radios verfolgt hatte, schien einzig die Höhe des Sieges diskutabel. Die 1:2-Niederlage beschrieb Schriftsteller Nelson Rodrigues als „unser Hiroshima“. In diesem schockierenden Fall aus himmlischen Höhen in die tiefe Trauer der Niederlage, diesem kollektiven Trauma erlebte sich Brasilien als geeinte Nation. Am Tag nach dem Finale wurden im ganzen Land die Zeitungen des Vortages verbrannt, die bereits vor dem letzten Spiel zum Gewinn der Weltmeisterschaft gratuliert hatten.

 

In den Zeiten der Militärdiktatur Brasiliens in den 1980er Jahren gingen vom Fußball wesentliche Impulse für die Demokratiebewegung aus. Die Corinthians São Paulo hatten zu jener Zeit in Vereinsführung und Mannschaft einige mutige und oppositionell denkende Persönlichkeiten versammelt. Der Star der Mannschaft, zugleich Kapitän der Seleção, war der ungewöhnliche Fußballer Socrates. Ein kettenrauchender studierter Kinderarzt, der rege Kontakte zur linken Intellektuellenszene unterhielt.

Autoritäre Vereinsstrukturen und die Bevormundung der Spieler wurden in der „Corinthianischen Demokratie“, der selbstgewählten Verfassung des Clubs, aufgehoben. Der Anhang galt als politisiert und feierte unabhängig vom sportlichen Auf und Ab die solidarischen Werte des Spiels. In den Zeiten politischer Repression bedruckten die Corinthians ihre Trikots mit den Slogans „Democracia Corinthiana“ oder mit Forderungen nach freien Wahlen. Socrates feierte seine Tore mit der Geste der Revolutionäre, der aufgereckten linken Faust. Schließlich ging er den Massenprotesten voran und unterstützte die Freiheitsbewegung auf der Straße. Das Abdanken der Diktatur wird bis heute mit dem Andenken an den verstorbenen Socrates und die Corinthians verbunden.

 

Dieses Erbe erklärt die Politisierung des Fußballs in Brasilien. Wenn die Umsetzung fußballerischer Großprojekte die soziale Ungleichheit des Landes verschlimmert, wird dies nicht nur als Ungerechtigkeit begriffen, sondern als Pervertierung der Idee des Fußballs als Einheitsstifter. Futebol ist der kulturelle Spiegel der brasilianischen Seele. In ihm leben alle Formen des Aberglaubens fort, die mit dem indianischen und afrikanischen Erbe der Nation zusammen hängen. Im Futebol erlebt sich Brasilien als geeintes und reiches Land und nicht zuletzt als Maß aller Dinge, denn mögen auch die Engländer den Fußball erfunden haben, so kam er doch erst in Brasilien zu seiner schönsten Form: Kunst.