Forsch schaut Hildegard Danne in die Linse der Kamera. Die Haare sind zum Bubikopf geschnitten. Sie trägt ein Kleid mit gestärktem Rüschenkragen und dazu glänzend gewichste Schnürschuhe. Mit der linken Hand umfasst sie die Lehne eines Stuhls, in der rechten hält sie einen Teddybär. Das Bild ist scharf, nur der Teddybär verwackelt. Sie zeigt ihn so entschieden vor, als wollte sie sagen: Es geht nicht anders, er muss mit aufs Bild. Auf der Rückseite schreibt ihre Mutter: "Lieber Onkel, habe Hildchen heimlich fotografieren lassen. Bekommen Ernst und Klärchen zu Weihnachten." Dies ist das erste, erhalten gebliebene Foto Hildegard Dannes, geborene Schultze, aufgenommen im Kriegswinter 1916. Damals ist sie zwei Jahre alt, ihr Leben hat gerade erst begonnen. Fast ein ganzes Jahrhundert wird es dauern. Im Herbst wäre sie hundert Jahre alt geworden.
Es ist ein Leben wie viele es geführt haben, in Deutschland, im vergangenen Jahrhundert, als Frau. Geboren wird Hilde am 6. November 1914 in Berlin, ein Freitag. Der Kriegseintritt des Deutschen Kaiserreichs liegt 98 Tage zurück. Viele Soldaten kommen nicht wieder, die Lebensmittel werden in der Stadt schon im ersten Kriegswinter knapp. Die Zeiten sind nicht gut, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Vielleicht war ihre Mutter von einem verheirateten Mann schwanger geworden. Vielleicht war sie Dienstmädchen in einem Bürgerhaushalt gewesen - und Hilde das illegitime Kind des Hausherrn? Klar ist nur: Ihre Mutter ist auf sich allein gestellt und muss wieder arbeiten gehen. So kommt Hilde in die Obhut ihrer Großmutter.
Hilde wächst bei ihr in der Karl-Kunger-Straße 64 auf. Die Wohnung in Berlin-Alt-Treptow wird sie später übernehmen und ihr ganzes Leben dort verbringen. Hier erlebt Hildegard Danne zwei Weltkriege, den Verlust eines geliebten Mannes, den Mauerbau, die Großherzigkeit einer Klassenfeindin, das Glück einer zweiten Liebe, fünf Währungswechsel, die kleinen Sorgen und Nöte ihres Stiefsohns, die Wiedervereinigung Deutschlands; von ihrem Balkon aus kann sie auf die Berliner Mauer schauen. Wie sie gebaut und wie sie abgerissen wurde.
Im Sommer 2004, zwei Jahre vor ihrem Tod, bekam sie eine neue Nachbarin, mich. Meine Freundin und ich gründeten nebenan eine Wohngemeinschaft. An ihrem Klingeschild stand "Hildegard Danne", doch im Laufe ihres Lebens trug sie drei Nachnamen: ihren Mädchen-namen Schultze und die ihrer Männer - Zimmer und Danne. Manchmal trafen wir uns auf der Treppe, und wenn wir beide Zeit hatten, setzten wir unser Gespräch in ihrer Wohnung fort. Das Zimmer, in dem ich wohnte, hatte irgendwann einmal zu ihrer Wohnung gehört. Bei jedem Besuch wies mich Frau Danne auf die ursprünglichen Besitzverhältnisse hin. Wenn sie anhub zu erzählen, trommelte sie mit den Fingerspitzen an die Wand. Sie sagte dann immer: "Früher hatte das Zimmer Fräulein Weber angemietet, und jetzt sind Sie da." Jeder konnte am Leben des anderen teilnehmen. Ihre Woche hatte ein paar Höhepunkte: Am Freitag rief ihre Freundin Alice an. Sie sprachen über ihre beiden Katzen und den Verlauf der Woche - und siezten sich. Die Wand war dünn, ich musste ihren Gesprächen folgen. Am Samstagabend schaute sie Volksmusiksendungen im Fernsehen. Wegen ihrer Schwerhörigkeit mit aufgedrehtem Ton. Und jeden Nachmittag gegen 15 Uhr konnte man sie auf der Treppe treffen, dann ging sie einkaufen oder zum Seniorentreff.
Ich folgte ihren Einladungen zum Kaffeetrinken. Für die Dauer des Gesprächs versanken wir in ihrer durchgesessenen Couch, über die sie eine Wolldecke ausgebreitet hatte und auf der immer ein bisschen Platz bleiben musste für ihren schwarzen Perserkater Benji. Mich faszinierte die Vorstellung, dass sich die politischen Verhältnisse ändern mochten, man von geliebten Menschen Abschied nehmen musste, aber der Ort, an dem man lebte, immer derselbe blieb. Eine einfache Zwei-Zimmer-Wohnung in Ostberlin; Küche, Stube - so nannte sie das kleine Wohnzimmer immer - Bad, Schlafzimmer und Balkon, vielleicht 55 Quadratmeter groß. Ihr Stolz war eine riesengroße Zimmerpflanze: eine Grünlilie auf einem Extrapodest vor dem Fenster. Als die Superillu einmal einen Wettbewerb um die schönste Zimmerpflanze Berlins ausgerufen hatte, gewann sie. Ein Redakteur und ein Fotograf kamen vorbei, es erschien ein Beitrag, darauf war sie stolz. "Wollen Sie nicht einen Ableger mitnehmen?", forderte sie mich jedes Mal auf. Immer wieder.
Sie war ein beharrlicher Mensch, nicht herzlich, aber eindringlich und energisch, eine kleine stämmige Person mit lockigen Haaren und blauen Augen. Sie war es, die im Gespräch das Thema bestimmte und die stur zum Thema zurückführte, wenn man abwich. Ich fragte sie am liebsten über ihr Leben aus, über die Umstände und die Zwänge. Ich studierte damals Geschichte. Besonders interessierte mich die neue deutsche Vergangenheit, und es war angenehm, sich ihr über die Lebenszeit von Frau Danne zu nähern. Sie wiederum sprach am liebsten über ihren Kater Benji, zeigte mir Kissen und T-Shirts, die mit seinem Konterfei bedruckt waren - und danach wieder unbenutzt in den Schrank wanderten. So waren unsere Treffen zum Kaffee immer auch ein Tauschgeschäft. Ich hörte ihren Tiergeschichten zu, sie belohnte meine Geduld mit Anekdoten aus ihrem Jahrhundert.
Im Frühjahr 2006 wurde sie gebrechlich, tat sich immer schwerer, die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung zu steigen, und zog sich zurück. Bald darauf kam sie in ein Pflegeheim. Im gleichen Sommer starb sie. Zwei Tage dauerte die Auflösung des Hausstandes. Die Hausverwaltung hatte jemanden bestellt, der einfach alles wegwarf: Möbel, Teppiche, Gardinen, Porzellan landeten in einem Container. Zuletzt entsorgte er Fotos, Briefe und Dokumente in unsere Papiertonne im Hinterhof. Als er weg war, schlich ich die Treppe hinunter und rettete Frau Dannes Nachlass. Meine verstorbene Nachbarin hatte kein eigenes Kind, keine Geschwister, ihr zweiter Mann war schon seit 21 Jahren tot. Ich bin mir sicher, sie wäre einverstanden, dass ich von ihr erzähle - sofern ich nur ausreichend oft ihre Katzen erwähnte.
Frauen solidarisieren sich mit Frauen - egal, was sie von ihnen halten.
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