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Somaliland: Beinahe ein Freiraum | ZEIT ONLINE

In Hargeisa, der Hauptstadt Somalilands

Autoren, Aktivisten, Architekten und Wissenschaftler aus der ganzen Welt reisen an. Sie werden von unzähligen Freiwilligen aus der Stadt empfangen. Die britische Botschafterin kommt aus Mogadischu und richtet auf Somali ein Grußwort an die Zuhörer. Tag für Tag füllen Hunderte Buchmessen-Besucher den Veranstaltungssaal im Guleed Hotel. Doch das Land, in dem diese Buchmesse stattfindet, existiert offiziell nicht. Es nennt sich Somaliland.

Jahrzehnte ist dort wenig Gutes passiert. Und das hat seine Spuren hinterlassen. Im Land und im Gedächtnis der Menschen. "Somaliland?", werde ich gefragt, als ich Kollegen und Freunden das Reiseziel nenne. "Somalia? Ins gefährlichste Land der Welt? Wo die Piraten sind?" "Nein, nach Somaliland", korrigiere ich.

Dabei könnte der Unterschied zu Somalia größer nicht sein: Während ein Ausländer in Mogadischu pro Tag fünfhundert Dollar für zwölf bewaffnete Wachmänner ausgeben muss, die für seine Sicherheit sorgen, kann er sich in Hargeisa fast frei durch die Stadt bewegen. Mit dem Taxi oder in kleinen Bussen. Das Ticket wird über eine Mikropayment-App im Smartphone in Dollar bezahlt. Das Restgeld gibt der Busbegleiter in somaliländischen Schillingen heraus.

Sicherheit und Infrastruktur

1991 hat sich Somaliland, das dem Gebiet der ehemaligen britischen Kolonie entspricht, für unabhängig erklärt. Es hat die Grenzen zu Somalia im Süden geschlossen, alle Waffen von der Zivilbevölkerung eingesammelt und die Verwaltung wieder aufgebaut. "Die Sicherheit kommt an erster Stelle, dann die Infrastruktur", erklärt Suleiman Dirie, Staatssekretär im Finanzministerium. Auch er ist wegen des Bürgerkrieges geflohen, hat in Frankfurt am Main als Buchhalter gearbeitet, folgte vor zwei Jahren einem Ruf der Regierung - und kehrte zurück.

Rund 250 Millionen Dollar betrug der Staatshaushalt im vergangenen Jahr. Das ist nicht viel für die geschätzten 3,5 Millionen Einwohner. Wegen des Kriegs im Jemen werde er zudem in diesem Jahr um zwanzig Prozent schrumpfen, denn der Viehhandel zwischen den Häfen Berbera und Aden sei nur noch eingeschränkt möglich, berichtet Dirie.

Mitte der 1980er Jahre begannen die Menschen im Norden, sich gegen das Regime des Diktators Siad Barres in Mogadischu zur Wehr zu setzen. Er ließ die Rebellen des Somali National Movement, die meisten von ihnen Mitglieder des Clans der Issa, kurzerhand hinrichten. Sie wurden am Stadtrand von Hargeisa einfach gegen Betonmauern gestellt, erschossen und in Massengräbern verscharrt. Die Grausamkeit kannte keine Grenzen. Regierungssoldaten holten aus Schulklassen Jungen, die bis zu ihrem Tod als Blutbanken für die verletzten Soldaten herhalten mussten.

geboren 1974 in Dachau. Sie arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin und schreibt über Migration, Menschenrechte und Ostafrika. Sie ist Gastautorin von " 10 nach 8"

Wie viele Opfer es waren, weiß bis heute niemand. Schätzungen zufolge starben bei dem Genozid 200.000 Menschen. Damit nicht genug. 1988 gab Siad Barre den Befehl, Hargeisa in Grund und Boden zu bomben. Fast nichts blieb stehen. Die Menschen starben oder flohen. Nun hat eine Untersuchungskommission begonnen, den Genozid zu untersuchen. Die Überreste der Menschen werden in Pappkartons geborgen. Wie die Zukunft des Landes aussehen wird, ist offen. Und jetzt - eine Buchmesse?

Zurück aus der Diaspora

"Ja", sagt die Organisatorin Ayaan Mahamoud. " Wir wollen eine Plattform schaffen, um die richtigen Leute zu vernetzen." Es klingt professionell, und das ist es auch. Sie und ihr Partner Jama Musse Jama, ein Wissenschaftler, der an der Universität Pisa ethnologische Mathematik unterrichtet, veranstalten die Messe bereits zum achten Mal. 2008 fand sie erstmals statt. Seitdem wird sie jedes Jahr ein wenig größer und zieht immer mehr Publikum an. "Mittlerweile ist es die größte Buchmesse in Ostafrika", sagt Ayaan Mahamoud.

Die thematischen Schwerpunkte und die Entwicklung Somalilands scheinen aufs Engste verbunden. Sie lauteten bislang etwa: Freiheit, Staatsbürgerschaft, kollektives Gedächtnis, Vorstellung und Räume. Jedes Jahr gibt es ein afrikanisches Gastland, diesmal ist es Nigeria. Niyi Osundare, ein nigerianischer Autor und Professor für Literaturwissenschaft, der in New Orleans unterrichtet, zeigt sich beeindruckt: "Sie haben die Bedeutung von Geschichte, Kultur und Literatur für die Nation verinnerlicht - und setzen es für ihr Ziel ein, endlich anerkannt zu werden."

In der Hauptstadt Hargeisa herrscht Aufbruchstimmung. An jeder Ecke entstehen neue Wohn- und Bürogebäude. In den Sommermonaten ist es schwer, ein Mietauto zu bekommen. Viele, die in der Diaspora gelebt haben, sind zurückgekehrt und müssen sich nun dem Rhythmus der Stadt anpassen. Der Tag beginnt um sieben Uhr. Einkäufe werden am Vormittag erledigt. Nach dem Mittagsgebet, wenn die Hitze am größten ist, sitzen die Menschen in den Hotelgärten und bestellen das Mittagessen. Es wird gebratenes Ziegen- oder Lammfleisch aufgetragen, zusammen mit somalischem Reis und dünnen Spaghetti, die sich leicht auf die Gabel häufen lassen. Zum Nachtisch werden Melonen serviert. Danach ruht die Stadt. Zurück bleiben die Kerne der Wassermelonen auf den Fliesen der Terrassen, bis um vier Uhr das Treiben wieder beginnt.

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