"Was interessiert mich die Scheißbörse?"
Sag mal Michy, bist du Old School oder eher Techkid?
Michy Reincke: Die moderne Welt und das Internet haben sicher Vorzüge,
aber das ist auch für viele Dinge total negativ. Ich habe sogar sehr
spät mit Handys angefangen, erst 2005. Meine Exfrau hat mir 1999 mal
eins geschenkt, das habe ich ihr gleich wieder zurückgegeben. Dafür habe
ich früh mit Computern angefangen und viele Demos digital aufgenommen.
Ich bin zwar kein Innovationspapst, aber ich habe eine große
Zärtlichkeit für Dinge. Damit kann man einfach gut herumspielen.
Dabei bleibt am Ende wenig davon übrig - jedenfalls klingt dein neues Album sehr organisch.
Reincke: Da muss ich dich enttäuschen: Das Schlagzeug ist größtenteils
programmiert. Mir geht es um die Mischung, um die Verhältnisse, auch mal
ein bisschen Wall of Sound zu haben wie in den 60ern. Nichts gegen die
jungen Kollegen, aber das soll einfach nicht klingen wie Revolverheld
oder Silbermond. Das ist mir zu statisch und produziert, das soll nur
dem Zweck dienen, dass die Radiosender es rauf und runter spielen.
Diesen Preis bin ich nicht bereit zu zahlen. Ich will den Schmetterling
ohne Käfig im Raum behalten. Das ist natürlich schwierig.
Stimmt denn das Klischee der glattgebügelten Radiomusik?
Reincke: Auf kommerziellen Erfolg ist unsere ganze Gesellschaft
ausgerichtet. Unsere ganze Kulturlandschaft würde davon profitieren,
nicht alles auf Verwertbarkeit auszurichten.
Klingt nach Kulturpessimismus.
Reincke: Ich habe mal ein sehr kritisches Pamphlet geschrieben, in dem
ich die komplett auf international getrimmte Massenware der
Radiolandschaft Anfang der 2000er beklagt habe. Zu der Zeit lief einfach
fast gar nichts Deutschsprachiges mehr bei den Sendern. Und wenn du
immer nur mit der langweiligsten 08/15-Kacke zugedudelt wirst, dann
kannst du irgendwann nichts mehr unterscheiden. Selbst das öffentliche
Radio ist formatiert. Klar macht ein Hit Spaß, aber alles ist nur noch
gedeckelt, um Werbung zu verkaufen. Diesen Preis finde ich extrem hoch.
Der US-Talker Craig Ferguson hat mal in einer Wutrede erklärt, dass die
Werbung mit ihren verzerrten Schönheitsidealen am Niedergang der
Gesellschaft schuld sei.
Reincke: Ich setze sogar noch einen drauf und sage, dass die
Marktforschung die westliche Zivilisation zugrunde richten wird. Man
geht tatsächlich davon aus, dass man durch Befragung den Leuten
vermeintlich demokratisch etwas aufdrücken kann. Frag mal eine siebte
Klasse, ob die lieber Mathe machen oder Killerspiele zocken will. Da
wird der Großteil für die zweite Option sein, und nach dem Prinzip wird
dann alles ins Lächerliche und in den Verbrauch gezogen. Uns wird
suggeriert und von den Medien eingehämmert, dass unser Leben komplett
von der Wirtschaft abhängt. Und dann kommt am Ende noch der Börsenticker
- was interessiert mich die Scheißbörse?
Und wie willst du an dem System rütteln?
Reincke: Es geht mir einfach um eine kulturelle Erweiterung. Dass auch
mal fordernde oder unbequeme Dinge auf den öffentlichen Stationen
gesendet werden - und nicht rausfliegen, nur weil Tante Trutsche anruft
und sich beschwert. Wenn Merkel von einer marktkonformen Demokratie
spricht, ist das für mich keine Demokratie. Man muss ja kein Prophet
sein, um zu sehen, dass dieses System nur funktioniert, weil alle
willenlos konsumieren. Darunter leidet doch die Lebensqualität, es geht
doch so alles vor die Hunde! Großartige Künstler wie Pascal Finkenauer
gehen dabei unter, weil sie einfach missachtet werden. Solcher Musik
muss auch ein Forum gegeben werden. Müssen wir erst rebellieren, muss
ich erst zum Aktivisten werden?
30.01.2014
Original