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Feature

Vogelfrei

Fliegender Unrat, Bazillenschleuder, Ratten der Lüfte – nur wenige Tiere haben einen so schlechten Ruf wie Stadttauben. Doch ist Taubenhass überhaupt noch zeitgemäß?


Freudig wedelt der alte Mann mit einer weißen Tüte. „Kommt her, kommt nur“, ruft er den laut gurrenden Tauben zu. Er wirft kleine Brotstücke nach ihnen, am Karlsplatz scheint die Sonne. „Ja fein macht ihr das“ – völlig fuchsteufelswild picken die Vögel auf die Krümel ein, behacken sich dabei gegenseitig, scheinen aber glücklich. Aus dem Nichts taucht eine Horde junger Studenten auf. „Haut ab, ihr Drecksviecher!“ Sie treten nach den Tieren, einer rotzt, die Tauben fliehen. Eine Frau mischt sich ein: „Taube füddern iss verbode!“ Sie hebt ihren Zeigefinger. Der alte Mann schüttelt mit dem Kopf, nimmt sein letztes Stück Brot aus der Tüte, schmeißt es in Richtung der Frau und zieht anschließend von dannen. 


Weltweit spielen sich täglich solche Szenen ab. Stadttauben werden beleidigt, gequält, schikaniert. Dabei war die Beziehung zwischen Mensch und Taube über Jahrtausende eine gute: Schon im Jahr 3000 vor Christus wurden sie als Boten eingesetzt, in Ägypten verwendet man noch heute ihren Kot als Düngemittel, ihr Fleisch gilt als Delikatesse, an beiden Weltkriegen waren sie beteiligt. Aber diese Beziehung hat in den letzten Jahrzehnten eine Schieflage erhalten: Nach dem Zweiten Weltkrieg machten Tauben es sich in den Ruinenstädten gemütlich, als Wohlstandsvogel in den 1950er Jahren vermehrte sich ihr Bestand rasant. Sie wurden zur Plage, verdreckten die gerade wieder aufgebauten Fassaden. Erster Hass trat auf – und hält bis heute an. Eine Million Tiere soll es in London geben, in Berlin dagegen „nur“ 300 000. Ein hessisches Gericht hat vor vier Jahren erklärt, dass Tauben als „Schädlinge“ gelten, wenn sie in großen Schwärmen auftreten und gab damit einem Falkner das Recht, die Vögel gezielt zu töten. Woher aber kommt dieser Hass?

Es ist ein verdammt heißer Nachmittag, den wir für unser Treffen ausgesucht haben. Ich warte in einem kleinen Hinterhof mitten in der Altstadt. Möglichst ungestört sollte es sein, so die Vereinbarung. Carola* ist zu spät. Als sie endlich ankommt und sich auf der Bank niederlässt, ist sie völlig außer Atem. „Ich habe unterwegs noch ein Stück Dönerfleisch gefunden“, behauptet sie, ich merke gleich, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Carola ist eine durchaus attraktive Taube: Ihr Federkleid ist in einem einheitlich hellem Grauton gehalten, an den Flügelspitzen sind, gleichmäßig verteilt, kleine schwarze Muster angebracht. Am Hals schimmert ein leicht glänzend grün-violetter Schleier. Da machen die paar Gramm, die sie möglicherweise zu viel auf den Rippen hat, rein gar nichts. Vier Jahre beträgt ihr Alter, in etwa – „wir nehmen es da nicht so genau“ – für Stadttaubenverhältnisse steht sie also kurz vor dem Renteneintritt.

Carolas Geschichte ist keine übermäßig aufregende: Ihr Leben verbrachte sie bisher ausschließlich in der Heidelberger Altstadt, weiter als Handschuhsheim habe sie es noch nie geschafft. Zehn Junge konnte sie bislang zur Welt bringen, allerdings haben nur fünf von ihnen die ersten Monate überstanden. „Die Jungensterblichkeitsrate bei uns Tauben ist leider sehr hoch“, meint Carola, „die Verantwortung dafür tragen wir oftmals selbst.“ Denn die Geschehnisse der letzten 70 Jahre sind auch an den Tauben nicht spurlos vorbeigegangen: Durch Überpopulation und dem ständig geringer werdenden Platz in den Städten hat sich auch das Verhalten der Tiere verändert. Stress ist bei ihnen angesagt, und so sind die Tauben aggressiver geworden, gerade untereinander. Carola hat von schlimmen Szenen aus Mannheim gehört: In manchen Dachböden reihe sich dort ein Nest an das andere, und wenn ein Taubenjunges einmal ein falsches anfliege, wird es von seinen Artgenossen gnadenlos totgepickt. Hier in Heidelberg, gibt sie zu, läuft das alles etwas gesitteter ab: „Klar, auch wir streiten uns ab und an, aber man muss nicht gleich aus jeder Mücke einen Elefanten machen.“

Bernd Köster, Leiter des Heidelberger Ordnungsamtes, kann ihr da nur beipflichten: „In Heidelberg haben wir kein Taubenproblem.“ Bei einer Erhebung vor 15 Jahren zählte man gerade einmal 4000 verwilderte Stadttauben – „das ist verhältnismäßig wenig“. „Den Tauben geht es bei uns also gut“, freut sich der oberste Ordnungshüter der Stadt. Das war aber nicht immer so. In den 90er Jahren herrschte in Heidelberg ein regelrechter „Taubenkrieg“. Die Stadt versuchte die steigende Population mit Blausäure zu verringern, zudem wurden mit Zyankali begaste Brotkrümel verfüttert. Taubenkadaver in der Altstadt waren kein seltener Anblick. Tierschützer protestierten. Auch wenn eine Klage erfolglos blieb, stellte die Stadt die Maßnahmen Ende der 90er Jahre ein und überließ den Taubenbestand seinem eigenen Schicksal. Doch an der Wahrnehmung gegenüber Tauben hat sich wenig geändert. „Bazillenschleuder“, „Bauwerkzerstörer“, „Ratten der Lüfte“ – die gängigen Ressentiments halten sich eisern.

Ganz unschuldig sind die Tauben daran nicht. Beispiel Taubenkot: Zwar wird er heute noch als Düngemittel genutzt, in vielen Städten tragen ihn Menschen aber als unbewusstes modisches Accessoire auf Kopf und Kleidern. Carola versucht eine Erklärung: „Wir können nur sehr eingeschränkt unseren Schließmuskel kontrollieren. Dann flutscht manchmal etwas heraus, ohne, dass ich es mitbekomme. Natürlich ist das unter aller Sau, aber ich fühle mich dabei ja selbst hundeelend“, beteuert die Taube und just in diesem Moment klatscht wieder eine leicht bräunliche Substanz auf die Bank. Carola errötet leicht. Gut zwölf Kilogramm Kot produziert eine Taube pro Jahr und verschmutzt somit Gebäude und Plätze. Eine ätzende Wirkung des Taubenkots ist freilich nicht nachgewiesen, er bietet dennoch gerade Bakterien und Pilzen einen ertragreichen Nährboden. Darüber hinaus werden im Kot auch Krankheitserreger ausgeschieden, die dem Menschen gefährlich werden können. 110 Bakterien wurden bis heute bei Straßentauben entdeckt, sieben können zu Erkrankungsfällen beim Menschen führen. Bernd Köster relativiert diesen Mythos: „Untersuchungen haben ergeben, dass der Kot von beispielsweise Hühnern viel gefährlicher ist.“ Von Tauben-Exkrementen gehen nur „minimalste Schäden“ aus, für die Gesundheit des Menschen wie auch für Gebäude.

Anruf bei Bertram Erhard. „Ich bin Schädlingsbekämpfer und kein Killer“, beteuert er gleich zu Beginn unseres Telefonats. Mit seiner Erhard Hygienesysteme GmbH hat er sich unter anderem auf die sogenannte Taubenabwehr in Heidelberg und Umgebung spezialisiert. Je nachdem wie stark der „Befallsdruck“ ist, richte er „Taubenspitzen“, „Netze“ und „Edelstahlspikes“ ein. Manchmal arbeite er auch mit „Strom“; wie bei einem Weidezaun erhalten die Tauben bei Berührung einen Schlag. Alle diese „Taubenvergrämungsmaßnahmen“ laufen im Sinne des Tierschutzes ab, betont er nachdrücklich. Darüber kann Carola allerdings nur müde lächeln: Spikes und Spitzen erkenne man schon von Weitem und sowieso gebe es zwischen ihnen noch „genügend“ Platz – „so einfach lassen wir uns keinen Bären aufbinden.“ Sie zum Beispiel niste im Dachstuhl eines Wohnhauses in der Fischergasse, dieser sei windgeschützt, trocken und abgesehen von ein paar Freunden „vogelfrei“. Genaueres will sie aber lieber nicht verraten. Stattdessen wirft sie den Schädlingsbekämpfern vor, die Spitzen an Fenstern nicht ordnungsgemäß anzubringen, so entstünden Verletzungen, die nicht selten mit dem Tod für ihre Artgenossen endeten. Erhard gibt zu, dass es eben einer professionelleren Anbringung bedarf, sonst sei die Verletzungsgefahr genauso groß wie wenn Tauben „in einen Baum“ flögen.

Der Taubenabwehr positiv gegenüber steht auch Annegret Oelenheinz. Sie leitet das Heidelberger Tierheim und engagiert sich im örtlichen Tierschutzverein. Oelenheinz zeigt mir die Voliere und das Taubenhaus ihres Heimes. „Wir kümmern uns hier um gefundene, flugunfähige und verletzte Stadttauben“, dazu kommen regelmäßig Brieftauben, die oft nur wegen geringfügiger Verletzungen von Taubenzüchtern verstoßen werden. „Das ist nicht in Ordnung“, empört sich die Tierschützerin. Im Vogelkäfig gurren sechs Tauben vor sich hin, der Gestank hält sich in Grenzen, mitten im grauen Einerlei sticht ein Tier durch sein weißes Federkleid besonders hervor, eine Hochzeitstaube. „Wir päppeln alle auf und lassen sie anschließend wieder frei“, erklärt Oelenheinz, doch die meisten kämen wieder zurück. „Das sind schon schlaue Tiere“, sagt sie anerkennend. Auch wenn es in Heidelberg nur einen geringen Bestand gebe, fehle ein „Taubenturm“, wie in anderen Städten. In diesem könne man die Population stärker kontrollieren, indem man beispielsweise die Eier aus den Nestern entferne. Zu einem flammenden Taubenbekenntnis möchte sich Oelenheinz allerdings nicht hinreißen lassen: „Ich bin da zwiegespalten“, gibt sie zu. Sie habe aber ebenfalls festgestellt, dass „die Einstellung zur Taube als solche eine bescheidene“ sei. Zusätzlich zu einem Taubenturm fordert sie ausgewiesene Futterstellen und eine stärkere Beachtung des Taubenfütterungsverbots. Ein solches gibt es in Heidelberg schon lange. 35 Euro müsse man zahlen, erklärt Bernd Köster, gleichwohl eigentlich belasse er es meist bei einer Verwarnung. Vor drei Jahren griff man zu drastischeren Maßnahmen: Eine 70-jährige Frau wurde mehrfach ertappt, wie sie auf dem Bismarckplatz pfundweise Haferflocken an Tauben ausstreute. Gerade für viele alte Menschen sind die Tauben oft der letzte Bezugspunkt. Das Ordnungsamt schritt ein und erteilte der Frau ein Bußgeld in Höhe von 100 Euro. Dieses lehnte sie allerdings ab und ging stattdessen für drei Tage in Erzwingungshaft. Bernd Köster rechtfertigt das Verbot: „Wenn man das Futterangebot erhöht, dann vermehren sie sich natürlich und dann haben wir ein Problem.“ Denn eines stehe fest: Ohne die aktive Fütterung durch den Menschen könnten nur kleine Populationen überleben.

Die Taube Carola widerspricht dem beharrlich: „Der hat doch eine Meise, nur weil wir ein paar Brotkrümel mehr finden, vermehren wir uns doch nicht gleich wie die Karnickel!“ Das Taubenfütterungsverbot in Heidelberg sei gar nicht so sehr das Problem, gibt sie zu, Nahrung finde man schon genug. Erst jetzt, zum Ende unseres Gesprächs, wird klar, warum sie eigentlich zu spät kam. In den meisten Städten haben Tauben keine natürlichen Feinde. In Heidelberg ist das anders. „Dort oben liegt der Hase im Pfeffer“, Carola blickt gen Himmel. Denn seit 1999 nistet in der Heiliggeistkirche ein Wanderfalkenpaar. Jetta und Perkeo heißt das aktuelle, und zusammen herrschen sie über den Heidelberger Luftraum. Ihre diesjährigen Jungen (Sulpiz, Melchior und Hilde, benannt nach Größen der Heidelberger Stadtgeschichte) verlangen noch so viel Aufmerksamkeit, dass sie für ein Gespräch nicht zur Verfügung stehen. Stattdessen gibt Hans-Martin Gäng, Naturschutzwart der Arbeitsgemeinschaft Wanderfalken, Auskunft: Zwar können die Wanderfalken niemals die Stadttaubenpopulation kontrollieren, immerhin „vergrämen“ sie sie aber. Tauche eine in der Luft auf, sei das ihre bevorzugte Beute. Im Schnitt verspeisen die Wanderfalken vier Tauben am Tag oder verfüttern sie an ihre Jungen. So trauen sich die Tauben nicht mehr oberhalb der Dachgrenze zu fliegen, Carola und Co. bleibt oft nur der beschwerliche Weg durch die engen Gassen der Altstadt.

Ist es einer der beiden Wanderfalken, den sie erspäht hat? Plötzlich verlässt Carola fluchtartig den Hinterhof, noch nicht einmal ein „Auf Wiedersehen“ ist uns vergönnt. So sitze ich allein und verlassen auf der Bank, Carolas Kotreste neben mir. Als wahrhaftige „Schädlinge“ will die Stadttaube keiner sehen, ihnen vehement zur Seite springen aber auch nicht. Zumindest in Heidelberg ist die Zeit der großen Taubentötungsaktionen vorbei, hier hat die Natur selbstregulierend eingegriffen. So würde eben doch eine verweichlichte und entspanntere Beziehung zur Taube unserem Zeitgeist entsprechen. Denn wer will schon mit Kanonen auf Spatzen schießen?

* Name von der Redaktion geändert

http://www.ruprecht.de/?p=8964

Veröffentlicht am 13. Juli 2015