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Licht und Pumpen aus!

Die Industrie verbraucht fast ein Drittel der gesamten Energie in Deutschland. Oft werden Wärme und Strom in Fabriken unnötig verschwendet. Wissenschaftler der TU Darmstadt wollen das ändern - mit einer „Modellfabrik der Zukunft“. (natur 9/2016)

Das Loch in der Leitung ist nicht größer als ein Nagelkopf. Aber wenn Druckluft durch die Öffnung entweicht, pfeift es so laut in der Produktionshalle der ETA-Fabrik, als hätte jemand einen Teekessel auf der Herdplatte stehen lassen. Ein Monitor neben der Leitung zeigt, was das winzige Leck ein Unternehmen kosten würde: rund 800 Euro pro Jahr.
„Wir wollen mit diesem Demonstrationsobjekt ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sich durch Effizienz in Fabriken viel Energie und Geld sparen lässt“, sagt Martin Beck vom Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen. Der 32-Jährige leitet als Projektmanager das Forschungsteam der ETA-Fabrik, die im März 2016 auf dem Campus der TU Darmstadt eröffnet wurde. In der „Modellfabrik der Zukunft“ erforschen Maschinenbauer, Architekten, Bauingenieure und Elektrotechniker, wie sich Energieverluste in der Industrie reduzieren lassen. Denn das Loch in der Leitung ist nur ein Beispiel unter vielen, an dem in Fabriken Energie verloren geht. Das Einsparpotential ist enorm: Die ETA-Fabrik soll rund 40 Prozent weniger Energie verbrauchen als eine heute noch übliche Standard-Produktionshalle.
„Energieeffizienz im Haushalt ist ein großes Thema, die Einsparmöglichkeiten der Industrie werden dagegen in der Öffentlichkeit kaum diskutiert“, kritisiert Beck. Dabei benötigt die Industrie fast ein Drittel der gesamten Endenergie in Deutschland - also der Energie, die nach Umwandlungs- und Übertragungsverlusten beim Endnutzer ankommt. Rund zwei Drittel dieser Energie fallen als Wärme an, als sogenannte Prozesswärme: Bei vielen Industrieprozessen – etwa der Dampf- und Heißwassererzeugung oder dem Betrieb von Brennöfen und Trocknungsanlagen – entsteht Wärme, die oft ungenutzt durch den Schornstein entweicht. Zudem verbraucht die Industrie fast die Hälfte des Stroms in Deutschland, allein 80 Prozent davon für elektrische Antriebe. Besonders groß ist das Stromeinsparpotential bei Druckluft, Pumpen und Ventilatoren.
Dabei sollte mehr Energieeffizienz neben dem Ausbau der Erneuerbaren Energien eigentlich eine zentrale Säule bei der Energiewende sein. Bislang aber bleibt Deutschland weit hinter den selbstgesteckten Effizienzzielen zurück. In ihrem Energiekonzept von 2010 versprach die Bundesregierung, den Primärenergieverbrauch – also dem Endenergieverbrauch plus dem Energieaufwand zur Erzeugung desselben - deutlich zu senken. Bis 2020 um 20 Prozent und bis 2050 sogar um 50 Prozent gegenüber dem Referenzjahr 2008. Laut der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen wurden bis 2015 jedoch nur gut sieben Prozent der Primärenergie eingespart. Unterschiedliche Szenarien gehen davon aus, dass bis 2020 eine Reduktion von maximal 10,2 möglich ist, falls die Energiesparmaßnahmen nicht deutlich verstärkt werden. Gerade einmal die Hälfte des gesteckten Ziels.
Soll sich diese prognostizierte schlechte Bilanz verbessern, kommt der Industrie die Schlüsselrolle zu: Zusammen mit dem Sektor Gewerbe, Handel und Dienstleistungen könne sie einen Beitrag von bis zu einem Drittel liefern, um die verbleibende Lücke bei den Primärenergieeinsparungen bis 2020 zu füllen, heißt es in einem Papier der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu Energieeffizienzpotentialen in Industrie und Gewerbe. Zwar haben viele Unternehmen in den vergangenen Jahren ihre Investitionen in diesem Bereich verstärkt, doch das genügt bei weitem noch nicht.
„Viele Betriebe haben andere Prioritäten“, moniert Alexander Sauer, Leiter des Instituts für Energieeffizienz in der Produktion an der Universität Stuttgart. Gerade bei kleineren und mittleren Betrieben fehle es oft an Personal, Zeit und Know-how, um mögliche Sparmaßnahmen zu identifizieren und umzusetzen, weiß der 39-Jährige: „Typisches Beispiel: Ein Schmiedebetrieb, der Metalle erhitzt und durch Nutzung der Abwärme viel Energie sparen könnte. Das Management kümmert sich aber nicht um das Thema“, sagt der Effizienzforscher. „Dauernd kommen neue Anfragen, also fokussiert man sich auf den operativen Betrieb.“ Oft investieren Unternehmen vorrangig ins Kerngeschäft, zum Beispiel Produktionsanlagen und den Vertrieb der erzeugten Produkte, und stellen hohe Anforderungen an die Amortisationszeit, also die Zeitspanne, innerhalb der sich eine Investition auszahlt. Energieeffizienzmaßnahmen sollen sich schon nach zwei bis vier Jahren rentieren. „Rechnet sich die Investition in dieser Zeit nicht, lassen sie es bleiben.“
Und so geht in vielen Fabriken weiter ungenutzt Energie verloren: durch schlecht gedämmte Öfen oder Maschinen, zu lange Leitungswege, überdimensionierte Antriebe, Leckagen oder ungenau eingestellte Motoren mit schlechtem Wirkungsgrad. Oder durch Überproduktion, etwa wenn Druckluft mit fünf Bar durch die Leitungen fließt, obwohl drei Bar genügen würden. „Oft machen sich Mitarbeiter keine Gedanken, weil die Druckluftsteuerung in einem Seitenraum oder separaten Gebäude untergebracht ist. Viele alte Kompressoren sind zudem nicht drehzahlgeregelt“, sagt Alexander Sauer. Nur fünf Prozent der Energie, die zur Erzeugung von Druckluft verbraucht wird, landen tatsächlich in derselbigen. Der Rest verpufft vor allem als Abwärme.
Manchmal scheitert das Energiesparen auch an scheinbar banalen Dingen: „Viele Maschinen haben keinen Ausschalter, sie laufen sieben Tage pro Woche und 24 Stunden am Tag durch“, bemängelt Sauer, der früher selbst Personalverantwortlicher in der Industrie war. „Zwar gibt es einen Notausknopf, aber mit ihm kann man eine Maschine nicht wie einen Föhn einfach ausknipsen.“ Die Maschinen seine oft auf bestimmte Zustände eingestellt. „Stellen sie die aus, muss sie unter Umständen aufwändig wieder hochgefahren und neu eingestellt werden: Das spart man sich oft.“
Dabei reiche es manchmal schon, die Steuerungssoftware etwas umzuprogrammieren, weiß der Energieeffizienz-Experte. Auch durch Verhaltensänderungen lässt sich viel Energie sparen: etwa indem man Rolltore im Winter nicht offen stehen lässt und die Hallenbeleuchtung ausschaltet, wenn es tagsüber hell genug ist. „Aber gehen Sie mal in einen Betrieb und fragen, wo der Lichtschalter sitzt: Kaum jemand weiß es!“
Viele Maschinen fressen zudem mehr Energie, als sie für einen bestimmten Produktionsschritt benötigen. Ein Beispiel: Die Autoindustrie verwendet Pumpen, um Bauteile zu spülen. Diese Pumpen sind meist darauf ausgelegt, so viel Flüssigkeit zu pumpen, wie für das größte Bauteil gebraucht wird. Wird ein kleineres Teil gespült, pumpt die Pumpe zu viel Flüssigkeit und verbraucht mehr Energie als nötig. Auch in anderen Branchen sind Pumpen häufig überdimensioniert, weiß Wirtschaftsingenieur Martin Beck: „Wenn drei Pumpengrößen zur Auswahl stehen, entscheiden sich Betriebe oft für das größte Modell. Das reicht immer, da müssen sie sich keine Gedanken machen und die Leistung von einem Ingenieur exakt auslegen lassen.“
Vielfach mangele es zudem an Wissen um Einsparpotentiale: „Viele Unternehmen kennen zwar ihren Gesamtenergieverbrauch, wissen aber nicht, wo sie was verbrauchen“, sagt Beck. Die Energiemenge wird meist zentral am Hauptstromzähler erfasst. Die Konsequenzen seien ähnlich wie in einem Studentenwohnheim, wo ein Bewohner den ganzen Tag zum Fenster rausheizt: Es fällt keinem auf, da die Energiekosten auf alle umgelegt werden. „Im Prinzip bräuchte man über jeder Maschine kleine Wölkchen, die anzeigen, wie viel Energie gerade verpufft.“
Beck und sein Team wollen die verborgenen Energiesparpotentiale aufdecken. „Licht ins Dunkel bringen“, nennen die Forscher das und haben sich dazu ein hübsches Gimmick ausgedacht: Sobald sie sich heißen Kaffee einschütten, erstrahlt auf ihren schwarzen Tassen die Fassade der ETA-Fabrik.
In der Realität ist die Suche nach Energielecks dann doch komplexer. In der Produktionshalle der Fabrik arbeiten Forscher in einer Prozessstraße aus einem Ofen, zwei Reinigungs- und zwei Werkzeugmaschinen. Die Maschinen stellen Teile von Hydraulikpumpen her: Ein für die metallverarbeitende Industrie typischer Prozess aus Drehen, Bohren, Schleifen, Zerspanen, Reinigen und Montieren. Solche Produktionsschritte fallen auch bei der Fertigung von Elektronikbauteilen oder Autos an und lassen sich auf viele weitere Branchen übertragen. Die Wissenschaftler analysieren die einzelnen Schritte, decken Energiesparpotentiale auf und optimieren den Prozess. Die energieeffiziente Fertigung soll Unternehmen als Vorbild dienen.
Beim Gang durch die Halle ist es ungewöhnlich still. „Man hört fast nichts und das ist gut so“, sagt Martin Beck. Nur selten entweicht einer der Maschinen ein Zischen oder Pfeifen – dann müssen die Ingenieure nochmal ran. Ein Blick auf die Werkzeugmaschine zeigt, wie in der ETA-Fabrik Energie eingespart wird: Auf einem Fließband gleiten runde Metallscheiben heran, die die Maschine greift, bohrt, schleift und reinigt. „Damit die Reibung beim Bohren nicht zu groß wird und sich das Bauteil überhitzt, sprüht die Maschine Schmierstoff auf den Bohrer“, erklärt der ETA-Projektleiter. Bei vielen Maschinen läuft die Pumpe, die den Schmierstoff pumpt, einfach durch, dabei müsste sie das eigentlich nur die Hälfte der Zeit. Nicht so in der ETA-Fabrik: Hier schaltet sich die Pumpe automatisch ab, während das nächste Bauteil anrückt. So werden Leerlaufverluste vermieden.
„Bei manchen Industrieprozessen, wie etwa einer derartigen Reinigung, lassen sich bis zu 70 Prozent Energie sparen“, weiß Beck. Zwei- bis dreimal pro Woche führt er Gruppen durch die Produktionshalle und erklärt ihnen das Konzept. Die Wissenschaftler der ETA-Fabrik schauen sich Betriebe auch vor Ort an und fahnden nach Einsparmöglichkeiten. „Im Grunde muss man nur mit offenen Augen und Ohren durch die Fabriken laufen: Man hört ein Zischen und Pfeifen, sieht Dampf, fühlt zu heiße Oberflächen und weiß: Hier geht Energie verloren.“
Doch nicht nur Öfen, Pumpen und Rohre interessieren die Forscher: Sie werfen den Blick aufs große Ganze. Statt wie bisher üblich Maschine, Gebäude und Technische Infrastruktur isoliert zu betrachten, sind die Systeme in der ETA-Fabrik „intelligent“ vernetzt. Zähler und Sensoren messen rund um die Uhr an mehr als 1000 Datenpunkten: Temperatur, Helligkeit, Volumenströme, Drücke, Strom- und Wärmeverbräuche. Die Daten fließen in einen Speicher und sind am PC oder Smartphone abrufbar: „Wir sehen plötzlich Konstellationen, die wir vorher nicht erkannt haben“, sagt Martin Beck. Dass Maschine A gerade Abluft produziert, die Maschine B gebrauchen könnte. Oder Förderband C durchläuft, obwohl es gerade gar keine Bauteile transportiert. Die Daten helfen, Strom und Wärme zu sparen und warnen, wenn Pumpen oder Motoren zu versagen drohen. Sie können dann rechtzeitig ausgetauscht werden.
Knapp 40 Forschungs- und Industriepartner sind an der ETA-Fabrik beteiligt. Neben Einsparpotentialen erhoffen sie sich neue Erkenntnisse für die „Industrie 4.0“ – die intelligente Vernetzung von Maschinen, Anlagen und Produkten. Wurden Fabriken bislang zentral gesteuert, sollen Maschinen und Werkstücke in Zukunft selbst die Produktion organisieren. Die Vision: Das Orchester folgt nicht mehr dem Taktstock des Dirigenten, sondern stimmt sich untereinander ab. Für Martin Beck ist das Datennetzwerk eine nützliche Hilfe, um Energieverbräuche transparent zu machen. „Aber allein durch Sensoren spare ich noch keine Energie: Es braucht immer Menschen als Planer und Bewerter der Daten, die ins System gehen, schauen, wo Energieverluste auftreten und den Prozess optimieren.“
Doch genau genommen beginnt das Energiesparen schon viel früher: bei der Gebäudeplanung. „Wir haben die ETA-Fabrik von innen nach außen geplant: Erst wurden die Anforderungen an die Maschinen definiert, darauf aufbauend entstand das Gebäude und die Fassade. Durch die ganzheitliche Betrachtung ließen sich neue Energiesparpotentiale aufdecken“, sagt Professor Jens Schneider vom Institut für Statik und Konstruktion der TU Darmstadt.
So wird zum Beispiel die Abwärme der Öfen und Werkzeugmaschinen verwendet, um Reinigungsbäder vorzuheizen und die Halle im Winter zu klimatisieren. Das Dach und die Wandelemente der Längsseiten aus Beton sind innen wie außen mit wasserführenden Kapillarmatten durchzogen und lassen sich thermisch aktivieren: Im Winter heizen, im Sommer kühlen sie das Gebäude. Das zahlt sich gleich doppelt aus: „Viele Fabrikhallen müssen im Winter mit einer Heizung beheizt und im Sommer mit Klima- und Lüftungsgeräten aufwändig heruntergekühlt werden“, weiß Martin Beck. In der ETA-Fabrik speichern die großen Betonflächen Wärme beziehungsweise Kälte und geben sie zeitverzögert an den Innenraum ab. Zusätzlich klappen im Sommer Oberlichter und Seitenfenster auf und kühlen die Halle über Nacht, damit sie sich tagsüber nicht zu sehr aufheizt. Teure, energiefressende Klimaanlagen oder Heizkörper? „Brauchen wir nicht“, sagt Martin Beck schmunzelnd. Und Löcher in Leitungen, durch die Luft pfeift, schon gar nicht – außer zum Vorführen.