Norstedt | Schwarzer Tee mit viel Zucker und Zitronensaft ist für Haidar ein Stück syrische Heimat mitten in der nordfriesischen Einsamkeit. Haidar ist 17 Jahre alt, ein schmächtiger Junge, der durch seine Flucht in Windeseile zu einem Erwachsenen werden musste. Vor gut einem halben Jahr haben ihn seine Eltern heraus aus dem syrischen Bombenhagel nach Deutschland geschickt. Allein, nur mit einer Tüte in der Hand hat er sich auf die Flucht begeben, ist mit viel zu vollen Schlauchbooten über das Mittelmeer gefahren, hat stundenlange Fußmärsche über Grenzen gemacht, in Bussen und Zügen gesessen, ohne einen einzigen Menschen zu kennen. Über die Balkanroute und Österreich ist er nach Deutschland und schließlich nach Schleswig-Holstein gekommen.
Nun steht Haidar in der Küche eines geräumigen Wohnhauses in Norstedt, einer 388-Seelen-Gemeinde im Kreis Nordfriesland, und schält Kartoffeln. Neben ihm schneidet sein Landsmann Mohammed (18) rote Paprika in Würfel, die beiden scherzen. Auf dem Speiseplan der Wohngruppe steht heute Kartoffel-Paprika-Hack-Auflauf, und als Ausgleich für die deutsche Kartoffel mischen die beiden noch eine wohlgemeinte Portion fein gehackten Knoblauchs unter die Masse. „Und viel Salz", sagt Haidar. So kennen es die Jungen aus dem Kochtopf ihrer Mutter. Jetzt kochen sie allein, und vergessen durch die Ablenkung vielleicht mal ganz kurz ihre Angst, die sie um Mutter, Vater, Geschwister und Großeltern in Syrien haben.
Doch spätestens, als sie gemeinsam mit ihren vier Mitbewohnern am Esstisch sitzen und das Dröhnen eines Flugzeugs ins Wohnzimmer schallt, ist nicht zu übersehen, welche Ängste dieses Geräusch erweckt, welches Trauma die Kriegserlebnisse in Syrien bei den jungen Menschen hinterlassen haben. „Gestern Abend gab es Bomben auf meine Stadt", erzählt Haidar, auf bemerkenswert gutem Deutsch. Geschlafen hat er deshalb in der letzten Nacht kaum, hat mit dem Smartphone in der Hand ausgeharrt, auf eine Überlebens-Nachricht seiner Familie gewartet. Am Morgen kam sie endlich.
„Über Gefühle spricht man in der Kultur der Jungs nicht viel", sagt Tina Grell. „Aber man muss nicht immer sprechen, oft reicht es, einfach da zu sein. Es gibt Tage, da sitzen wir da und keiner mag was sagen. Jeder geht anders damit um. Der eine zieht sich zurück, der andere stürzt sich ins Putzen. Jugendlich sein, das findet hier nebenbei statt. Es gibt viel wichtigere Dinge." Tina Grell ist Heilerzieherin und betreut die Wohngruppe in Norstedt, in der sechs syrische Jungen im Alter von 16 bis 18 Jahren leben. Sie sind als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Schleswig-Holstein gekommen. In der Wohngruppe der „Alte Schule Sollwitt/KJSH Stiftung" soll ihnen der Übergang zum selbstständigen Leben in Deutschland geebnet werden. Vier Betreuer und ein Dolmetscher kümmern sich im Schichtbetrieb um die Jungen, zwischen 6.30 und 22 Uhr ist immer jemand da. „Im Notfall auch über Nacht, es gibt immer eine Rufbereitschaft", sagt Tina Grell.
Was geht in Eltern vor, die ihrem Kind mutterseelenallein eine Flucht zumuten? „Die Furcht davor, dass das Kind im Krieg in der Heimat stirbt, ist größer, als es quer durch die Welt zu schicken", sagt die Pädagogin. „Alle haben Geld mitbekommen." Doch das kann keine Herzen und Seelen reparieren. „Ich vermisse meine Stadt und meine Familie. Hier fühle ich mich fremd und kenne mich nicht aus", sagt Mohammed. Die frische Luft, das Meer, nette Menschen und die Sicherheit - all das schätzt er in seinem neuen Zuhause. „Deutschland ist schön, aber nicht allein."
Das Wohnhaus in Norstedt ist hell und geräumig. Jeder hat hier ein eigenes Zimmer, es gibt mehrere Bäder und ein großes Wohnzimmer, in dem die Jungen nachmittags gemeinsam Deutsch büffeln. Sie sind ehrgeizig. Neulich, berichtet Tina Grell, hatten sie mal die Idee, im Haus nur noch Deutsch zu sprechen. Doch das klappt noch nicht ganz.
Mohammed und seine Mitbewohner räumen den Tisch ab und den Geschirrspüler ein. Es gibt Essens-, Putz- und Mülldienste. Das klappt wie am Schnürchen. Dann kommt die silberne Teekanne auf den Tisch und kleine Teegläser werden gefüllt. In Husum gibt es einen türkischen Laden, den die Syrer gern ansteuern, wenn sie gemeinsam mit ihrer Betreuerin den Lebensmitteleinkauf erledigen. Malvenblätter („das syrische Spinat"), Fladenbrot und eingelegte Pepperoni werden dann eingepackt, auch das typische Teegeschirr konnten sie dort ergattern.
Zur Schule gehen die Jungen in Flensburg. Wenn sie nachmittags zurück nach Norstedt kommen, ist das Freizeitangebot begrenzt. Der nächstgrößere Ort Viöl, wo es einen Supermarkt und Sportverein gibt, ist sechs Kilometer entfernt. Dorthin fährt auch die einzige Buslinie, die in Norstedt hält. Hier spielen einige Jungs im Fußballverein, zweimal die Woche wird trainiert, an den Wochenenden finden Spiele statt. Einige gehen ins Fitnessstudio. „Wir brauchen mehr Kontakt zu Deutschen, um die Sprache zu lernen", sagt Haidar. „Ich fühle mich hier fremd, kenne mich nicht aus. Seit vier Monaten wohne ich jetzt hier und kenne unsere Nachbarn nicht - nur deren Katze." Die Jungs haben sie „Lulu" getauft. Lulu sitzt vor der Terrassentür, lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen und schaut neugierig, was ihre neuen Freunde machen.
Die jungen Männer tragen eine große Last mit sich herum. Von ihren Familien komme oft enormer Druck, erzählt Tina Grell. Sie würden erwarten, dass die Jungs den Familiennachzug in die Wege leiten. Das ist aber erst möglich, wenn das Asylverfahren durch ist - und das kann derzeit Jahre dauern. „Dass sich das so hinzieht, macht den Jungs schlechte Laune. Ihnen läuft die Zeit davon." Denn sobald sie 18 Jahre alt sind, wird es schwieriger. „Die Schlepper versprechen den Familien vieles, was schlicht falsch ist. Es ist schwierig, den Jungen dann das Gegenteil zu erzählen, wenn man gerade Vertrauen aufgebaut hat."
Kurz nach 15 Uhr dudelt ein Handy. Mohammed steht auf, seine Gebets-App erinnert ihn an seine religiöse Pflicht. Vier mal am Tag kniet er sich auf den nach Mekka ausgerichteten Teppich in seinem Zimmer. Genau so, wie es seine Eltern und seine Geschwister in Aleppo auch gerade machen. Anfangs sei es für die Jungs schwer auszuhalten, dass sie hier ein gutes Leben haben, während es ihren Familien in Syrien dreckig geht, sagt die Betreuerin. Doch alle haben Ziele: „Schulabschluss, Arbeit, Haus, Familie." Krankenpfleger, Automechaniker oder Friseur lauten die Berufswünsche. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Vermutlich müssen sie ihn noch ein ganzes Stück allein gehen.
von Merle Bornemann erstellt am 06.Mär.2016 | 09:41 Uhr