Was machen Tino Sehgal, Ai Weiwei, Pavel Althammer, Vadim Zakharov und andere Künstler 2013 in der Lagunenstadt?
:: Rückblick auf die 55. Biennale in Venedig ::
Das Gelände der Biennale in den Giardini ist gut besucht, abends hat man etwas mehr Ruhe.
Der Herbst ist die perfekte Jahreszeit, um zur Kunst-Biennale, der Urmutter aller Biennalen, nach Venedig
zu reisen. Ein paar Wochen vor Toresschluss – die Schau läuft bis zum
24. November –, sind die meisten semiprofessionellen Kunstjünger schon
wieder abgezogen, die Lagunenstadt wirkt zum Teil sogar angenehm leer.
Man ist nicht durch Scharen von Menschen abgelenkt, genügt doch die
Überfülle an Kunst vollkommen zur temporären Reizüberflutung.
Che bella, e Venezia!
/ Kultourfreude erkundet die Biennale #55
Die 55. Biennale hat nichts von ihrer Faszination der
Ausstellungsidee eingebüßt: Wie ein Schatzsucher streift der Besucher in
den Giardini von Pavillon zu Pavillon unter Zypressen hindurch – mit
der Möglichkeit, mal nach Luft zu schnappen. Eine Mischung aus Planung
und Sich-Treiben-Lassen hilft dabei, Kunst noch genießen zu können, ohne
sich selbst heillos zu überfordern bei der schieren Menge der
Ausstellungen, die sich über ganz Venedig verteilen. Einige Kunst-Stücke
wollen gesucht werden. Hat man sie gefunden, gilt es, vielfach auch
Teil der Kunst-Aktion zu werden.
So ummauert der dänische Videokünstler Jesper Just
den schlichten Landespavillon in den Giardini mannshoch mit weißen
Ytong-Steinen. Körperlicher Einsatz ist gefragt: Wer den dänischen
Beitrag sehen will, ist prompt involviert und muss zunächst den Eingang
hinter den weißen Steinblöcken suchen; auf dem Weg begegnen sich leicht
irritierte Biennale-Fans und kommunizieren kurz miteinander.
Ist das
Ziel aufgespürt, gibt es einen schwarz-weiß Film zu sehen, das Innere
des Pavillons ist spärlich beleuchtet, man findet Wandeinbrüche, Schutt,
Zwischenwände mit Ytong-Steinen vor – kurz: Baustellenatmosphäre. Im
Video läuft ein Mann läuft quer durchs Brachland auf Wohnblöcke zu, die
irgendwie nach Frankreich, nach Belle Époque aussehen.
Doch hier bröckelt der Putz ab, einige Schaufenster sind zu Bruch
gegangen, es ist menschenleer. Es hat was Morbides, genau wie Venedig
selbst. Dabei sind die Häuser keine zehn Jahre alt. Es ist die Vorstadt
von Hangzhou in China, eine Replik von Paris. Das Projekt „Intercourses“
zeigt ein Land in einem anderen, der Pavillon wird zum körperlichen
Stellvertreter. Eine Verlagerung der Kulturen durch architektonische
Nachahmung und den Aufbau eindringlicher, facettenreicher Umgebung. Die
Stadt ist die Protagonistin, die sich ausdehnt und doch Menschen
verbindet.
"Danaë" by Vadim Zakharov
Im russischen Pavillon regnet es Goldmünzen für die Frauen: Auch hier partizipieren die Betrachter aktiv an der Ausstellung „Danaë“
- allerdings nur die weiblichen. Sie sammeln und verteilen anschließend
die extra für die Biennale angefertigten Goldmünzen in einen dafür
vorgesehenen Eimer, die dann wiederum auf die anderen Zuschauerinnen
herabregnen. Diese sind geschützt durch einen durchsichtigen
Regenschirm. Männer dürfen von einer Galerie aus den Goldregen
verfolgen, aber nicht an der Aktion selbst teilnehmen. Keusch ist hier
keiner, die Aktion spielt auf die Sage um die kinderlose Danaë an: Die
wird von ihrem Vater, König Akrisios von Argos, in ein Verlies gesperrt.
Ein Orakel hatte ihm verkündet, er würde durch seinen Enkel zu Tode
kommen. Aber Göttervater Zeus begehrt sie und findet durch das Dach des
Gefängnisses Zugang in Goldregen-Gestalt zu ihr. Somit überwindet die
korrumpierende Macht des Goldes alle Hindernisse, auch die der
Keuschheit.
Seine Welt sind Mythen: Partizipation und Aktionismus nehmen im Werk des in Moskau und Berlin lebenden Künstlers Vadim Zakharov von Beginn an einen zentralen Platz ein. Der Neureichtum der Russen dürfte dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielen.
Die Deutschen haben diesmal getauscht:
Mit dem Gegenüber. Mit dem französischen Pavillon auf Vorschlag der
Außenministerien beider Länder. Als Besonderheit, um die internationale
Vielseitigkeit des eigenen Landes zu präsentieren, sich als
Multi-Kulti-Land zu positionieren. Dies soll nun die kritische
Beschäftigung mit der Bedeutung der traditionellen Form nationaler
Repräsentation in den Länderpavillons fortsetzen. Kuratorin Susanne
Gaensheimer vom MMK Frankfurt hat sich schon vor zwei Jahren
hervorgetan, als sie den Goldenen Löwen für den besten Pavillon mit
einer posthumen Ehrung der Kunst Christoph Schlingensiefs gewann.
"Bang" von Ai Weiwei im Deutschen Pavillon
2013 nun wird Deutschland von den vier internationalen Künstlern Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng, Dayanita Singh
vertreten. So soll das „Verständnis Deutschlands als aktiver Teil eines
komplexen, weltweiten Netzwerks, geprägt von vielen Einflüssen und
Abhängigkeiten, und nicht als hermetische nationale Einheit zum
Ausdruck“ gebracht werden. Weltoffenheit um jeden Preis – doch leidet
die Verknüpfung, denn die vier Akteure stehen jeder für sich und bauen
keine Beziehung untereinander auf. Um Dokumentarstoff geht es beim in
Wiesbaden geborenen Filmemachers Romuald Karmakar. Seit Jahrzehnten hat
er sich auf Mechanismen von Gewalt und Massenphänomen insbesondere aus
der Täterperspektive konzentriert, dabei hauptsächlich auf die deutsche
Geschichte fokussiert. Dayanita Singh lässt ein Video laufen, das sich
mit indischen Traditionen beschäftigt, während der Südafrikaner Santo
Mofokeng Foto-Essays zum Thema Apartheid mit entweihten Landschaften
zeigt.
Ai Weiwei bezieht sich auch auf sein Land und präsentiert
übergroß Gesellschaftsgeschichte, mit 886 dreibeinigen Hockern, die er
aus allen Teilen Chinas geholt hat. Früher gab es in jedem Haushalt
solch ein Sitz- oder Arbeitsmöbel: Heute eine Antiquität, sind die
Hocker ergänzt, repariert mit einem oder zwei neuen Beinen. Sie türmen
sich über dem Kunstbetrachter, sind wie schwebend aneinander gereiht und
geben dem Raum so eine netzähnliche Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit
beinahe. Der Besucher läuft unter den Stühlen hindurch wie durch ein
Labyrinth, ab und zu muss er den Kopf einziehen, um nicht an die
Installation zu geraten, die aber nicht im Mindesten erschüttert wird.
Auch Kinderwagen, eingehakte Paare und Gruppen verträgt dieser erste
Raum im französischen Pavillon, der in diesem Jahr den Deutschen gehört.
Die französische Darstellung im deutschen Kunsttempel lautet „Ravel,
Ravel, Unravel“. Hier platziert der albanische Künstler Anri Sala
übergroße Videoleinwände, auf denen zwei Pianisten ein Ravel-Stück für
die linke Hand einspielen. Nicht ganz so tiefschürfend, dafür hübsch
anzuhören.
Der israelische Pavillon von Gilad Ratman
wird lautstark als „The Workshop“ mit Videoinstallationen bespielt;
schräg hallt es durch den zweigeschossigen Raum. Aufgenommen ist eine
Performance, bei der zahlreiche Akteure ihre Konterfeis in Ton formen
und dazu skurrile Laute von sich geben, untermalt mit DJ-Musik. Das
Ganze mischt sich zu einer verstörenden Kulisse mit Weglauf-Potential.
So gesehen hat es durch den Aspekt der Verunsicherung einen starken
Länderbezug mit politischer Brisanz.
Gilad Ratman: „The Workshop“. Foto: © MUC /Kultourfreude
Einen drolligen Zeichentrickfilm mit tierischen Hauptdarstellern
im Disney-Look der 1940er Jahre zu Big-Band-Musik mit Gesangseinlage à
la Frank Sinatra oder Dean Martin - „Gotta feelin’ you foolin’ with me“ -
zeigt dagegen der Österreicher Matthias Poledna. Wie
eine Besucherin spontan bemerkte: „Endlich mal was für die Kinder!“ Auf
großer Fläche ein paar Minuten mit einem tanzenden Eselchen in
Matrosenklamotten. Das wars auch schon. Ganz amüsant für zwischendurch
und entspannend für die Sinne. Und nicht mehr.
Polen hat große Geschütze aufgefahren und lässt Konrad Smoleński
mit Lautstärke spielen: „Everything was forever, until it was no more“
heißt die Installation, in der zwei Glocken das menschliche Gehör ganze
fünfzehn Minuten lang auf Durchhaltevermögen prüfen. Die Zuschauer sind
zuvor instruiert, dass es laut werden kann, wenn man sich im Glockenturm
aufhält, und so halten auch die wenigsten das viertelstündige Gedröhne
aus. Smoleński engagiert sich nach der visuellen Kunst nun als
Soundkünstler und erprobt Energie-Fluss und -Effekte.
Goldener Löwe-Gewinner Tino Sehgal
mag keine Abbildungen seiner Kunst, also gibt’s auch keine langen
Katalogisate oder ähnliches. Der Performance-Künstler bezieht gerne
Mensch und Publikum in seine vergänglichen Aktionen ein, so erlebt der
Zuschauer ein Schauspiel, an das er sich erinnern muss. Der Grund für
die Preisvergabe war die „Klasse und Innovation, mit der seine Arbeit
zur Öffnung der künstlerischen Gattungen beigetragen hat.“
Auf dem Arsenale fügen sich filigrane wie monumentale Arbeiten bestens ein in die historischen Werfthallen.
Lateinamerika hat sich zusammengetan im „El Atlas del Imperio“ mit duftenden Gewürzen und Farbpigmenten (Sonia Falcone für Bolivien), zusammengetragenen Fundstücken und Treibgut (Simón Vega für El Salvador) und Blumenparfum aus dem Präsidentengarten (Martín Sastre
für Uruguay), während gleich nebenan Lettland zeigt, wie kalt es im
eigenen Land ist und Landsleute in Arbeitskluft in den Schnee stellt.
Über den Porträtierten schwingt langsam ein entlaubter Baum hin und her
(„North by Northeast“ von Kaspars Podnieks und Krišs Salmanis).
Auch
die Bahamas, die das erste Mal mit von der Partie sind, haben sich in
die Kälte gewagt: Der in New York lebende Konzeptkünstler Tavares Strachan
war für seine Schau „Polar Eclipse“ genau dort, am Nordpol. Mitgebracht
hat er Fotos von sich im weißen Schneeanzug, Fotos vom Ewigen Eis, zwei
Eisblöcke, die auf bis zu minus 60 Grad gehalten werden – einer davon
echt, einer geklont. Der Mensch als Entdecker, der kein Fleckchen Erde
unberührt lässt und diese damit immer weiter zerstört. Auch die
Präsentation verbraucht viel Energie und setzt die Zerstörung damit
fort.
Tavares Strachan: “Polar Eclipse”
Die Giardini mit allen Länderpavillons lässt der politisch arbeitende Künstler Alfredo Jaar absaufen:
Mit „Venezia, Venezia“ tunkt der aus Chile stammende, in New York
lebende Jaar den Weltausstellungspark in grünliches Kanalwasser und
kritisiert damit den Alleinvertretungsanspruch. Jaar moniert, dass immer
noch zu wenig Länder auf der Biennale vertreten sind. Er möchte die
Betrachter erhellen, sieht sich als Weltverbesserer. Doch die Biennale
ist hartnäckig, sie lässt sich nicht einfach so versenken.
„Venezia, Venezia“ von Alfredo Jaar
Erfrischend für zwischendurch wieder ein Musikstück: „S.S. Hangover“ des isländischen Performancekünstlers Ragnar Kjartansson.
Auf einem Boot spielen Berufs-Musiker, während das Boot ständig von
einem Dock zum anderen fährt. Vier Stunden lang, jeden Tag bis zum Ende
der Kunstschau.
"The Venetians" von Pavel Althammer
Der Pole Pavel Althammer hat mit seiner
Skulptureninstallation „The Venetians“ 90 authentische Venezianer
abgebildet, von denen sich die wenigsten selbst entdeckt haben dürften.
Stark erinnern diese sehnigen Plastikfiguren an die Plastinate von
Gunther von Hagens, die er als „Körperwelten“ ausgestellt hat: Sie alle
stellen Posen nach. Zumal die Augen der grauen Figuren geschlossen sind.
Die zentrale Ausstellung „Il Palazzo Enciclopedico“ rückt die
Zeitgenossen etwas in den Hintergrund: Der jüngste Kurator aller Zeiten,
Massimiliano Gioni, Jahrgang 1973, zeigt mehr tote als
lebende Künstler. Er greift mit „Il Palazzo Enciclopedico“ das in der
Garage entstandene Modell des Landsmanns und Hobbyarchitekten Marino
Auriti auf, der in den 1950ern seine Utopie zum Patent anmeldete: Ein
700 Meter hoher Bau, der alles Wissen der Welt beherbergen sollte. Das
gewaltige Modell dazu steht nun zumindest im Entree des Arsenale. Und
doch hat Gioni etwas ausgesucht, was vor ihm keiner in dieser Form zu
zeigen gewagt hätte: Er gibt den sogenannten Outsidern ein großes Forum,
stellt die Außenseiter-Kunst in den Mittelpunkt. Im
Giardini-Zentralpavillon und in der Hallenflucht im Arsenale steckt der
Kunstkritiker bekannte und unbekannte Künstler zusammen. Gioni lässt
sich nicht hinreißen, nur „angesagte“ Künstler zu zeigen, sondern lenkt
den Blick auf Wesentliches. Auch Outsider-Künstler – nicht jeder von
ihnen ist unbedingt psychisch krank – arbeiten mit Präzision und Sinn
für Details, sind dabei erfrischend unangepasst, radikal und doch
konsequent. Und mit Leidenschaft für Materialsammlungen ausgestattet.
Das entspannt die Aufregung um hochgehandelte Künstler enorm. So wird
Kunst nicht in erster Linie für einen hart umkämpften Platz auf dem
Markt produziert, sondern um essenzielle Dinge zum Ausdruck zu bringen.
In
Ton gefasste Figuren mit spitzen kleinen Zähnen, stachelige
Meeresmonster, Kultgegenstände mit unzähligen Verzierungen: Diese
eindringlichen Arbeiten stammen von Shinichi Sawada.
Der Japaner leidet unter Autismus, und in der psychatrischen Klinik
begann er, eine Vielzahl dieser Tonfiguren zu fertigen. Auch der 1989
verstorbene Brasilianer Arthur Bispo do Rosário erhält
in Gionis Schau einen angemessenen Platz für sein komplexes Universum
aus Stoffen, Piratenschiffen und Karussells, das er in einer
psychiatrischen Klinik schuf.
Eine Sonderstellung nimmt der Amerikaner Robert Crumb
ein: Als Ikone des Anti-Establishments schuf er psychedelische Poster
und Underground-Comics. Vier Jahre, bis 2009, hat der jetzt in
Frankreich lebende Künstler an seiner Version der Bibel (1. Buch Mose)
gearbeitet. Diese Genesis gilt für Juden als erstes Buch ihrer Heiligen
Schrift und ist für Christen das erste Buch des Alten Testaments. Neben
den Zeichnungen, wurden auch die Bildtexte aus mehreren Bibelfassungen
nach dem Verständnis Crumbs adaptiert. Im Übrigen war Crumbs Dad, ein
Ex-Marine, schwer gewalttätig und seine Mutter häufig in psychiatrischer
Behandlung. Das mag zweifelsohne großen Einfluss ausgeübt haben.
In Gionis enzyklopädischer Wunderkammer steht der Mensch im Mittelpunkt
– und der soll den Blick erweitern, er darf staunen und herumstöbern.
Um zu entdecken. Die schier unendliche Vielfalt der Kunst und sich
selbst.
Fotos: © MUC /Kultourfreude
Original