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Warum am Portal der Marktkirche dutzende Zettel angenagelt sind

Wer zurzeit in die Marktkirche auf dem Schlossplatz am Landtag will, kommt kaum daran vorbei, eine beachtliche Menge an laminierten Zetteln zu bemerken, die mit Nägeln an das Hauptportal der Kirche angeschlagen sind. Die bunten Zettel sind mit Nägeln kreuz und quer über das gesamte Hauptportal verstreut angebracht - die Nägel bohren sich tief in die Tür, die laut Aussage von Pfarrer Martin Fromme vermutlich noch von 1868 stammt.

Viele der Zettel tragen Botschaften wie „Wir sind und bleiben bunt!" oder „Kein Mensch ist illegal". Handelt es sich hierbei um eine politische Protestaktion, für die sich jemand ausgerechnet die Kirchentür ausgesucht hat?

Ein Tribut an Luther

Nein, ein Protest ist es nicht. Die Zettel gehören vielmehr zu einer Aktion der evangelischen Kirchengemeinde unter dem Motto „Darauf stehe ich". Der Anlass: Das Reformationsjubiläum im derzeit laufenden Lutherjahr. Denn vor 500 Jahren nagelte der Theologe Martin Luther, weltberühmte Leitfigur der Reformation, der Legende nach 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg.

„Die Gemeinden waren aufgefordert, Thesen zu formulieren" - Martin Fromme

Diese Geschichte nimmt sich die evangelische Kirche zum Vorbild. Am 25. Juni feierte das Dekanat das Reformationsjubiläum. „Die Kirchengemeinden des Dekanates waren aufgefordert worden, Thesen zu formulieren, aus denen hervorgeht, was für sie und die Menschen, die in den Gemeinden leben und arbeiten, Fundament und Basis ihres Lebens ist", sagt Pfarrer Martin Fromme vom Pfarramt der Wiesbadener Marktkirchengemeinde.

Kritische Thesen

Die Thesen sind dabei alles andere als nur eine fromme Geste oder Huldigung an Luther und das Reformationsjahr. Stattdessen nahmen viele Gemeinden die Gelegenheit wahr, wie Luther seinerzeit, auch durchaus kritische und kontroverse Thesen zu formulieren. Diese reichen von religiösen bis zu handfesten politischen Themen.

„Wir fordern die Kirchen auf, alle Formen von Diskriminierung anzuprangern" - Hoffnungsgemeinde Biebrich

So schreibt die Kirchengemeinde Biebrich: „Wir fordern die Kirchen auf, mutig alle Formen von Menschenverachtung und Diskriminierung anzuprangern und sich zum Anwalt für alle Menschen zu machen." „Wer die Nächstenliebe vergisst, sollte sich nicht auf eine christliche Kultur berufen" mahnt eine andere These unbekannter Herkunft kritisch an. Die Gemeinde Sonnenberg gibt zu bedenken: „Für den Diskurs mit anderen Religionen muss die eigene Position bewusst sein...". Und der Club 60+ der Gemeinde Dotzheim geht in seiner These kritisch mit dem Thema Kirchensteuer ins Gericht:

Die Thesen, so Pfarrer Fromme, wurden in den Gemeinden intensiv diskutiert und gemeinschaftlich beschlossen. Das Dekanat habe dabei aber nicht eingegriffen oder Einfluss darauf genommen, was hinterher angeschlagen werden durfte - das sei reine Entscheidung der Gemeinden gewesen. Eine weitere Diskussion der Thesen oder eine Reaktion von höherer Stelle sei seines Wissens aber nicht geplant. Im Vordergrund habe eindeutig der Festtag am 25. Juni gestanden, die Aktion sei damit abgeschlossen.

Und die Nägel in der Tür?

Was mit den Zetteln weiter geschieht, ist noch nicht klar. Aufbewahrt oder ausgestellt werden sie vermutlich nicht, sagt Andrea Wagenknecht von der Öffentlichkeitsarbeit des Dekanats. Man darf davon ausgehen, dass sie demnächst verschwinden werden - möglicherweise werden sie am 14. Juli abgenommen, dann nämlich soll auch das große Luther-Bildnis aus der Marktkirche ausziehen.

Bleibt die Frage, was mit der Tür werden soll? Längst nicht alle Nägel wurden sauber und gerade eingeschlagen, nach ihrer Entfernung dürften tiefe, deutlich sichtbare Löcher und Macken im Holz zurück bleiben.

„Die Kirchenportale sind eh dringend sanierungsbedürftig" - Martin Fromme

„Die Kirchenportale sind eh dringend Sanierungsbedürftig", sagt Pfarrer Fromme. „Meines Wissens wurde da seit Ewigkeiten nichts dran gemacht." Umfängliche Sanierungen sind für den nächsten Haushalt bereits beschlossen und stehen in Kürze an. Deshalb habe man sich überhaupt dafür entschieden, die Nägel ganz authentisch, „Luther-like" wie es der Pfarrer ausdrückt, direkt in die Kirchentür zu hauen.

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