Unser Autor war zum ersten Mal seit Beginn der Coronakrise wieder in seiner Lieblingsbar.
Von Maximilian Senff
Es gibt Dinge, die dürfen sich für mich auf keinen Fall ändern: der PIN meiner Bankkarte, an den ich mich sonst erstmal ein halbes Jahr lang nicht mehr erinnere. Die Einrichtung im Elternhaus, die auch in 20 Jahren noch genauso aussehen soll wie zu Schulzeiten. Und der Platz an der Bar in der Stammkneipe, an dem ich schon mehr Zeit verbracht habe als es im Nachhinein klug gewesen wäre.
Stammkneipe. Der Begriff steht für Heimat und romantischen Sehnsuchtsort zugleich. Für einen Platz, der dann am besten ist, wenn er einfach so ist wie immer. Als in meiner Stammkneipe "Colors" vor Jahren eine neue Zapfanlage eingebaut wurde, die die Flüssigkeit im Hahn kühlt, schmeckte das Bier für einen Neukunden wohl deutlich besser - für mich schmeckte es bloß anders. Ein Puzzlestück meiner Stammkneipe hatte sich verändert. Uff.
Seit Mitte Mai dürfen Kneipen nach Monaten des Wartens unter Auflagen wieder öffnen. Die Pandemie bedroht weiterhin die Existenz vieler Lokale, sie machten seit Mitte März null Umsätze bei fortlaufenden Fixkosten. Wegen der Schließungen fehlten der Branche laut Deutschem Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) bis Ende April bereits mehr als zehn Milliarden Euro Umsatz. Die Arbeitsbedingungen in der Gastro-Branche haben sich geändert, das Personal muss Mundschatz tragen, alles ständig desinfizieren und Kontakt untereinander weitestgehend vermeiden. Auch für Gäste wird es wohl noch wochen- oder monatelang nicht möglich sein, beim Besuch zur "alten Normalität" zurückzukehren. Das Virus hat meine PIN nicht umgeschrieben und auch nicht dazu geführt, dass meine Eltern ihr Haus umbauen - aber das Virus hat meine Stammbar verändert. Und zwar massiver, als nur das Bier besser zu kühlen.
Ortsbesuch im Passauer "Colors"
Auf dem Tresen meiner Stammkneipe "Colors" in Passau steht Desinfektionsmittel für die Besucher. Die Eingangstür soll man - laut Schild - bitte mit dem Fuß öffnen und Besitzer Sebastian "Kelli" Kellner, 42, notiert die Kontaktdaten aller Gäste.
"Ich habe zwei Monate nichts verdient", erzählt er mir, "je nach Wetter, wenn ich draußen öffnen kann, könnte ich auch jetzt im besten Fall ein Drittel der normalen Einnahmen aus dem Biergarten erwirtschaften." Und die gingen dann für Fixkosten, Personal und Hygieneausstattung drauf - wenn das Geld dafür überhaupt reiche. 5.000 Euro Strafe kostet ein Verstoß gegen die Corona-Gastro-Regeln in Bayern. "Das wäre ein Todesstoß", sagt Kelli.
Normalerweise sitze ich bei Kelli am Ende des Tresens. Dort, wo die Kellnerinnen und Kellner mit den Getränken auf ihrem Tablett vorbeimüssen, um sie hinten an den Billardtisch zu bringen. Seit über zehn Jahren komme ich in die Kneipe, während meines Studiums war ich manchmal fünf von sieben Wochentagen hier. Ich kenne viele Gäste und Angestellte, der Laden fühlt sich an wie mein Wohnzimmer. Doch auf meinem Platz, an dem man auch die Snackkarte auf einer Tafel an der Wand gut lesen kann, sitzt jetzt keiner - der ganze Thekenbereich ist mit gelbem Band abgesperrt, als würde dort gebaut werden. Der Grund: Im Barbetrieb dürfte der Laden noch gar nicht wieder öffnen - deswegen ist der Tresen gesperrt, Kicker und BIllardtisch sind beseite geräumt, keine DJs stehen an den Decks und es wird deutlich mehr Essen serviert als sonst. Dass die Kneipe neben der Schank- auch eine Speisegenehmigung hat, macht den Betrieb möglich.
Ich wähle also unfreiwillig einen Sofaplatz in der hintersten Ecke des Lokals. Allein. Ich bin zwar mit Freunden hier, doch es dürfen sich nur zwei Haushalte gleichzeitig am selben Tisch aufhalten. Unsere Gruppe besteht aus einem Pärchen (Haushalt eins), einer Freundin (Haushalt zwei) und mir (Haushalt drei). Ich bin als Letzter gekommen. Pech.
Die Tische stehen weit auseinander. Das Gespräch wird dadurch bald so laut, dass der ganze Raum es mithören kann. Die Gruppe auf der anderen Seite - auch Bekannte - schaltet sich mit ein. Schade, dass wir nicht richtig quatschen können, lange nicht gesehen. Ich drehe mich jetzt trotzdem mal wieder um. Es ist ein anderes, irgendwie besseres Gefühl, sich hier zu treffen, als seine Freundinnen und Freunde per Zoommeeting zu sehen und allein zu Hause mit der Webcam seines Laptops anzustoßen. Trotz aller Einschränkungen und Nachteile bin ich gerne hier, auch um die Bar zu unterstützen.
Kelli erzählt mir, dass seine zwei letzten Mietzahlungen für die Bar vom Verpächter gestundet worden seien, das erleichtere die Situation gerade, bringe ihm aber auch nicht wirklich etwas - maßgeblich sei, wie viele Kosten der Staat in den kommenden Wochen tragen werde. Beim Blick in die Zukunft sei eine Lösung, die kleine Gastrobetriebe vor dem existenziellen Aus bewahrt, aber noch nicht in Sicht.
Zwischendurch gehen wir draußen rauchen - das gleiche Bild: nur zwei Menschen dürfen gemeinsam unter einem Regenschirm im Biergarten am Aschenbecher stehen. Wir hier, die anderen da drüben. Es geht immer im Kreis, jede Tür ist eine Einbahnstraße. Hier nur rein, da nur raus.
"Ich habe auch schon zwei Leute rausgeschmissen", sagt Kelli mir hinter der Bar stehend, als ich ihn beim Reingehen frage, wie er mit den neuen Regelungen zurechtkommt, "die wollten sich nicht an die Masken- und Abstandsregeln halten und Tische verrücken." Dabei ist es doch gar nicht so schwer: Maske auf dem Weg zum Tisch tragen, erst im Sitzen darf man sie abnehmen. Sonst könnte man ja auch nichts trinken, das wäre schlecht. Ich bin mittlerweile beim dritten Bier und mache mir Gedanken darüber, wie es mit der Einhaltung der Kontaktregeln wohl aussähe, wenn alle einen kleinen Rausch hätten? Nicht so einen, bei dem man jemand nach Hause tragen muss, sondern einfach einen, bei dem man die anderen gerne mal in den Arm nimmt und überschwänglich drückt.
Der Gedanke verfliegt schnell, als die Bar dann bereits um 22 Uhr - nach meinem vierten Bier, mehr war zeitlich nicht drin - schließt. Vor Corona öffnete sie erst um 19 Uhr, die letzten Gäste wurden am Wochenende um 3 Uhr morgens freundlich raus gebeten. Jetzt geht das Kneipenleben bereits um 17 Uhr los - und endet fünf Stunden früher als üblich. Vor Beginn der Pandemie musste man sich um Mitternacht oft durch die Menschenmassen in der Kneipe drücken, als würde irgendwo im letzten Winkel gerade Geld verschenkt werden. Aktuell ein undenkbares Szenario. Ich schwelge in Erinnerungen: Es war schön, damals vor Corona. Eine Zeit, die sich nach wenigen Monaten schon jahrelang her anfühlt.
In der Bar wird so beruhigend unaufgeregt mit den Vorschriften umgegangen, dass ich mich in keiner Sekunde unwohl fühle - sondern die ganze Zeit geschützt. Und das ist, egal wie stark sich alles verändert hat, dann doch irgendwie wie früher. Meine Stammbar als Safe Space in der globalen Krise. Hier fühle ich mich zu Hause - und finde mich auch mit der neuen Realität ab.
"Das Colors ist nicht mehr das Colors, das es mal war", sagt Kelli mir dann aber beim Gehen. Er meint nicht die Angestellten - und auch nicht die Gäste. Er redet vom Ambiente. Im Colors fühlte sich jeder immer aufgehoben. Wer bisher alleine in die Kneipe kam, blieb in der aktuellen Lage nämlich noch zu Hause. "Ich will an den Vorschriften nicht rütteln", sagt er, "aber dass viele, die alleine leben, jetzt einsam sind, ist eine schwierige Situation. Als Barbetreiber höre ich mir gerne alles an, was die Gäste beschäftigt. Wer alleine kommt, setzt sich oft zu anderen Einzelpersonen und kommt ins Gespräch, all das ist gerade nicht möglich. Das tut weh."
Ich hoffe, dass unser aller Lieblingskneipen die Krise überstehen. Und unser größtes Problem dann irgendwann wieder nur die Temperatur der gezapften Getränke sein wird.