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Russlanddeutsche: Ein heterogener Teil Deutschlands

Mehr als 1,6 Millionen Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion kamen in den 1990er-Jahren nach Deutschland. Viele fanden in Lahr eine neue Heimat. Heute leben in der 45 000 Einwohner zählenden Stadt rund 10 000 Russlanddeutsche. Nachdem sie bereits am 24. Januar in Lahr, Offenburg und Achern demonstrierten (wir berichteten), wollen überwiegend Russlanddeutsche am Sonntag in Offenburg erneut gegen eine angebliche Gewalt, die von Flüchtlingen ausgeht, demonstrieren. 


Besonders in den Jahren 1995 und 1996 zogen viele Russlanddeutsche in die Ortenau, fast 9000 davon nach Lahr. Die Ängste der einheimischen Bevölkerung waren groß. Und sie gingen in eine ähnliche Richtung wie heute. "Damals hatten die Leute zum Beispiel Angst vor der Russenmafia", sagt Thorsten Mietzner. Der Historiker des Lahrer Stadtarchivs weiß um die Sorgen und Vorbehalte von damals. "Es hieß etwa: Sie plündern uns die Sozialkassen. Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg." Auf einer "ab-strakten Ebene" sei somit so manche Ähnlichkeit festzustellen.


Bei der Demo von etwa 300 Russlanddeutschen am 24. Januar in Lahr hatte Oberbürgermeister Wolfgang G. Müller an diese Ängste von einst erinnert. Inmitten des Protestpulks sagte er: "Jetzt möchte ich Ihnen etwas sagen, und Sie mögen das provokant empfinden: Ich, als Oberbürgermeister der Stadt Lahr, bin x-mal kritisch gefragt worden: ›Warum muss denn das kleine Lahr 9000 Spätaussiedler aufnehmen?‹" Die Reaktion der Demonstranten kam prompt: Sie schrieen etwa "Wir sind Deutsche!" und "Das ist eine Katastrophe!". Einer der Protestler versuchte sogar, Müller das Megafon abzunehmen.


Zwischen den russlanddeutschen Migranten damals und den Flüchtlingen heute bestehen auch einige Unterschiede, erklärt Mietzner. Die Rolle der Religion beispielsweise sei eine andere, außerdem hätten die Spätaussiedler ein Familienbild, das dem deutschen sehr ähnlich ist. Das Wichtigste aber sei, dass die Russlanddeutschen aus ihrer Sicht "heimkehrten". Immerhin gab es in ihren russischen Pässen einen Vermerk auf ihre deutsche Herkunft. So wie im Übrigen auch bei Menschen anderer Nationalität in der Sowjetunion.


Russenfeindliche Haltung 

 Historisch betrachtet, hat es Mietzner zufolge in Deutschland schon immer eine eher russenfeindliche Haltung gegeben: "Die herrscht etwa seit dem 19. Jahrhundert, hat sich seit der Oktoberrevolution mit dem Zweiten Weltkrieg verstärkt und wurde während der Präsidentschaft von Michael Gorbatschow (März 1990 bis Dezember 1991) abgeschwächt. Ganz erledigt hat sie sich aber nie." Stark politisch organisiert waren die Spätaussiedler in den 1990er-Jahren nicht. "Das konnten sie auch gar nicht", sagt der Stadthistoriker, "sie haben einfach gemacht". Und plötzlich habe es eben russlanddeutsche Konzerte und Supermärkte gegeben. Bis zu der Demonstration am 24. Januar sei das Thema Russlanddeutsche in Lahr auch kein großes mehr gewesen.


Bei der Integration und Partizipation der Spätaussiedler lasse sich indes eine Tendenz für die kommenden Jahre erkennen. Derzeit gebe es zwar keinen Russlanddeutschen im Gemeinderat, dafür aber zahlreiche im Jugendgemeinderat. Wer die Russlanddeutschen waren und sein werden, die demonstrieren, ist nach Ansicht Mietzners nicht klar: "Das Problem ist: Für wen stehen die 300 Demonstranten?" Es fehlten grundlegende Informationen über das russlanddeutsche Milieu. Klar sei nur, es gibt verschiedene Strömungen: Spätaussiedler, die fast ausschließlich Russisch sprechen und kaum Deutsch können. Und jene, die akzentfrei Deutsch sprechen und dem Russischen nicht oder kaum mehr mächtig sind. "Es ist schwer, von ›den‹ Spätaussiedlern zu reden. Und man sollte das auch nicht tun."


Der Auslöser der Demonstration am 24. Januar war die Nachricht über eine angebliche, 30 Stunden dauernde Vergewaltigung einer 13-Jährigen durch eine Gruppe südländisch aussehender Männer in Berlin. Aufgegriffen wurde der Vorfall auch in einem Beitrag des russischen Fernsehens. Viele Teilnehmer der Demonstrationen schenkten dem Glauben. Auch das Dementi der Polizei wurde angezweifelt. Inzwischen wurde bekannt, dass die 13-Jährige sich bloß wegen schulischer Probleme vor den Eltern versteckt hatte - bei einem 19-jährigen Bekannten. Die Vergewaltigungsgeschichte war frei erfunden.


Misstrauen gegenüber Medien 

Den deutschen Medien misstrauen viele Russlanddeutsche. "Das kann mit der Sozialisation und dem Bildungsangebot der Spätaussiedler zusammenhängen", sagt Mietzner. Er könne sich vorstellen, dass in totalitären Regimen aufgewachsene Menschen es gewohnt sind, einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu bekommen. In einer liberaleren Gesellschaft wie der deutschen verhalte es sich aber so, dass es ›die eine Wahrheit‹ oft nicht gibt. Seine Vermutung: Das Fehlen klarer Wahrheiten verunsichert sie. Und durch den Ukraine-Konflikt sei das Misstrauen noch verstärkt worden. "Der Gegensatz zwischen West und Ost wurde wieder aufgekocht", erklärt Mietzner. Vorbehalte und Ängste der einheimischen Lahrer Bevölkerung flachten Mietzner zufolge gegen Ende der 1990er-Jahre wieder ab. Das Gemeinschaftsleben nahm seinen Lauf.

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