Am 17. Dezember verbrannte sich der Obsthändler Mohammed Bouazizi nach dem Streit mit einer Beamtin. Die Tat war der Ursprung der arabischen Revolution. Warum begann sie in einer tunesischen Kleinstadt? Und was merken die Bewohner von der neuen Freiheit? Von Mathieu von Rohr
Sie kniet am Grab ihres Sohnes, im Staub der tunesischen Steppe, ein schwarzer Hidschab rahmt ihr zerfurchtes Gesicht, sie wiegt ihren Oberkörper und spricht laut zu sich selbst.
"Gott, hab Erbarmen mit seiner Seele, möge sein Blut nicht umsonst vergossen sein." Eine Frau tritt zu ihr und sagt: "Du
hast uns einen Sohn gegeben, der uns alle befreit hat."
Es ist ein einfaches Grab, ein grauer Zementblock am Rand des Familienfriedhofs. Er weist nach Mekka, eine tunesische Flagge flattert daneben.
Ihr Ehemann, hager und stumm, hat Zement angerührt, er bringt eine Marmortafel auf dem Grab an, darauf steht: "Der Märtyrer Mohammed Bouazizi, geboren am 29. 3. 1984, gestorben am 4. 1. 2011".
Der Mann, der hier begraben liegt, Mohammed Bouazizi, ein tunesischer Obsthändler, hatte sich angezündet und damit die ganze arabische Welt in Flammen gesetzt.
Die Mutter und ihr Mann sind gekommen, sein Grab zu beschriften und zu weißen, das ist der Brauch zum 40. Tag des Todes. Sie sind drei Wochen zu spät, es war zu viel los in den Wochen zuvor.
Ein Fernsehteam hat die Eltern zum Grab gefahren. Es kommt nur noch selten vor, dass die Mutter ihr Haus verlässt, ohne dass ihr eine Kamera folgt. Sie gleicht jeden Tag weniger einer realen Person, sie ist dabei, sich in ein Monument der Trauer zu verwandeln, der Muttergottes gleich.
Das Gesicht ihres Sohnes wird auf Transparenten durch das Land getragen, als Ikone der Freiheit, als Ursprung der Revolution, die erst den tunesischen Diktator stürzte und den ägyptischen gleich hinterher, die für Aufstände sorgte in Algerien und im Jemen, in Bahrain, Jordanien und Libyen.
Wer Manoubia Bouazizi, der Mutter des toten Obsthändlers, folgt, erhofft sich Antworten auf Fragen, die all die Bilder von Straßenschlachten und jubelnden Aufständischen nicht liefern können. Warum ging alles ausgerechnet von einem
staubigen Ort in Tunesien aus? Und was macht eine Revolution mit den Menschen, bei denen sie begann? Wie verändert sie ihr Leben? Wie sieht eine Demokratie aus, die gerade beginnt?
Der Obsthändler Mohammed Bouazizi hat in Sidi Bouzid gelebt, einem Nest im Hochland der Steppe, 200 Kilometer südlich von Tunis, 40 000 Einwohner, es erstreckt sich links und rechts der einzigen großen Straße, die durch den Ort führt. Seine Einwohner beklagen, dass Sidi Bouzid nicht mal auf der Wetterkarte des Fernsehens verzeichnet ist, sie fühlen sich vergessen von ihrem Land und von der Welt.
Es gibt nichts in Sidi Bouzid, was Mohammed Hoffnung machen würde auf eine erfüllte Zukunft. Wer Beziehungen hat in seiner Stadt, bekommt einen Job in der Tomatenmarkfabrik, manche verkaufen geschmuggeltes libysches Benzin, anderen bleibt nur die harte Arbeit auf dem Großmarkt oder die Olivenernte, viele von denen, die auf den Plantagen arbeiten, sind Akademiker. Es gibt viele junge Menschen hier und wenig Arbeitsplätze.
Mohammed ist 26, etwa so alt wie die meisten Menschen, die hier leben. Sie träumen von der Überfahrt nach Europa, und bis dahin leben sie von den Resten des Westens. Sie tragen "Frip", die abgetragene Kleidung, die in Ballen angeliefert wird. Manchmal sieht Mohammed Autos, auf denen DHL oder Citroën-Niederlassung Hamburg-Papenreye steht. Die Autos gehören solchen, die schon einmal in Europa waren, sie lassen ihre ausländischen Nummernschilder am Wagen wie eine Trophäe, die sagt: Ich habe es geschafft.
Mohammed bekommt nicht viel mit von der Welt. Er weiß nicht, dass sich einige Preise an den Börsen in London und Chicago seit einem halben Jahr fast verdoppelt haben. Er weiß nicht, dass für einen Scheffel Weizen, der im Juni noch mit 4,30 Dollar gehandelt wurde, nun im Dezember 8 Dollar verlangt werden und für ein Pfund Zucker, das im Sommer noch 15 Cent kostete, jetzt 30 Cent. Wenn er seinen Obstkarren über die Märkte zieht, sieht er nur, dass die Nahrungsmittel immer teurer werden und dass er mit dem, was er verdient, für seine Familie immer weniger zu essen kaufen kann.
Es ist der 17. Dezember, etwa 11.15 Uhr, als Mohammed Bouazizi mitten im Ortszentrum auf die Ordnungshüterin Faida Hamdi trifft. Er bietet mit seinem Holzkarren, den er ohne staatliche Genehmigung betreibt, Mandarinen, Äpfel, Birnen an, wie jeden Tag. Faida Hamdi arbeitet beim Ordnungsamt, sie hat den Ruf umzusetzen, was der Staat von ihr verlangt. Als sie Mohammed entdeckt, beschließt sie, seine Ware zu beschlagnahmen, so wie sie es schon oft getan hat.
Es lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, was dann geschah. Die meisten Bewohner von Sidi Bouzid erzählen, dass es einen lauten Streit gab und ein Gerangel um Kisten, dass die Beamten Mohammeds elektronische Waage beschlagnahmt hätten. Und dass Faida, die Beamtin, dem Obsthändler eine Ohrfeige verpasst habe. Aber man findet niemanden, der das nicht nur gehört, sondern auch gesehen hat. Die Besitzer der umliegenden Läden erzählen, alle Früchteverkäufer seien geflohen, als die Polizei gekommen sei.
Sicher ist, dass Mohammed Bouazizi zur Polizeiwache ging, um seine Waage zurückzufordern, dass er abgewiesen wurde, dass er nach dem Gouverneur verlangte und wieder abgewiesen wurde. Und sicher ist, dass er sich knapp zwei Stunden später, gegen 13 Uhr, mit seinem Holzwagen auf die Straße vor den Gouverneurssitz stellte, eine Flasche mit einer brennbaren Flüssigkeit, vermutlich Benzin, über seinen Kopf schüttete und sich mit einem Streichholz in Brand steckte.
Mohammed Bouazizi und Faida Hamdi trafen am 17. Dezember auf schicksalhafte Weise aufeinander. Aus ihrer Begegnung wurde die Geschichte einer Ohrfeige, die das Volk auf die Straße trieb; die Geschichte stand stellvertretend für einen autoritären Staat, der seine Bürger, die er nicht einmal arbeiten lässt, demütigt. Die Geschichte machte Mohammed, den Obsthändler, zum Helden und Faida, die Beamtin, zur Schurkin einer Revolution.
Als Mohammed in Flammen steht, pflückt seine Mutter Oliven, für vier Dinar pro Tag, umgerechnet zwei Euro. Als ihr Chef zu ihr kommt und sagt, ihr Sohn sei krank, weiß sie, dass etwas Schlimmes passiert ist.
Ridha, Mohammeds Onkel, auch er ein Früchteverkäufer, hat seinen Karren am anderen Ende der Stadt aufgestellt, er hat ein lahmes Bein und kann nicht rennen, wenn die Polizisten kommen, deswegen sucht er sich abgelegene Orte. Als er hört, dass etwas passiert ist, läuft er zum Gouvernat, aber als er ankommt, ist schon alles vorbei. Er nimmt sich ein Taxi und fährt zum Krankenhaus.
Der Bruder der Beamtin ist an diesem Tag in seinem Haus in der Nähe des Stadtzentrums. Als seine Schwester nach Hause kommt, weint sie. "Mohammed hat sich angezündet", sagt sie, ausgerechnet er, der immer so ruhig gewesen sei. Faida erzählt ihrem Bruder von dem Zwischenfall am Morgen, von einer Ohrfeige sagt sie nichts.
Ihr Bruder heißt Faouzi Hamdi, er ist Lehrer für Geschichte und Geografie, ein 52-jähriger Mann, der grobe Wollpullover trägt, kurzgeschnittene graue Haare und einen Schnurrbart. Er kommt aus einer Familie, die immer auf der Seite des Staates stand, sein Vater war Polizeichef der Region, diente dem Staat wie seine Schwester.
Er selbst war Gewerkschafter, und damit gehörte er in Sidi Bouzid zur geduldeten Opposition. Er war nie ein radikaler Gegner des Systems, aber er war oft auf die Straße gegangen, um soziale Forderungen zu stellen, manchmal auch politische. Seinen Schülern erzählte er ab und an von Menschenrechten und Demokratie, Themen, die nicht auf dem Lehrplan standen. Ab und zu prügelte er sich mit der Polizei.
Sein Vater sagte dann zu ihm: "Du arbeitest gegen deine Schwester."
Als seine Schwester weinend im Haus steht, muss sich Faouzi Hamdi entscheiden. Für oder gegen seine Schwester. Er beschließt, zum Gouverneurssitz zu gehen, er will genau wissen, was passiert ist. Als er ankommt, steht eine Menschenmenge davor, vielleicht hundert Leute, sie versuchen, in das Gebäude einzudringen.
Das war deine Schwester, sagen ihm die Leute. Geh besser nach Hause, sagt ihm ein Polizist.
"Warum hast du das getan?", fragt er seine Schwester, als er zurückkommt. Sie schwört: Ich habe Mohammed Bouazizi nicht geschlagen.
Er bringt sie zu seinen Eltern, in einen 30 Kilometer entfernten Ort. Am Abend geht er auf die Straße und demonstriert.
Tagelang toben jetzt in Sidi Bouzid Straßenschlachten, in den Wohnquartieren ziehen Tausende Jugendliche mit Steinen in den Kampf gegen die Polizei, und Präsident Zine el-Abidine Ben Ali, der Diktator, schickt jeden Tag neue Truppen nach Sidi Bouzid.
Tagsüber geht Faouzi Hamdi auf die Straße, mit seinen Genossen von der Gewerkschaft, nachts gibt er Jugendlichen auf den Straßen Wasser und Proviant, manche sind seine Schüler.
Am 28. Dezember gibt der Diktator Ben Ali dem Druck der Straße nach, ein erstes Mal. Er besucht den Obsthändler Mohammed Bouazizi im Krankenhaus und lädt dessen Mutter in den Palast ein. Gleichzeitig schickt er eine Spezialeinheit aus Tunis nach Sidi Bouzid, die den Fall neu untersuchen soll. Faida, die Beamtin, die im Dienst des Staates angeblich geohrfeigt hat, wird festgesetzt und drei Tage später in ein Gefängnis gesperrt. Der Diktator wollte das Volk beruhigen, er brachte ihm ein Opfer. Wenige Tage später starb Mohammed Bouazizi im Krankenhaus. Zehn Tage später, am 14. Januar, floh der Diktator Ben Ali mit seiner Familie aus dem Land.
Der Held liegt inzwischen in seinem Grab, und die Schurkin lebt, eingeschlossen in einer Gemeinschaftszelle des Gefängnisses von Gafza, 80 Kilometer von Sidi Bouzid entfernt.
Das Gefängnis ist umgeben von hohen weißen Mauern und sechs Wachtürmen. Sie kommen in einem grauen Volkswagen angefahren, ihr Bruder Faouzi, drei andere Geschwister und der Vater, der ehemalige Polizeichef.
Er ist alte Elite, er hat nichts mehr zu sagen. Er muss zusehen, wie seine Tochter im Gefängnis sitzt, ohne Verhör, ohne Untersuchungsrichter, seit zwei Monaten sitzt sie hier, wegen einer Ohrfeige, die es vielleicht gab, vielleicht nicht. Er sagt, sie sei vielleicht die letzte politische Gefangene Tunesiens.
Sie darf nur ihre Familie sehen, sie darf nicht darüber sprechen, wie sie im Gefängnis lebt, mit wie vielen Menschen sie die Zelle teilt.
Sie haben ihr zwei Tüten mit Essen mitgebracht, Nudeln, Äpfel und Couscous. Sie gehen durch eine kleine Tür, nach zehn Minuten kommen sie wieder heraus. Er habe es schwer ertragen können, sagt Faouzi Hamdi, seine Schwester, die stolze Polizistin, weinen zu sehen.
Faouzi Hamdi weiß nicht, ob er gewonnen hat oder verloren. Als Gewerkschafter sagt er, er sei glücklich, dass die Revolution geglückt ist. Als Bruder fragt er sich, ob das, was seine Schwester jetzt erlebt, zu der Freiheit gehört, für die er als Gewerkschafter gekämpft hat. Und als Bruder sagt er auch, es schmerze ihn, dass die Revolution auf einer Lüge gegründet sei.
"Und ich weiß, wer die Lüge in die Welt gesetzt hat", sagt er. "Es war Ali Bouazizi."
Die Nachricht, dass sich der Obsthändler Mohammed angezündet hatte, erhielt Ali Bouazizi, Inhaber eines Supermarktes, über einen Anruf. Mohammed war sein Vetter, Ali lief sofort los, ein paar hundert Meter rüber zum Gouvernat. Er sah noch, wie Mohammeds verkohlter Leib in einen Krankenwagen gezerrt wurde. Er zog sein Samsung-Handy hervor und machte damit einen Film. Diese Sache kann groß werden, dachte Ali. Er wollte jedenfalls alles dafür tun, dass sie groß werden würde.
Bis zum Abend filmte er die protestierenden Jugendlichen auf der Straße. Ein Freund schnitt das Video, unterleg-te es mit melancholischer Musik und stellte es bei Facebook ein. Ali rief bei al-Dschasira an, und noch am selben Abend strahlte der Sender die Bilder aus. Ali Bouazizi war am Telefon zugeschaltet, er sprach unter seinem richtigen Namen.
Er sagte, Mohammed sei von der Polizei geschlagen worden, er sagte auch, Mohammed habe ein Diplom gehabt.
Das Zweite stimmte nachweislich nicht, Mohammed hatte nicht einmal Abitur. Aber es machte seinen Fall noch größer, weil so viele Studienabgänger keine Arbeit finden in Tunesien.
Das Video von seinem Auftritt bei al-Dschasira stellte Ali wieder bei Facebook ein. Schon am nächsten Tag gingen Jugendliche auch in anderen Städten auf die Straße, und als es schließlich Tote gab, erfasste der Aufstand Tunis und das ganze Land.
Anfang März, elf Wochen später, sitzen sie im Handy-Laden eines Kumpels, Ali und sein Freund Rochdi, vor dem Computer, an dem sie das erste Video auf Facebook luden. Auf dem großen Fernseher hinter ihnen läuft al-Dschasira, die aktuellen Bilder aus Libyen, Gefechte um Ölterminals, Luftangriffe, Flüchtlinge an der tunesischen Grenze. Sie haben das sichere Gefühl, dass diese Bilder etwas mit ihnen zu tun haben, mit Sidi Bouzid, so ging es ihnen schon vor einem Monat, als sie die Menge auf dem Tahrir-Platz in Kairo sahen.
Rochdi sagt, jeder, der von einer Facebook-Revolution spreche, habe keine Ahnung. "Wir haben uns hier zwei Wochen lang mit Tränengas einnebeln lassen, Mann!" Ali sagt: "Die politische Polizei kennt hier jeden. So ein Video auf Facebook zu stellen, dafür braucht es Mut. Ohne Mut hätten wir diese Revolution niemals hingekriegt."
Er sei am Tag der Selbstverbrennung nur zufällig in seiner Heimat Tunesien gewesen, sagt Rochdi, er wohnt seit 16 Jahren in der Schweiz und betreibt eine Crêperie in Lausanne. Er will eigentlich seit Wochen zurück, aber er merkt jeden Tag mehr, dass er hier gebraucht wird.
Er kann das, was Ali vor Wochen noch unter Lebensgefahr gemacht hat, jetzt in Freiheit weiterführen. Er ist mit einer Kamera ins Krankenhaus von Sidi Bouzid gegangen und hat den Dreck gefilmt, die verzweifelten Krankenschwestern in der Abteilung für Neugeborene, er hat medizinische Geräte gefilmt, die jahrzehntealt sind. Er hat das Video auf Facebook geladen, er will etwas tun für seine Heimat, er bringt Journalisten auf die Olivenplantagen, damit sie Uni-Abgänger kennenlernen, die keinen Job finden.
Manchmal denkt er sogar darüber nach, hier zu investieren, Bio-Oliven, Export nach Europa, ein Riesengeschäft, sagt er, aber dann bremst er sich wieder: "Es ist zu früh, Mann. Jetzt ist noch nicht die Zeit, hier Geld auszugeben."
Er tastet sich langsam heran an die Demokratie, so wie es der ganze Ort versucht, von dem alles ausging. Es gibt kaum noch Polizei in Sidi Bouzid, nur vor der Wache stehen ein paar Beamte, zum Schutz der Soldaten, die hier stationiert sind.
Auf der anderen Straßenseite, vor den Toren des Gouverneurssitzes, der immer noch mit Stacheldraht umzäunt ist, versammeln sich jeden Tag Hunderte, sie wollen mit dem Gouverneur sprechen, über Geld, Arbeit, Unterkunft, und der Gouverneur, der vierte in drei Monaten, kommt manchmal mit einem Megafon nach draußen. Er sagt, die Leute sollten sich beruhigen, er könne nicht alle empfangen. Aber sie beruhigen sich nicht, sie werden nur noch wütender.
Es gibt Frauen, die hysterisch schreien und sich zu Boden werfen, es gibt Männer, die scheinbar grundlos brüllen. Manchmal, wenn es ihnen zu viel wird, schießen die Soldaten in die Luft. Dann ist für einen Moment Stille.
Hin und wieder kommt auch der Obsthändler Ridha, der lahme Onkel von Mohammed Bouazizi, hier vorbei. Er darf seinen Holzkarren jetzt dort abstellen, wo früher Mohammeds Platz war. Mehr hat die Demokratie ihm bisher nicht gebracht.
Die Gemeindebeamten lassen sich nicht mehr blicken, sie lassen die fliegenden Händler in Ruhe, die im ganzen Land zu Unantastbaren geworden sind. In Tunis bauen sie ihre Stände jetzt auf den Haupteinkaufsstraßen auf, und die Ladenbesitzer haben zum Streik aufgerufen, weil ihre schönen Auslagen jetzt von libyscher Schmuggelware verdeckt werden.
Ridha steht tagsüber mit seiner Auslage unter den eckig beschnittenen Lotusbäumen an der Straße, die jetzt Avenue Mohammed Bouazizi heißt, nur 200 Meter von der Stelle entfernt, wo sein Neffe sich verbrannte. Er hat Kisten mit Orangen, Äpfeln, Mandarinen, Datteln, und da, wo sein Karren einmal eine Markise hatte, hat er Schnüre befestigt, an denen Bananen aufgehängt sind.
Er ist ein kleiner Mann mit einem offenen, von der Sonne gezeichneten Gesicht. Er steht mit gekreuzten Beinen da, sein linkes ist zehn Zentimeter kürzer als sein rechtes. Seine Gewinnmargen liegen zwischen 50 und 100 Millimes pro Kilo, das sind drei bis sechs Cent, und ein Tag, an dem er 15 Dinar einnimmt, acht Euro, ist ein guter Tag. Es gibt jetzt keine Gemeindeagenten mehr, die bestochen werden wollen, die einem die Ware beschlagnahmen oder Strafgelder verhängen, das ist der Fortschritt.
Der Nachteil der Revolution ist, dass niemand genug Geld hat. Die Preise für Orangen haben sich verdoppelt, Bananen sind um ein Drittel teurer geworden, die Preise für Milch und Zucker sind kaum gesunken, Brot ist gleich teuer geblieben, dafür sind die Laibe jetzt kleiner.
Einmal, als er lange nachdenkt über Mohammed Bouazizi und über sein Bein, sagt Ridha: "Stimmt schon, jemand, der weniger robust wäre als ich, könnte sich leicht umbringen, wenn er an meiner Stelle wäre."
Abends stößt er seinen Karren die Straße hinunter, er zerrt ihn in einen Verschlag und lädt die Kisten ab, alles auf nur einem Bein. Dann klemmt er seine elektronische Waage unter den Arm, sie ist das Kostbarste, was er besitzt. Er schleppt sich in sein kleines Apartment, in dem es zwei Matratzen und einen Fernseher mit Satellitenanschluss gibt. Die Waage legt er auf die Matratze und lädt sie auf.
Manchmal übernachtete Mohammed hier, auch er mit der elektronischen Waage neben dem Bett, dem Kostbarsten, was er hatte und was man ihm genommen hatte, kurz bevor er sich anzündete.
Dass sie eine Familie sind, Mohammed, die Ikone der Revolution, und Ridha, der lahme Obsthändler, macht das Leben nicht leichter. Manchmal, wenn Ridha an seinem Karren steht, kommen die anderen Verkäufer, sie sagen, du hast dir doch eine goldene Nase verdient mit der Geschichte deines Neffen, wir haben es gesehen, die Journalisten haben dich in Hotels eingeladen und dir Geld gegeben, jetzt kannst du dir vielleicht endlich eine Prothese leisten.
Ein neuer Geist ist eingezogen in Sidi Bouzid, ein Geist von Neid und Nachrede. Wer Mohammed kannte, gilt als Profiteur des Umbruchs, wer ihn nicht kannte, fragt sich, wann er endlich vom Umbruch profitieren wird. Ridha ist Verdächtigter und Verdächtigender zugleich. Wenn er sich wehren muss, erzählt er von seiner Schwester, der Mutter des Opfers, er erzählt von einer Frau, die aus dem Tod ihres Sohnes Geld geschlagen habe.
Er spricht nicht mehr mit seiner Schwester, seit sie Ende Dezember bei Diktator Ben Ali eingeladen war. Er durfte nicht mitkommen, er war nicht wichtig genug. Mohammeds Tod brachte ihm einen neuen Standplatz für seinen Obstkarren und der Schwester 20 000 Dinar, die der Diktator als Entschädigung versprach. Ridha sieht keine Gerechtigkeit in der Demokratie.
Seine Schwester ist jetzt die neue Elite des Ortes, erkennbar auch daran, dass die Nachrede nicht aufhören will. Geschichten von reichen Spendern aus Golfstaaten gehen um, Erzählungen von eingebildeten Auftritten im Supermarkt und in der Bank.
Manoubia Bouazizi, die Schwester und Gottesmutter, sitzt im Innenhof ihres schmalen Hauses, drei Zimmer, eine Küche, ein Entrée mit einer Bank, auf der sie sich die Hände an einem Topf wärmt. Sie sagt, sie habe von niemandem Geld bekommen. In einem Zimmer steht ein neuer Computer samt Internetzugang, und vor dem Computer sitzt Basma, die 15-jährige Schwester des Toten, und surft durch die neue Welt.
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