Die Grenzstadt Ciudad Juárez ist die Front im Krieg von Regierung und Armee gegen die Drogenkartelle. Ein Besuch in der gewalttätigsten Stadt der Welt. Von Mathieu von Rohr
Die Sonne brennt vom Himmel, als sie Elizabeth Padilla beerdigen, auf dem Friedhof "Gärten der Ewigkeit". Sie liegt unter einer Glasscheibe, das hübsche Gesicht ein letztes Mal geschminkt.
Mein Schatz, öffne die Augen, weint die Mutter, ich will dir noch etwas sagen. Prinzessin, ruft die Schwester, nie werde ich vergessen, wie du getanzt und gesungen hast. "Warum dich", schreit die Mutter, "du warst doch so gut."
Elizabeth Padilla, 29 Jahre alt, Polizistin seit acht Monaten, starb, als sie an einem Mittwoch in ihrem dunklen Plymouth zum Dienst fuhr, kurz vor halb zwei Uhr nachmittags. Ihre Mörder feuerten sechs Kugeln ab, neun Millimeter, sie trafen ihren rechten Arm und ihren Kopf.
Sie war eine von 14, die starben an jenem Tag in Ciudad Juárez, Bundesstaat Chihuahua, Mexiko. Ein normaler Tag.
Bevor der weiße Holzsarg in einen Betonschacht verladen wird, tritt ihre Einheit ein letztes Mal an, im Chor schreien sie: "Elizabeth Padilla, anwesend!" Ihr Bruder, Polizist auch er, sagt, in diesem Land gebe es keine Gerechtigkeit. Aber er werde Gerechtigkeit üben.
Zum Abschied heulen nur noch die Sirenen der Streifenwagen.
Es herrscht Krieg in Ciudad Juárez, einer Grenzstadt im Norden Mexikos - ein Krieg der Regierung gegen die Drogenkartelle, ein Krieg der Drogenkartelle untereinander. 1500 Menschen sind hier allein in diesem Jahr ermordet worden. Anderthalb Millionen Einwohner hat die Stadt, sie gilt als die gewalttätigste der Welt.
Ciudad Juárez ist zu einem Symbol geworden für den Kampf, den der mexikanische Präsident Felipe Calderón gegen die Drogenkartelle führt. Vielleicht auch dafür, dass er ihn verliert.
Vor knapp drei Jahren, nach seinem Amtsantritt, versprach er, die mexikanischen Kartelle zu besiegen. Sie sind die mächtigsten der Welt, seit die kolumbianische Mafia in den Neunzigern ihren Einfluss einbüßte. Sie liefern Kokain, Marihuana, Methamphetamine für den größten Drogenmarkt der Welt, die USA. Es sind Multimilliarden-Unternehmen. Der Boss des Kartells von Sinaloa, Joaquín Guzmán, "El Chapo", steht in diesem Jahr auf Platz 701 der "Forbes"-Liste der reichsten Menschen der Welt, mit einem geschätzten Vermögen von einer Milliarde Dollar.
Die "Narcos", die Drogenbarone, waren immer eng verflochten mit der Politik. Ihre Geschäftspartner sind Gouverneure, Bürgermeister, Polizeichefs, auf ihrer Gehaltsliste stehen Polizisten, Beamte, Journalisten. Der Präsident kann niemandem trauen, deswegen führt er diesen Krieg mit der Armee. Er entsandte 45 000 Soldaten und Bundespolizisten ins ganze Land.
Die Armee verhaftet Drogenbosse, Bürgermeister, sie vernichtet Labore und Lager, und die Kartelle haben begonnen, sich untereinander zu bekämpfen. Seither ist Mexiko ein Land, in dem Gewalt herrscht. Mehr als 13 000 Menschen sind umgekommen, jeden Tag stehen in den Zeitungen Berichte von Entführungen, von Massakern, zerstückelten Leichen.
Das ist die Welt, in der Luz Sosa lebt und aus der sie berichtet. Sie ist Polizeireporterin der Zeitung "El Diario" in Ciudad Juárez, eine kleine schlanke Frau, 39 Jahre alt. Aus ihrem scharf geschnittenen Gesicht ist die Jugend schon gewichen, etwas Hartes hat darin Platz genommen.
Als sie ihre Schicht um acht Uhr früh beginnt, ist der erste Tote des Tages schon gemeldet worden, der Chef einer Sicherheitsfirma, die Restaurants bewacht. Er war aufgefunden worden in einem Hummer, durchlöchert mit einer AK-47.
Sie ist seit 14 Jahren Reporterin, erzählt Luz Sosa, und Gewalt habe es schon immer gegeben in Ciudad Juárez. Es gab eine Zeit, da war die Stadt berüchtigt wegen einer geheimnisvollen Serie von brutalen Frauenmorden, aber solche Nachrichten wie jetzt, sagt sie, die gab es noch nie.
Da, in der Bar Seven & Seven, acht Tote neulich. Dort, an der Ecke, der Gefängnisdirektor. Auf diesem Parkplatz ein Soldat. Ein Mann im S-Mart da drüben. Und auf der rechten Seite, im Onix Nightclub, da haben sie drei erschossen.
Sie fährt durch ihre Stadt wie eine Fremdenführerin, die ihre Tour zu oft absolviert hat, sie zählt die Toten beiläufig auf im Vorbeifahren. Sie sagt: "Manchmal heule ich abends, manchmal trinke ich ein Bier, aber wenn ich jeden Toten an mich herankommen lassen würde, wäre ich längst kaputt."
Es sind rivalisierende Gangs, die sich bekriegen, im Auftrag von Drogenkartellen. Das einst mächtige Kartell von Juárez verteidigt sein Gebiet gegen das aufstrebende Kartell von Sinaloa. Es geht um die Kontrolle einer Stadt, die ideal gelegen ist, um Drogen in die USA zu transportieren.
Die Stadt, durch die Luz Sosa und ihr Fotograf an diesem Morgen fahren, liegt in der staubigen Hitze der Wüste wie ein Geschwür, ein endloses Labyrinth aus mehrspurigen Straßen, Flachbauten und Werbetransparenten, aus amerikanischen Fast-Food-Ketten, Supermärkten und klobigen Maquiladoras, den Fabriken, die Waren für die USA herstellen.
Seit März sind 8000 Soldaten und Bundesagenten stationiert in Juárez, sie patrouillieren gemeinsam mit der Polizei, stehen in Kampfuniform schwerbewaffnet auf den Ladeflächen ihrer Pick-ups. Die Armee sollte das Töten stoppen, und im Mai sah es während einiger Wochen so aus, als würde ihre Anwesenheit für Ruhe sorgen. Doch die Zahl der Morde ist heute wieder so hoch wie vor ihrer Ankunft.
"Es gibt keine Strategie", sagt Luz Sosa.
Als Erstes erreichen sie an diesem Morgen ein kleines rosafarbenes Haus in einem Wohngebiet, umstellt von 40 Soldaten mit schweren Waffen, ein Maschinengewehr ist darauf gerichtet. Es heißt, das Haus könne ein Versteck sein, vielleicht würden darin Entführte gefangen gehalten; stumm stehen die Männer da, vielleicht 20 Minuten lang, dann ziehen sie ab, das Haus war leer. Es ist, als ob sich in diesem kurzen Moment die ganze Ratlosigkeit einer Armee zeigte, die einen unsichtbaren Feind jagt.
Rauschend und piepend, über Polizeifunk und Handy, kommen die Nachrichten von den neuesten Morden zu Luz Sosa. Gegen Mittag ein Toter in einer Autowaschanlage, dann ein Toter und ein Verletzter außerhalb der Stadt bei Kilometer 35 - es ist keine Zeit, überall hinzufahren, um 14.17 Uhr schon der vierte und der fünfte Ermordete, an der Kreuzung Morelia und Balcón de la Nube. Als sie ankommen, ist die Straße von der Militärpolizei gesperrt. Ein beiger Chrysler ist an einer Straßenecke zum Halten gekommen, auf dem Boden neben der Beifahrertür ein lebloser Körper, auf der Seite, wo der Fahrer saß, sechs Einschusslöcher im Fenster.
Luz Sosa hat ein paar Minuten, um den Namen und das Alter der Opfer in Erfahrung zu bringen, dann muss sie weiter, zum nächsten Tatort. Die meisten ihrer Artikel erscheinen nicht unter ihrem Namen. Vieles darf sie nicht schreiben. Die Zeitung hat das so entschieden, um sie zu schützen. Das war, nachdem im vergangenen November ihr Kollege Armando Rodríguez ermordet wurde. Vielleicht hatte er etwas Falsches geschrieben, sich mit den falschen Leuten eingelassen, man weiß es nicht.
Luz Sosas Arbeit ist gefährlich, weil sie beide Seiten kennen muss, die Polizei, die Banden, sie arbeitet zwischen den Fronten. Es gibt Leute, etwa im Rathaus, die meinen, Luz Sosa sei zu leidenschaftlich, sie müsse aufpassen, sonst werde es schlimm enden. "Das sagen mir alle", sagt sie nur.
In ihrem winzigen Abteil im Großraumbüro der Redaktion hat sie Fundstücke von den Tatorten ausgelegt, sie sammelt sie, als würden sie etwas beweisen: Patronenhülsen, Absperrband, blutbeschmierte Steine. Sie sagt, dass sie in einer Stadt lebe, in der ein Junge mit 17 zum Drogensüchtigen werde und mit 20 zum Sicario, zum Mörder; in einer Stadt, in der für einen Auftragsmord 1000 Pesos, 50 Euro, versprochen, aber meist weniger ausbezahlt werden.
Es ist eine Stadt, in der jeder Ermittler 150 Fälle bearbeiten muss und in der die meisten Verbrechen unaufgeklärt bleiben. Nur manchmal präsentiert die Armee der Öffentlichkeit jetzt wie aus dem Nichts geständige Täter, ohne dass es Beweise gibt, gerade neulich drei Männer, die für 211 Morde verantwortlich seien. Luz Sosa lacht. Sie glaubt, dass so nur die Aufklärungsquote frisiert werden soll.
Es ist schwierig, in Ciudad Juárez zu wissen, was richtig ist und was falsch, wer gut ist und wer böse. Neulich beklagte sich das Kartell von Juárez in einer "Narcomanta", einer dieser Botschaften an die Öffentlichkeit, oft in falscher Rechtschreibung auf Leintücher gesprayt, dass die Armee in Wahrheit für die Konkurrenz arbeite, das Kartell von Sinaloa.
Am Ende dieses Tages sitzt Luz Sosa in der Pocket Billiards Bar und hat ein großes Bier vor sich. Sie arbeitet zu viel, sie schreibt sechs Artikel pro Tag und schläft nur sechs Stunden pro Nacht. Heute waren es elf Tote.
Was ist ihre Lösung? "Keine. Halt, doch, die Atombombe", sagt sie. "Und dann schauen, wer übrigbleibt." Sie lacht hart.
Am nächsten Morgen sitzt der Bürgermeister von Ciudad Juárez vor dem Restaurant Fratello's und trinkt seinen Frühstückskaffee. Er heißt José Reyes Ferriz, ein dicker kleiner Mann mit gerötetem Kopf, er trägt eine passende Krawatte zu seinem hellbraunen Anzug.
Seine sechs Leibwächter haben das Lokal umstellt, vor dem Eingang steht sein gepanzerter Chevrolet Suburban. Er ist einer der bekanntesten Politiker des Landes im Kampf gegen die Drogenkartelle, gewissermaßen der lokale Stellvertreter in Präsident Calderóns Strategie.
Er grinst trotzdem fröhlich. Er sagt: "Was in meiner Stadt los ist, stand nicht in der Jobbeschreibung." Von einer unmöglichen Aufgabe wolle er nicht sprechen, natürlich aber von einer schwierigen, doch man sei auf dem richtigen Weg.
Seine Stadt, erklärt er, befinde sich in einer großen Krise, zum einen wirtschaftlich, sie hätten wegen der Rezession in den USA ein Viertel aller Industriejobs verloren, und dann sei da natürlich "die Sicherheitskrise, die schlimmste, die unser Land je gesehen hat".
Schon sein Vater war Bürgermeister, und wenn José Reyes Ferriz vom Juárez seiner Kindheit spricht, klingt es ein wenig wie eine glückliche Episode der Mafiaserie "The Sopranos". "Natürlich gab es die Kartelle auch damals schon", sagt er, "aber sie waren lokal, und alles, was sie taten, war, Drogen in die USA zu transportieren. Wenn es Morde gab, dann so, dass es keiner mitbekam. Einer der großen Bandenbosse war unser Metzger, und meine Eltern sind mit uns Kindern immer zu ihm gefahren, um Kutteltacos zu essen. Eines Tages sahen wir ihn plötzlich im Fernsehen, verhaftet von den Bundesbehörden als Anführer des Kartells von Juárez."
Diese geradezu harmlosen Zeiten endeten, sagt Reyes, als die Gangs anfingen, auch in der Stadt Drogen zu verkaufen, zu Beginn der Neunziger. Im späten Dezember 2007, kurz nach seinem Amtsantritt, brach dann der Krieg los zwischen dem Kartell von Juárez und dem Kartell von Sinaloa, eine Folge der Offensive der Regierungstruppen. "Als Erstes töteten sie den Polizeichef eines Distrikts, dann den Chef der Polizeioperationen, die Lage geriet völlig außer Kontrolle, bis der Gouverneur und ich im März nach der Armee riefen. Sie kam, und sie war sehr erfolgreich."
Er muss los, ein Termin, er steigt in den Fond seines SUV, er rollt leise, begleitet von den Wagen seiner Leibwächter, und der Bürgermeister schaut, während er spricht, durch schusssichere Scheiben auf die Straßen seiner Stadt.
Er erzählt eine Erfolgsgeschichte, er spricht davon, wie die Armee dank Geheimdienstinformationen die richtigen Ziele traf, wie sie die Drogenverkäufe in Juárez eindämmte, wie die Banden anfangen mussten, andere Verdienstquellen zu erschließen. "Sie fingen an, Banken auszurauben, also haben wir das mit der Polizei gestoppt. Sie fingen an, Geldautomaten zu stehlen, also konzentrierten wir die Geldautomaten an einem Ort. Sie fingen an, Läden auszurauben, wir schickten Zivilbeamte los und verteilten Alarmknöpfe. Dann begannen sie, Schutzgelder zu erpressen und Menschen zu entführen."
Es war der Zufall, der José Reyes Ferriz zum Politiker werden ließ und ihn ins Zentrum eines Krieges beförderte. Er müsste das alles nicht machen. Er hat in den USA studiert, spricht perfektes Englisch, verfügt über ein kalifornisches Anwaltspatent. Eigentlich ist er Universitätsprofessor für internationales Handelsrecht, Wissenschaftler also, und manchmal wirkt er, als sei auch die Krise seiner Stadt für ihn ein Problem, das sich mit den Methoden der Wissenschaft lösen lässt.
Er hat viele Zahlen im Kopf, auch die künden von Erfolgen: Zum Beispiel habe ihm Janet Napolitano, die US-Heimatschutzministerin, neulich gesagt, nur noch 60 Prozent des Kokains würden jetzt über Mexiko kommen, nicht mehr 90 Prozent.
Aber hat dafür nicht die Unsicherheit im ganzen Land massiv zugenommen? "Es geht nicht ohne Preis", sagt er.
Ist nicht die Zahl der Toten in seiner Stadt noch immer genau gleich hoch?
"Sie ist gleich, und doch ist es anders", sagt Reyes. Im vergangenen Jahr seien 95 Prozent der Morde mit Sturmgewehren erfolgt, jetzt zu 90 Prozent mit Pistolen. In der Nähe des Cafés, wo er gefrühstückt habe, sei noch vor Monaten ein Feuergefecht mit AK-47 auf offener Straße ausgetragen worden. So etwas gebe es heute nicht mehr.
Im Prinzip, sagt der Bürgermeister, hätte die Behörden jetzt die Oberhand, auf einer strukturellen Ebene, auch wenn sich für die Öffentlichkeit immer noch alles genau gleich anfühle.
Er hat in diesem Jahr die Polizei renoviert, darauf ist er stolz. Als er sein Amt antrat, sagt er, sei die Polizei von den Kartellen gekauft gewesen, sie habe sich geweigert, ihrer Arbeit nachzukommen. "Der Polizeichef rief mich an und sagte, meine Leute wollen heute nacht nicht auf Streife gehen, sie haben Angst. Die Gangster sendeten über den Polizeifunk Beschimpfungen, spielten Narcolieder und kündigten an, wen sie töten würden. Wenn die Musik losging, ergriffen meine Leute die Flucht."
Der Bürgermeister feuerte den Polizeichef - wenige Wochen später wurde er erwischt, weil er Drogen über die Grenze schmuggeln wollte. Er entließ die Hälfte der Polizisten, weil sie als korrupt galten oder Lügendetektortests nicht bestanden. Er erhöhte die Gehälter von 300 auf 650 Euro pro Monat, ließ sie in Armeecamps an schweren Waffen ausbilden. Und er verdoppelte das Korps auf über 3000 Mann.
Er glaubt, seine Polizeikräfte seien jetzt so gut, dass es kein Problem sei, wenn ein Teil der Armee am 15. September wie geplant abzieht. Natürlich kann auch er nicht garantieren, dass die neuen Polizisten nicht wieder korrupt werden. "Aber es wird bestimmt nie mehr wie vorher", sagt er.
Als sein Wagen vor der Schule "Federal 1" hält, sichern seine Leibwächter den Parkplatz, einer hält ein Sturmgewehr unter einer riesigen Plastikhülle verborgen, das soll beruhigend wirken.
Die Schüler stehen in braunen Sporttrikots am Rand des neuen Schwimmbads, das der Bürgermeister heute einweiht, es war einmal seine eigene Schule. Er hat zwei Botschaften: "Bringt die Schule zu Ende. Und sagt euren Freunden, dass sie nicht in Banden eintreten sollen."
Er mag mit Außenministern, mit Armeegenerälen konferieren, doch er ist trotz allem immer noch Bürgermeister.
Zurück im Schutz seines Wagens, sagt er, seine Stadt habe eine ganze Generation verloren. In dieser Stadt hätten immer alle gearbeitet, in den Fabriken, um die Kinder habe sich niemand gekümmert. So hätten sie angefangen, Drogen zu nehmen, und seien Gangs beigetreten, das seien die, die jetzt da draußen erschossen würden. Er lässt nun die Tagesbetreuung ausbauen, damit das nicht wieder geschieht.
Sein Vorbild ist Medellín in Kolumbien, eine Stadt, die dank harter Sicherheitspolitik und Sozialprogramme für die Jugend zurück in die Normalität fand.
Wenn man ihm zuhört, klingt alles beherrschbar, für alles sind Lösungen bereit oder stehen kurz bevor. Manchmal scheint es, als ob zwischen ihm und seiner Stadt mehr liege als nur Panzerglas.
Von seinem Büro im obersten Stock des Rathauses kann er El Paso sehen, die texanische Nachbarstadt. Auf der anderen Seite der Grenze, sagt der Bürgermeister, liege ein Teil des Problems. Die Drogen, um die in seiner Stadt gekämpft wird, sind für die USA bestimmt. Auch die Waffen, mit denen geschossen wird, kommen von dort. Er erzählt von amerikanischen Sozialhilfeempfängerinnen, die für 100 Dollar Kalaschnikows über die Grenze schmuggeln.
Er selber, sagt er, fahre nur ganz selten auf die andere Seite. "Die Opposition behauptet, ich würde in El Paso leben. Die sagen, der Kerl fährt über die Brücke zur Arbeit. Aber keiner hat ein Bild von mir in El Paso." Dafür leben viele seiner Beamten in El Paso, und jeder Bürger seiner Stadt, der es sich leisten kann. Ist er vielleicht zu optimistisch? Er schüttelt den Kopf. "Eines Tages werden Sie zurückkehren", er grinst breit, "und dann sagen: Der Kerl hat's geschafft."
Im Gefängnis von Ciudad Juárez lehnt Mauro Adrián Villegas, genannt Blacky, an der Wand seines Zellenblocks und sagt, etwas laufe schief in dieser Stadt. "Tote, Tote, noch mehr Tote", sagt er. Das sei nicht gut.
Blacky ist ein Anführer der Gang "Los Aztecas", sie erledigt für das Kartell von Juárez den Drogenschmuggel, den Handel, die Tötungen, angeblich hat sie 5000 Mitglieder. Blacky, 23, ist ein muskulöser, dunkler Kerl, er trägt eine Sonnenbrille im brutalen Gesicht, auf seinen Oberarm sind aztekische Symbole tätowiert.
Schuld sind seiner Meinung nach die Kartelle von außen, die sich Juárez unter den Nagel reißen wollen, nicht nur die aus Sinaloa, auch die vom Golf, sogar die "Familia" aus dem weit entfernten Michoacán, alle wollten die Stadt als Brückenkopf in die USA, und ihre Partner seien lokale Gangs wie die "Mexicles" und "Artistas Asesinos", die Rivalen der "Aztecas".
"Die Kartelle sagen denen: Ich bringe eine Tonne Marihuana, Kokain, lass uns zusammenarbeiten. Bringt alle Aztecas um, wir geben euch Autos, Waffen, Geld." Diese Gangs seien voller kleiner Jungs, sagt Blacky, 16, 17, 18 Jahre alt. Alles, was die könnten, sei, eine AK-47 abzufeuern.
"Neulich, in der Bar Seven & Seven, die gehen rein, fragen gar nicht, wer wer ist, sondern machen einfach nur bum, bum, bum, alle tot. Wir haben Herz. Mir brauchst du nicht zu sagen, hier, 10 000 Pesos, töte das Arschloch. Wenn er es verdient, dann stirbt er auch so."
Was seine Aufgabe war, bevor er ins Gefängnis kam, will Blacky nicht so genau sagen, er brach die Schule ab, arbeitete auf dem Bau, bei den Aztecas fand er eine Familie. Dort habe er "Kommunikation" gemacht, das heißt, er wusste immer, wer wo war und wer was machte. Getötet habe er niemanden. Jeder habe andere Talente.
Im Gefängnis sitzt Blacky wegen Entführung und Raubes, weil er einen Wagen kaperte, in dem zwei Frauen saßen, sie mit der Waffe bedrohte und sie zwang, mit ihm durch die Stadt zu fahren. Er sei auf der Flucht gewesen, fünf Killer hätten ihn gejagt, von den Miststücken habe er doch gar nichts gewollt. Er habe dann die Richter bestechen müssen, 250 000 Pesos, damit sie ihm keine 40 Jahre geben, sondern nur sechs, dafür habe er seine Häuser, Autos, Motorräder verkauft. Er sagt: "So viel man hat, so viel ist man wert."
Es ist Sonntag, Besuchstag im Gefängnis. Familien picknicken gemeinsam mit ihren inhaftierten Vätern, es gibt Körbe voller Essen, auf dem Grill wird Fleisch geräuchert, eine Band spielt, für die Kinder stehen Schaukeln bereit. Nicht immer war es hier so friedlich. Im März massakrierten die Aztecas 20 Mitglieder der Mexicles und Artistas Asesinos, das war, bevor die Armee einrückte. Seither sind die Banden in getrennten Trakten untergebracht.
Blacky hatte offiziell mit dem Massaker nichts zu tun, aber im Mai beklagten sich gegnerische Banden in einer "Narcomanta", dass ihn Polizisten beschützten und ihm Waffen ins Gefängnis lieferten.
Alles sei jetzt ruhig hier, sagt Blacky. Die gegnerischen Banden hätten in ihrem Trakt sogar Leute entführt und Schutzgelder verlangt, das hätten sie jetzt alles geändert, zusammen mit dem neuen Direktor. Mit dem könne man arbeiten, er kümmere sich persönlich um ihre Anliegen, um Farbe für die Wände, um die Werkstätten.
Der Direktor, ein fröhlicher dicker Mann, gibt gern zu, dass er den Gefangenen alle Wünsche erfüllt. "Damit sie sich nicht bei ihren Freunden draußen beschweren!" Er lacht. Sein Vorgänger wurde umgebracht. Er sagt, er vermisse seine tropische Heimatstadt Veracrúz.
Dass die Aztecas das Gefängnis kontrollieren, ist ein offenes Geheimnis, und Blacky tut nichts, um den Eindruck zu entkräften, dass er womöglich der eigentliche Gefängnisdirektor sei. "Weißt du, warum ich hier der Chef bin?", fragt er. "Mein Wort ist heilig. Ich passe auf viele Leute auf." Er glaubt, dass er bald freikommt. Das Problem ist nur, dass da draußen 10 000 Pesos auf seinen Kopf ausgesetzt sind. Er grinst.
Er zeigt seine Zelle. Anders als die übrigen Gefangenen schläft er nicht in einem Sechserschlag, er hat ein Einzelzimmer mit Doppelbett, die Wände rot gestrichen, er hat Hemdenservice und ein Poster des Mafiafilms "Scarface". Stolz zeigt er sein Handy und spielt von seiner Stereoanlage das Lied des Kartells von Juárez ab, in voller Lautstärke. Jede Nacht habe er hier drin Mädchen, prahlt er, die von außen hereinzubekommen sei kein Problem.
"Wir nennen es Cherry Palace." Er legt sich zufrieden auf sein Bett. "Fünf Sterne." Er sagt, die Aztecas würden den Krieg gewinnen. "Die anderen werden nicht mit uns fertig. Die bringen sich jetzt gegenseitig um." Nur wenige Tage später tötet eine Gruppe von Killern 17 Menschen in einer Drogenentzugsanstalt der Stadt. Die Polizei berichtet, dass die Opfer Angehörige der Aztecas waren, die dort untergetaucht waren. Blacky sagt dazu nichts mehr.
Der Krieg geht weiter, schon im dritten Jahr, und es sieht nicht so aus, als ob Präsident Calderón ihn gewänne. Seine Partei hat gerade eine wichtige Parlamentswahl verloren, er steht unter Druck wegen der Unsicherheit, die das ganze Land ergreift.
Margarita Rosales sitzt in einem ärmlichen Haus im Süden von Ciudad Juárez an ihrem Küchentisch. Sie hat Papiere darauf ausgebreitet, es ist der amtliche Autopsiebericht ihres Sohnes Javier.
Im April war er plötzlich verschwunden. Nach Tagen meldete sich einer seiner Freunde und erzählte, Soldaten hätten sie beide verhaftet, als sie unterwegs waren, sie hätten sie für Aztecas gehalten, wegen Javiers Drachentattoo. Sie hätten sie zwei Tage lang gefoltert und schließlich in der Wüste ausgesetzt.
Margarita Rosales fand ihren Sohn tot, mit eingeschlagenen Zähnen, mit blauen Flecken am Körper und Spuren von Stromschlägen an seinem Penis. Er trug Kleidung, die sie noch nie gesehen hatte.
Die nationale Menschenrechtskommission untersucht nun den Fall, es ist einer von vielen. Luz Sosa hat ihn an die Öffentlichkeit gebracht, der Bürgermeister sagt, er habe davon nie gehört. Seit April hat Margarita Rosales den Autopsiebericht wieder und wieder gelesen und die Fotos ihres entstellten Jungen angeschaut. Sie sagt, sie habe gehofft, darin irgendeine Antwort zu finden. Aber es gibt keine.
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