Die biologische Vielfalt geht drastisch zurück. Forscherinnen und Forscher versuchen, dem Artensterben Einhalt zu gebieten: mit einem Genom-Archiv. Das könnte Aufschluss geben, welche Arten sich wie neuen Umweltbedingungen anpassen können.
Sind Sie schon einmal einem Kriechenden Netzblatt begegnet? Dann waren Sie bestimmt in moosigen Nadelwäldern in Südwestdeutschland unterwegs und hatten sehr viel Glück. Denn die heimische Orchideenart gilt vielerorts als gefährdet bis hin zu fast ausgestorben. So wie 58 Prozent der endemischen Baumarten, Süßwassermollusken oder 17 Prozent der Säugetiere, die derzeit auf der Europäischen Roten Liste stehen.
Hinter diesen Zahlen stehen dabei nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern für uns Menschen wichtige Lebensräume, die sich durch Umweltverschmutzung oder Klimawandel verändern. Wann dort Arten aussterben und inwieweit sie sich an neue Umweltbedingungen anpassen können, das soll jetzt die Molekularbiologie beantworten. Genauer: Mit der Entschlüsselung des Erbgutes soll die Artenvielfalt erfasst – und letztlich auch erhalten – werden.
Ein Nachschlagewerk für den Artenschutz
„Bisher
haben wir mit sehr kleinen Puzzleteilen in der Gen-Entschlüsselung
gearbeitet. Aber um die ganze Geschichte von einzelnen Arten zu kennen,
brauchen wir so gesehen ein Buch mit vollständigen Seiten. Wir kennen
noch nicht jedes Gen, das einer Spezies hilft, sich an bestimmte
Umweltbedingungen anzupassen. Und deshalb wissen wir auch nicht, wie
verschiedene Gene zusammenwirken, damit sich eine Art zum Beispiel an
eine wärmere oder trockenere Umgebung anpassen kann. Wenn wir das
verstehen wollen, müssen wir also die genomische Zusammensetzung als
Ganzes verstehen. Bei einigen Arten wissen wir ein bisschen mehr, bei
vielen gar nichts, weil wir nicht einmal dieses Buch zum Lesen haben,
also gibt es nichts zu überprüfen.“
Die Bücher, von denen die Biologin Camila Mazzoni
vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung spricht, sind
vollständig entschlüsselte Referenzgenome. Über die nächsten Jahre soll
die DNA von 200.000 in Europa lebenden Tieren und Pflanzen ausgelesen
und in einem riesigen Archiv für die Wissenschaft gespeichert werden,
dem Europäischen Referenzgenom Atlas. Camila Mazzoni, die seit Februar
auch Vorsitzende dieses Konsortiums ist, sieht in der Datenerhebung eine
wichtige Grundlage, um Vorhersagen für einen wirkungsvolleren
Artenschutz treffen zu können.
„Ein Genom liefert eine Menge an Informationen. Wenn wir das Wissen grob in zwei Kategorien einteilen, dann können wir das Genom einmal als Rezeptbuch betrachten, welches die Zutaten, also die genetischen Eigenschaften enthält, die einem bestimmten Individuum ermöglichen, in seinem Habitat zu überleben. Und zweitens können wir das Genom als Geschichtsbuch interpretieren. Dieses Buch dokumentiert die Evolutionsgeschichte der Gene. Darin erkennen wir mögliche Zusammenhänge zwischen dem Erbgut einer Spezies und Krankheiten, sowie ihre Reaktionen auf Klimaveränderungen. Wenn wir wissen, wann es Eiszeiten gab, wann wir sehr trockenes Klima hatten und wie sich bestimmte Arten zu dem Zeitpunkt verhalten haben, ob vielleicht ihre Population geschrumpft oder gewachsen ist oder sogar eine Hybridisierung zwischen den Arten stattgefunden hat, dann können wir diese Informationen aus der Vergangenheit nutzen, um zu versuchen, die Zukunft vorherzusagen. Anhand der genomischen Zusammensetzung und der genetischen Vielfalt können wir nicht nur Jahrzehnte sondern Hunderte, vielleicht sogar Tausende Jahre vorhersagen, was mit dieser einen Spezies passieren könnte.“
Vorhersagen mittels Genom-Informationen
Im
Zusammenhang mit ökologischen Daten können die Genom-Informationen ein
zuverlässiges Vorhersagemodell sein. Doch dazu müssen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst die Genome ausfindig
machen, und die mit ihnen verbundenen Aufgaben und Wirkungen erforschen.
Nur mit spezieller Sequenzierungstechnik, dem sogenannten
Long-Read-Verfahren, können Wissenschaftlerinnen in Bereiche der DNA
vordringen, wo beispielsweise Informationen für das Immunsystem liegen.
„Das sind Bereiche, wo man schon gerne einschätzen würde, wie viel
Variabilität ist denn zum Beispiel noch da? Weil das eben Einblicke
geben kann, ob eine Art empfindlich sein könnte gegenüber Krankheiten
oder sich vielleicht trotzdem relativ gut anpassen kann. Und es gibt
natürlich auch Methoden, wo man versucht, Genexpressionen aus
Umweltsamples zu messen. Und dann kann man bestimmen, ob eben Stressgene
oder Entgiftungsgene wesentlich stärker produziert werden. Das könnte
dann ein direkter Hinweis sein, dass eine Art unter irgendeiner Art von
menschengemachten Stress leidet – wie Schadstoffbelastung,
Temperaturanstieg.“
Michael Hiller ist Genomwissenschaftler am Loewe-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik und Unterstützer des Genom-Atlas. Vor allem ist er als Experte für Fledermäuse bekannt. In Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlerinnen und Naturschützern will Michael Hiller jede einzelne der 1421 lebenden Fledermausarten sequenzieren. Für die digitale Bibliothek stellen er und sein Team die entschlüsselten Gene zur Verfügung, die andere wiederum für ihre Forschung verwenden – oder für den Artenschutz.
Nur was wir kennen, können wir schützen
„Ein
Beispiel, wo wir gerade dabei sind Genome zu erstellen, ist in
Zusammenarbeit mit einer brasilianischen Gruppe, die eben gerne ein
Referenzgenom hätte von verschiedenen Arten aus verschiedenen
Populationen in Bereichen in Brasilien, wo man eventuell Bergbau oder
andere Sachen betreiben will. Sie wollen messen, ob die Populationen
genetisch verschieden sind. Falls ja, müsste man die Bereiche, wo diese
Populationen sind, schon schützen. Wenn es nicht der Fall ist, kann es
unter anderem dazu führen, dass in gewissen Bereichen eben zum Beispiel
Bergbau erlaubt wird. Weil das Argument wäre dann, dass man vermutlich
die genetische Vielfalt in dieser Art nicht sonderlich beeinträchtigen
würde.“
Das genomische Anpassungspotenzial liegt bisher nur für wenige Organismen vor. Laut des internationalen Earth BioGenome Project
sind weniger als ein Prozent der eukaryotischen Spezies, also
Lebewesen, die einen Zellkern besitzen, sequenziert worden. Dabei sind
die Genomdaten eine wichtige Grundlage für unser Verständnis von der
Natur. Und sie sind von großem Nutzen – auch für den Menschen. Zuletzt
konnte die Abstammung des Störs mit Hilfe der Genome gelüftet werden,
die wiederum die Nachzucht dieser seltenen und alten Fischart
unterstützten. Mit einem Genom-Atlas würde der Wissenschaft ein
wichtiges biologisches Nachschlagewerk der Artenvielfalt vorliegen sowie
das Wissen, diese zu schützen. Denn nur was wir kennen, können wir auch
schützen.