San Francisco schläft noch, als Melissa Blaustein - lockige Haare, korallfarbener Badeanzug - um kurz nach sieben Uhr morgens, eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang, zum Wasser eilt. Vor der 30-Jährigen liegt die Bay, dicke Wolken verhängen die roten Pfeiler der Golden Gate Bridge. Aus dem Wasser ragt die berüchtigte Gefängnisinsel Alcatraz. Der Nebel lässt die Hochhäuser der Stadt aussehen, als seien sie mit Zuckerwatte eingepackt. "Die Straßen sind noch leer und die Stadt liegt ruhig da. Ich habe das Gefühl, ich habe San Francisco um diese Uhrzeit fast für mich allein", sagt die Amerikanerin. Sie nimmt Anlauf und springt vom Pier in das etwa 13 Grad kalte Wasser. "Es gibt kein besseres Gefühl, als im kalten Wasser zu sein", ruft sie und krault los. Ihre gelbe Badekappe leuchtet in den ruhigen Wellen des stahlblauen Wassers.
Für viele Menschen klingt das furchtbar: früh aufstehen und dann auch noch ins kalte Wasser springen. Für Blaustein ist das Schwimmen ihr Ritual am Morgen. Morgenroutinen wie diese sind bei Unternehmern und Promis gerade so angesagt wie Autos von Tesla. Eigentlich heißt das aber nur, dass jemand jeden Morgen das Gleiche macht. Manche trinken Kaffee, andere cremen sich die Füße ein oder schneiden ihren Bonsai. Weil man heute aber nicht mehr nur Kaffee trinken kann, um Kaffee zu trinken, bekommt die Routine eine Bedeutung, ein meaning. Vorgemacht haben das der Facebookgründer Mark Zuckerberg (er trägt meistens ein graues T-Shirt und Jeans, weil er morgens möglichst wenige Entscheidungen treffen möchte), der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama (er hebt Gewichte und frühstückt mit der Familie) oder die Talkshowmoderatorin und Unternehmerin Oprah Winfrey (sie meditiert 20 Minuten und läuft dann auf dem Heimtrainer). Statt morgens fünfmal die Snoozetaste zu drücken, feiern sie die ersten Stunden des Tages und vermitteln Frühaufsteherüberlegenheit. Denn der Morgen entscheidet darüber, wie fokussiert und erfolgreich der Rest des Tages verläuft. Und wer möchte nicht erfolgreich sein?
Um zehn Uhr abends ins Bett und dann früh rausDer Morgen von Melissa Blaustein beginnt eigentlich schon am Vorabend. Sie packt ihre Schwimmtasche, Badeanzug, Handtücher und Shampoo, auf ihrem Hausboot in der Bucht von Sausalito, einem kleinen Ferienort auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge. Meistens geht sie spätestens um zehn Uhr ins Bett. An diesem Morgen im August klingelt ihr Smartphone um sechs Uhr und weckt sie mit dem Song Unter dem Meer vom Soundtrack des Films Arielle, die Meerjungfrau. Sie trinkt dann einen Cold Brew Kaffee und fährt mit dem Auto über die Brücke zum Pier im South End Rowing Club, einem Verein für Ruderer und Schwimmer. "Ich lasse es gerade entspannter angehen", sagt Blaustein. Normalerweise hätte sie um diese Uhrzeit schon Gewichte gestemmt und wäre ein paar Runden im Hallenbad geschwommen.
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"Mein Alltag ist verrückt. Ich reise viel und muss mit Kollegen in verschiedenen Zeitzonen telefonieren", sagt Blaustein. Vor mehr als fünf Jahren gründete sie das Unternehmen Allied For Startups, ein globales Netzwerk für Start-ups, Entrepreneurs und Venture Capitalists, das Richtlinien und Gesetze für solche verbessern möchte. Außerdem arbeitete sie für die Fuel Freedom Foundation, eine NGO in Afrika, als Direktorin für digitale Programme. Im Herbst vergangenen Jahres kandidierte sie für den Stadtrat in Sausalito. Sie stecke sich gern Ziele, die erst einmal unmöglichen scheinen, sagt Blaustein.
"Schwimmen strukturiert meinen Tag und gibt mir Kraft." Die Stunden im kalten Wasser beschreibt die Unternehmerin als ihr zone-out. Die Kälte, die Klarheit, die Ruhe, die Strecke, das sei für sie wie Meditation. Kein Smartphone klingelt, kein E-Mail poppt auf, keiner schreibt Nachrichten. Sie genieße die Einsamkeit im Wasser. "Wenn ich meinen Tag anfange und schon ein persönliches To-do abgehakt habe, fühle ich mich produktiver", sagt sie.
"Der Körper muss sich an die Kälte gewöhnen." Melissa Blaustein, 30, amerikanische Gründerin
Ihre Morgenroutine hat Melissa Blaustein sich nicht bewusst ausgesucht, wie andere eine Meditationsapp runterladen, um zu entspannen. Sie entdeckte das Schwimmen eher zufällig. "Ich war nie eine Frühaufsteherin und ich war auch nie ein besonders sportlicher Typ", sagt sie. Bis sie vor zwei Jahren an einem Triathlon teilnehmen wollte und zu trainieren begann. Nur kraulen konnte sie nicht. "Ich wusste nicht, wie ich atmen und den Kopf halten muss", sagt sie. Dann nahm sie Unterricht und bemerkte, dass sie gut war und dass ihr das Schwimmen Spaß machte. Erst schwamm sie im Hallenbad, bald schon mit einem Neoprenanzug in der Bay. Sie steigerte sich Tag für Tag. Nach zwei Wochen traute sie sich nur im Badeanzug ins Wasser. "Der Körper muss sich an die Kälte gewöhnen", sagt sie. Manchmal stehe sie deshalb auch einfach nur eine Stunde im Wasser. "Ich wusste, ich werde nicht die schnellste Schwimmerin sein, ich werde wahrscheinlich nie einen Wettkampf gewinnen, aber ich habe Ausdauer. Ich kann in acht Grad kaltem Wasser acht Stunden lang schwimmen. Das können nicht viele Menschen", sagt sie.